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  Die Schule – Ein Ort, wo man das Träumen verlernt

Lehrer_innen üben Schulkritik: Eine Diskussion über herrschende Verhältnisse, halbherzige Reformen und fehlenden Protest im Bildungsbereich

Lehrer_innen an öffentlichen Schulen sehen sich innerhalb des Bildungsungleichheit produzierenden Bildungssystems derzeit mit unterschiedlichen Herausforderungen konfrontiert. Dazu zählen u.a. die Spaltung, Hierarchisierung und Prekarisierung der Lehrer_innen infolge unterschiedlicher Dienstverträge und Besoldungssysteme; die Anforderungen der Individualisierung und Differenzierung vor dem Hintergrund zunehmend standardisierter Testungen und zu großer Klassen; die einsprachigen Organisations- und Kommunikationsstrukturen der Schule sowie das Fehlen einer demokratischen, transparenten Schul- und Reflexionskultur.

Vernetzung kritischer Lehrer_innen

Da besonders die Vereinzelung von Lehrer_innen ein kollektives (Selbst-)Reflektieren von Lehr- und Lernverhältnissen in gegenwärtig neoliberalen Migrationsgesellschaften erschwert, organisierte das que[e]r (Politischer Diskussionsraum: mehr zum que[e]r hier) im Juni 2016 eine Veranstaltung, die zur Vernetzung kritischer Lehrer_innen unterschiedlicher Schultypen und aller am Thema Interessierten beitragen sollte. Ziel der Veranstaltung war es, einen Diskussionsraum über Erfahrungen, Widersprüche und allgemeine Einschätzungen in Bezug auf die Schule zu eröffnen. Darauf aufbauend sollen weitere Treffen stattfinden, bei denen Themen aus der Diskussionsveranstaltung aufgegriffen, kollektive Reflexionsprozesse vorangetrieben sowie kurz- und längerfristige Strategien für eine Demokratisierung der Schule ausgelotet werden sollen.

Im Folgenden diskutieren Petra Neuhold (NMS-Lehrerin), Jana Sommeregger (NMS-Lehrerin), Hanna Gerber (BMHS-Lehrerin), Friedafrust (BMHS-Lehrerin), Eva Neureiter (VS-Lehrerin), Magdalena Rest (AHS-Lehramtsstudentin & Unterrichtende in einem arbeitsmarktpolitischen Projekt) und Rosa Costa (Moderation & Fragen).

Reproduktion von Rassismus und Klassengesellschaft

Trotz vieler Schulreformen bleibt eines in Österreich gleich: die Trennung der Bildungswege der 10-jährigen – manche gehen ins Gymnasium, andere in die Hauptschule / NMS. Die Auswahl der Schule ist weder zufällig, noch folgenlos. Kinder von Akademiker_innen gehen Großteils in Gymnasien und haben eine viel höhere Wahrscheinlichkeit zu studieren, und damit auch mehr zu verdienen. Kinder aus bildungsfernen Schichten finden den Weg ins Gymnasium und in weiterer Folge auf die Universität eher selten. Könnt ihr zunächst etwas über die konkreten Ausformungen des österreichischen Bildungssystems und eure Einschätzungen dazu sagen?

Petra: Das zweigliedrige Schulsystem in Österreich reproduziert mit der Trennung in AHS und NMS nach wie vor eine Klassengesellschaft, auch wenn sie für „österreichische“ Kinder teilweise durchlässiger geworden ist. Das Schulsystem ist gleichzeitig Teil eines Migrationsmanagements, das Schüler_innen mit „Migrationserfahrung“ bereits früh selektiert und am unteren Ende der sozialen Hierarchie positioniert. Es basiert auf einer Unterscheidungspraxis zwischen „guter“ und „schlechter“ Diversität. Die NMS ist der Ort, dem Kinder zugewiesen werden, die selbst oder deren Eltern aus Ländern kommen, die durch Integrationsdiskurse problematisiert und deren Sprachen abgewertet werden. Der Großteil der (Flüchtlings-)Kinder, die nicht Deutsch können, landet automatisch in der NMS. Diese Verschränkung der Reproduktion von Klassengesellschaft und Rassismus sollte man mitbedenken.

