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Esoterik und Alltag Welche Gedanken lassen sich aus einer Kindheit inmitten eines esoterischen Umfelds mitnehmen? Ein kritischer Erfahrungsbericht. Der Morgen bricht an. Ein Geruch von frisch gebrühtem Dinkelkaffee liegt in der Luft. Zum Frühstück gibt es Hirsebrei mit Früchten und Gemüse, ein Rezept aus der 5-Elemente-Küche. Meine Mutter erklärt mir, wie wichtig es sei immer alle Elemente zu verspeisen, da sonst das Ying und Yang ins Schwanken geraten könnten und sowieso seien die Elemente Holz und Erde viel zu wenig auf meinem Speiseplan vertreten. Während ich einen Schluck Wasser trinke, das zuvor durch Kristalle energetisiert wurde, beginnt meine Mutter „heilende Laute“ von sich zu geben: „Sssssss“ für die Lunge und gegen Depressionen, „Huuuu“ für die Niere und gegen Angst. Nicht zu vergessen ein kräftiges „Hrrrooo“ und alle Sorgen sind raus aus dem Magen. Was für viele sonderbar klingen mag, ist für mich ein ganz normaler Besuch im Elternhaus. Esoterische Vorstellungen begleiteten mich von Kindheit an. Neben die üblichen Kindergeschichten reihten sich mythische Erzählungen von Waldgeistern, Berichte aus dem vorirdischen Leben und die Veränderung der Welt durch bloße Vorstellungskraft. Statt rationalen Argumenten fand ich mich immer wieder mit schicksalhaften Erklärungen konfrontiert. Fatale Auswirkungen einer Ideologie Denke ich zurück an meinen ersten Besuch bei einem „Schamanen“, muss und kann ich mittlerweile darüber lachen. Dennoch komme ich nicht daran vorbei, Esoterik auch als Gefahrenpotential zu sehen. Neben den offensichtlichen Abzockangeboten und dem Handel mit Erlösung, ist es auch ein Spiel mit dem Verstand, das sowohl fatale Auswirkungen auf die Träger_innen einer solchen Ideologie haben kann, als auch auf ihr Umfeld. Denn viel zu oft ist es ein Geschäft mit dem Leid anderer. Seien es der Verlust einer Person, die durch einen kostspieligen Besuch bei einem „Medium“ jetzt wieder greifbar scheint, oder heilungsversprechende Methoden, die schmerzhafte Krankheiten kurieren sollen. Esoterik verspricht eine Erlösung vom empfundenen Leid, seien es traumatisierende Erlebnisse oder die normalen Strapazen des Arbeitsalltags. In jedem Falle geht es um die Reduktion des Leidempfindens ohne jemals dessen Ursprung zu adressieren. Neben dem moralischen Argument, das gegen ein Ausnutzen von Menschen in schwierigen Lagen spricht, dürfen die ideologischen Flurschäden, die ein solcher Glaube hinterlässt, nicht vernachlässigt werden. Die Esoterik möchte Sinn stiften, wo es keinen gibt. Auf individueller Ebene führt dies zu einer Akzeptanz, sich unterzuordnen. Viele esoterische Ideen, die ich in meiner Kindheit vermittelt bekommen habe, zielten genau darauf ab. Ein negatives Erlebnis oder eine als ungerecht empfundene Situation wurde mir als eine Prüfung des Schicksals, eine Aufgabe, die meine „Seele“ noch zu lösen habe, beschrieben. Die Esoterik fordert ein ständiges „in Einklang bringen“ der Umstände. Alles ist immer gut, solange man nur im Jetzt und Hier ist. Dieses Denken nimmt dem Individuum die Möglichkeit des Widerstandes, wo er nötig wäre. Das eigene Leben wird zu einem determinierten Weg und jede eigene Verantwortung wird an einen „Kosmos“ oder das „Jenseits“ abgegeben. Untertanengeist statt Handlungsfähigkeit Die Esoterik fördert dadurch einen Untertanengeist und steht gerade deswegen im Widerspruch zu einer befreiten Gesellschaft. Nicht das handelnde Individuum, welches innerhalb einer Gesellschaft agiert, steht im Zentrum, sondern die Einordnung des Einzelnen unter die bestehenden Bedingungen wird propagiert. Die Bestrebung, etwas zu verändern, soll in Gedanken bleiben, denn durch das Gedachte könne die Welt verändert werden, ein Handeln sei gar nicht nötig. Nicht verwunderlich ist daher, dass manche Esoterik-Magazine falsche Geldscheine beilegen, mit Hilfe derer sich Reichtum vorgestellt werden soll. Nach der Vorstellung kommt natürlich die Veränderung im echten Leben. Die esoterische Ideologie bedeutet für mich, so wie ich es erfahren habe, das eigene Empfinden durch vermeintlich positives Denken dazu zu bewegen, eine irrationale Freude an Unterdrückung zu empfinden. Dies äußert sich vor allem darin, dass Schmerz oder Leid mit einer notwendigen Erfahrung gleichgesetzt werden, die das Schicksal bestimmt hat. Gerade deshalb scheint es zynisch, dass so viele esoterische Produkte der Selbsthilfe dienen möchten. Der oder die Einzelne soll lernen, alles hinzunehmen wie es ist und sich eben nicht aus bestehenden Verhältnissen emanzipieren. Die „Hilfe“, die hier geboten wird, ist eine Anleitung zur Anpassung und dient der eigenen Optimierung. Esoterik lässt sich somit hervorragend mit dem Arbeitsethos der kapitalistischen Gesellschaft verbinden. Jeder Zwang kann als eine Prüfung des Lebens betrachtet und gleichzeitig auf andere Personen angewandt werden. Schuld an eigenen Lebensumständen ist immer jede_r für sich, Gründe lassen sich wahlweise im jetzigen Leben oder in dem vermeintlichen Leben davor finden. Vermutlich ist es genau diesem sozialdarwinistischen Untertanengeist geschuldet, dass die Esoterik so anbindungsfähig an extrem rechte Ideologien ist. Das mystische Denken sowie die Anpassung und Auflösung des Individuums bieten hierfür einen Vorschub. Vernunft versus Schicksal Im Allgemeinen ist es schwer, von einer einheitlichen esoterischen Ideologie zu sprechen, da sich diese aus sich immer wieder verändernden Trends speist. Auch glaube ich nicht, dass jede_r, der/die einmal zur Tarotkarte greift, gleich die Vernunft ad acta legt. Aufgrund meiner Erfahrung mit Esoteriker_innen bleiben mir diese suspekt, mögen sie ihre Zukunft aus Pendeln vorhersehen oder durch Kartenlegen ihre Entscheidungen fällen. Für mich zelebrieren sie damit eine schicksalhafte Unterwerfung. Gleichzeitig möchte ich betonen, dass ich es für ähnlich irrational halte, an eine Religion zu glauben, die mit dem Jenseits ködert. Das Schlusswort übernehme ich aus einem Gespräch, welches ich mit einem Esoteriker geführt habe. Dieser verbrachte mehrere Jahre auf Costa Rica in „Behandlung“ mit der psychoaktiven Pflanze Ayahuasca. Danach beschrieb er, was Esoterik für ihn sei: „Trying to get from brain to no brain.“ online seit 04.08.2016 12:07:40 (Printausgabe 75) autorIn und feedback : Franz Thaler Links zum Artikel:
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