Jana: Ich bin Lehrerin geworden, weil mich das Zwei-Schienen-Bildungssystem so unfassbar beschäftigt hat. Selber bin ich zweisprachig aufgewachsen und in ein Gymnasium in Kärnten gegangen, in das alle Kinder gingen, die zweisprachigen Unterricht haben wollten. Das heißt, ich saß in einer Klasse mit Kindern von Ärzt_innen, Jurist_innen und Vollerwerbsbauern und -bäuerinnen. Bildung und Zweisprachigkeit funktionieren, wenn die Kinder in eine gemeinsame Schule geschickt werden. Dann ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie maturieren bzw. sich tatsächlich den Beruf aussuchen können, den sie möchten, viel, viel höher. Deswegen glaube ich auch, dass die wichtigste Forderung ist, dieses zweigeteilte Bildungssystem abzuschaffen.

Hanna: Im bildungspolitischen Diskurs redet man über Standardisierung, Individualisierung etc., aber der Aspekt, dass die Kinder auf eine Klassengesellschaft vorbereitet werden, wird immer unter den Tisch gekehrt. All das, was wir tagtäglich erleben, ist Teil dieser Politik, die Menschen von Kindheit an auf ihre späteren Plätze in der Gesellschaft vorbereitet. Kinder beispielsweise, die eigentlich einen erhöhten Förderungsbedarf haben und diesen nicht bekommen. Manchmal wird behauptet, dass die Eltern die Kinder nicht genug fördern, doch die Schule sollte eigentlich ohne die Unterstützung der Eltern auskommen und es ist völlig absurd, was da vor allem über die Mütter abgewickelt wird.

Lena: Wenn auf der einen Seite der Skala die AHS ist, dann sind es auf der anderen Seite Kurse, in die Jugendliche ohne Schul- oder Ausbildungsplatz geschickt werden. Vor diesem Hintergrund ist die Ausbildungspflicht (siehe dazu Text auf S. 7) eine krasse Entwicklung, die de facto bedeuten wird, dass mehr Leute in einem Kurssystem landen, in dem Kurs auf Kurs auf Kurs folgt – immer für sechs, maximal zwölf Monate. Das ist auch deshalb schwierig, weil da viele Leute, die vor allem deshalb ein Problem am Bildungs- und Arbeitsmarkt haben, weil sie beschissene Erfahrungen mit Schule und anderen sozialen Kontexten haben, dann in Strukturen ohne längerfristige Sicherheiten geraten, und das oft schon mit 15, 16 Jahren.
Die mangelnde Vermittlung von entwicklungspsychologischen Inhalten in der AHS-Lehrer_innenausbildung wirkt sich auch klassenreproduktiv aus. Ohne Schulung, Reflexion und Gesellschaftskritik ist die Wahrnehmung, was als Anpassung, Fleiß und guter Wille und was als Delinquenz und Störung interpretiert wird, klassistisch, rassistisch und sexistisch gefärbt.

Schule und Flüchtlingskinder

Die ohnehin schwierige, weil unterfinanzierte Situation an den NMSen wird noch zusätzlich dadurch verschärft, dass dieser Schultyp ein Abstellgleis für alle Kinder ist, die neu nach Österreich kommen. Könnt ihr die derzeitige Situation an den Pflichtschulen erläutern?


Petra: Das Bildungssystem stellt sehr wenig bereit für Kinder, die noch nicht Deutsch sprechen. Die Schüler_innen landen bis zu elf Wochenstunden in Deutschkursen. Den Rest der Zeit nehmen sie integrativ am Unterricht teil, wo sie sich meistens mit Arbeitsblättern selbst beschäftigen müssen. Da passieren Prozesse, die zu einer desimagination führen: Anfangs sind die Kinder oft unglaublich engagiert und lernfreudig. Doch innerhalb kürzester Zeit werden sie frustriert, weil sie nicht wirklich einbezogen und gefördert werden. Auch mir als Lehrerin erscheint es oft zu viel, weil der Rest der Klasse auch sehr anstrengend sein kann. Die Lehrer_innen sind überfordert und die außerordentlichen Schüler_innen sind unter- und überfordert zugleich. Und nach nur zwei Jahren müssen die Schüler_innen fast Unmögliches leisten: Sie müssen Deutsch-Schularbeiten mitschreiben und werden wie alle anderen benotet. Die Probleme des Notensystems zeigen sich, wenn diese Kinder im Zeugnis beispielsweise einen 4er haben, obwohl sie viel mehr geleistet haben als andere. Die Kinder erleben sich so als Versager_innen. Auch viele Lehrer_innen bleiben mit einer Grundunzufriedenheit zurück, mit dem Unterschied, dass das Machtverhältnis zu ihren Gunsten wirkt: Die Lehrer_innen können die Verantwortung von sich auf die individuelle Leistungsschwäche der Schüler_innen schieben. Tatsächlich versagt hier vor allem das österreichische Schulsystem.

Jana: Wenn wir Kindern die Möglichkeit geben wollen, ihren Bildungsweg maßgeblich selber aussuchen zu können, egal woher sie kommen oder wie ihre Eltern finanziell aufgestellt sind, muss diese Regelung sofort weg. Ein weiteres strukturelles Problem ist das Fehlen von muttersprachlichen Zweitlehrer_innen, die diesen Kindern eine große Stütze sind. Sie sind Vorbild, würden auch eine ganz andere Haltung in den alltäglichen Unterricht einbringen und einfach auch viel in der Schulkultur verändern.

Hanna: Die Problematik der Flüchtlingskinder kennen wir in der BMHS genauso. Sie werden einfach in die Klasse hineingesetzt ohne Rahmenbedingungen dafür zu schaffen. Die Kinder sind teilweise in der lateinischen Schrift nicht alphabetisiert, sie bleiben über kurz oder lang auch weg und das wird ihnen dann als großer Mangel angerechnet. Schließlich führt das dazu, dass ihr Schulvertrag nicht verlängert wird usw. Also, eine völlige Mangelverwaltung.

Friedafrust: Die Verantwortung wird uns Lehrer_innen und den Kindern dauernd umgehängt. Aber es liegt schlicht an den nicht vorhandenen Ressourcen – wir haben die Strukturen nicht, das Geld sowieso nicht, die Räumlichkeiten auch nicht.

Petra, du hast den Begriff desimagination vorhin verwendet, kannst du ihn erläutern?

Petra: Der kanadische Pädagoge Henri Giroux greift auf den Begriff desimagination machine zurück, um eine politische Entwicklung zu benennen, die die Fähigkeit untergräbt, sich selbst und die Gesellschaft radikal anders zu denken, sich das scheinbar Unmögliche vorzustellen.
Die Schule – konkret die NMS – ist Teil der gesellschaftlichen Maschine, die desimagination auch im Sinne von Hoffnungslosigkeit sowohl bei Lehrer_innen als auch bei Schüler_innen produziert. Das beginnt bei der Lehrer_innenausbildung, wo Studierenden gesagt wird, sie können sich einen Fachunterricht in der NMS abschminken, weil sie hauptsächlich als Sozialarbeiter_innen tätig sein werden. Darin steckt eine zweiseitige Abwertung. Einerseits jene der NMS-Lehrer_innen, die eigentlich nach dem gleichen Lehrplan wie in der AHS-Unterstufe unterrichten sollten, nun aber vor allem Sozialarbeit – die noch dazu gesellschaftlich stärker abgewertet ist – leisten sollen. Andererseits wird vermittelt, dass die NMS-Schüler_innen dumm und nicht entwicklungsfähig seien. In Wirklichkeit sind die Schüler_innen unglaublich neugierig und leistungsorientiert. Sie haben Träume, sie haben Wünsche, für deren Erreichen sie auch kämpfen wollen. In der Schule lernen sie aber schnell, dass ihre Träume angeblich unmöglich zu verwirklichen sind.

Schulreformen – Neue Herrschaftstechniken

Wir haben ganz viele Probleme des Schulsystems schon angesprochen, doch die offiziellen Stellen antworten mit vermehrter Standardisierung. Wie äußert sich das in den Schulen?

Eva: Die ständigen Testereien beginnen schon in der Volkschule bei den 6-jährigen, die nach 8 Buchstaben einen BU-8-Test machen müssen. Im November müssen die Kinder getestet werden, obwohl sie eigentlich die ersten zwei Schuljahre Zeit haben, lesen zu lernen. Es gibt allein in den ersten vier Jahren vier Tests! Für diese Tests gibt es natürlich keine zusätzlichen Ressourcen.

Jana: Literaturvermittlungsinitiativen wie Büchereien haben beobachtet und auch die PISA Ergebnisse zeigen, dass die Lesekompetenz mittlerweile besser geworden ist. Deshalb gibt es jetzt die Empfehlung, wieder mehr Spracherwerb (gemeint ist Deutsch) und Rechtschreibung zu lehren. Jetzt haben alle Lesen geübt, jetzt ist die Rechtschreibung auf der Strecke geblieben.

Hanna: In den BMHS wurden Abschlussprüfungen überfallsartig eingeführt. Das heißt, wir und die Eltern wurden nicht informiert, das ist plötzlich im nächsten Jahr so zu machen. Es hat in ganz Österreich an BMHS so abzulaufen, wir Lehrer_innen müssen uns auf Fortbildungen begeben, um uns auf das gewünschte Prüfungsformat vorzubereiten. Aber wie dies auszusehen hat, wird uns das erste Mal am Anfang des Schuljahres gesagt. Ich komme aus einer Zeit, in der es solche Informationen schon im Vorfeld gab, wo von allen Beteiligten über die Sinnhaftigkeit der Neuerungen diskutiert wurde und in der es Protestbewegungen gab, in welchen auch die Eltern sich aufgeregt haben. Zum Beispiel werden die Schulstunden gekürzt und die BMS-Schüler_innen müssen ein unbezahltes zweimonatiges Praktikum machen. All das wurde über Nacht eingeführt.

Friedafrust: Man bekommt einen groben Plan, der noch nicht ausgefeilt ist, vorgesetzt und muss ihn dann ausführen. Ich fühl mich oft in Geiselhaft des Systems, weil man Dinge umsetzten muss, von denen man alles andere als überzeugt ist und von denen man sicher weiß, dass es die Begeisterung, also das, was die Kinder weiterbringt, im schlimmsten Fall killt.

Rosa: Das medial prominenteste Beispiel der Standardisierung ist die Zentralmatura, die auch überstürzt und ohne ausreichende Vorbereitung oder gar Mitsprache von Eltern und Lehrer_innen in den AHS umgesetzt wurde. In den AHS herrscht ein zunehmender Leistungsdruck, die Schüler_innen müssen in der 7. Klasse – ohne zusätzliche Zeit – eine vorwissenschaftliche Arbeit schreiben, die von Lehrer_innen ohne zusätzliche Ressourcen betreut werden muss.
Lena: Das ist auch in der Lehramtsausbildung bemerkbar: Es kommen jetzt die Leute aus den Schulen mit der Erfahrung Zentralmatura. Davon ist bei vielen die eigene Erwartungshaltung an den Lehrberuf geprägt: nämlich, dass es ihre Aufgabe sei, möglichst effizient auf Prüfungen vorzubereiten. Ein verschultes Bachelor-System ist eine weitere
Ausprägung dieser Entwicklung.

Hoffnungsschimmer: Reflexion und Reformpädagogik?

Was bräuchte es denn statt dieser „Schulreformen“? Was würde einen wirklichen Unterschied machen und was sollte Schule denn überhaupt leisten?

Lena: Ein wichtiger Punkt wäre, Raum und Zeit für gemeinsame Reflexionen zu schaffen. Es gibt keine Supervision – maximal Intervision, wenn du Glück hast. Gerade, wenn es um Entscheidungen über die Zukunft von Schüler_innen geht, ist es arg in diesem System Schule, allein gelassen zu werden.

Petra: Außerdem ist es schwierig Reflexionsräume gegen die Gefühle der Konkurrenz und die Angst, die in der Schule herrscht, durchzusetzen. Die strukturellen Spaltungen zwischen den Lehrer_innen sind enorm. Es gibt Hierarchien zwischen Alten und Jungen, zwischen Nicht-Migrant_innen und Migrant_innen, zwischen Lehrer_innen unterschiedlicher Schultypen und solchen mit sicheren und prekären Verträgen etc.
Wir sind als Lehrer_innen zwar auf Reflexion trainiert, aber sie bezieht sich immer nur auf den individuellen Unterricht. Das ist notwendig und wichtig. Doch wesentlicher finde ich, dass wir kollektiv über uns selbst in diesem Schulsystem nachdenken, über unsere Arbeitsbedingungen und darüber, worunter wir und die Schüler_innen leiden.

Eva, ihr arbeitet ja auch mit Freinet (1) in einer öffentlichen Volkschule, das klingt ganz anders als die Geschichte aus den NMS bzw. BMHS – wie habt ihr das durchgesetzt? Habt ihr das als Kollegium entschieden?

Eva: Wir mussten es nicht durchsetzen, wir haben didaktische Freiheit in Österreich, du kannst als Lehrer_in selber entscheiden, wie du arbeitest. Wir haben das im Team entschieden – weil wir eine integrative Mehrstufenklasse haben, sind wir 2,5 Lehrerinnen (da wurde auch eingespart, früher waren wir zu dritt). Und wir haben die Freinet-Pädagogik in der es viel um Demokratie und um die Interessen der Kinder geht, als Thema gesetzt.

Petra: Bei Freinet geht es u.a. darum, wie Kinder in der Schule partizipieren können und wie sie mit ihren Bedürfnissen wahrgenommen und gehört werden können. Im Regelunterricht stellen die Lehrer_innen die Fragen. Dabei haben sie die Antwort immer schon im Kopf. Wenn die Kinder anders antworten, ist es falsch. Laut Freinet sollen die Fragen vor allem von den Kindern kommen. Ihre Neugierde soll aufgegriffen werden, damit sie nicht abgetötet wird. Das ist ein Weg, um Imaginations- und Begeisterungsfähigkeit zu stärken, die auch bei Giroux so wichtig sind.

Friedafrust: Unsere Kinder waren in der Lernwerkstatt Brigittenau – ein öffentlicher Schulversuch mit allen möglichen Reformpädagogischen Ansätzen. Vor allem gab es keine Noten, was beim nachfolgenden Gymnasiumbesuch zutiefst irritierend war. Die Lernwerkstatt hat entsprechendes Personal und damit die Möglichkeit, dass sich um jedes einzelne Kind gekümmert werden kann und das individuelle Tempo der Kinder Berücksichtigung findet.

Rosa: Schulversuche sind leider nur kleine Oasen für ein paar wenige Leute. Oftmals sind diese Schulversuche auch öffentlich und an Orten, wo viele nicht-privilegierte Menschen wohnen. Dann gibt es aber natürlich auch Eltern (meist linke Akademiker_innen), die ihre Kinder extra woanders melden, damit ihr Kind dort in die Schule gehen kann, wo es Mehrstufen- und Integrationsklassen gibt. Natürlich willst du dein Kind in eine gute Schule geben. So ist dann auch eine gewisse soziale Segregation innerhalb einer Schule sichtbar: Je mehr Reformpädagogik, desto weißer sind die Klassen geworden.

(Welche) Bildung als Ziel? ­Demokratie durch die Schule

Was soll denn Bildung leisten können? Ist die Bildung, die in der AHS geboten wird besser?

Hanna: Es ist fragwürdig, warum immer die Matura als das große Ziel dargestellt wird. In der Logik des Systems eröffnet die Matura Perspektiven auf weitere Bildung. Aber die Reduzierung des Bildungsverständnisses auf diese Art von Wissen muss irgendwann auch mal gebrochen werden.

Jana: Ich will auch nicht, dass alle Matura haben, sondern dass es eine freie Wahl ist, einen Hochschulabschluss oder eine Lehre zu machen. Aber es sollte nicht von vornherein festgelegt werden, was für welche Kinder aus welchen Familien das Richtige ist. Ich fahre eigentlich sehr gut damit, die Kinder sehr wohl mit Weltliteratur zu konfrontieren, Gedichtabende oder Theaterstücke mit ihnen zu machen. Gerade weil es für sie etwas Besonderes ist, weckt es ein unglaubliches Interesse. Das wäre für mich ein Hinweis darauf, dass es Leute braucht, die diesen Beruf bewusst gerne machen – die das, was sie als Leidenschaft empfinden weitergeben. Ich würde sehr dafür plädieren, sich zu trauen, das zu machen, was einen selber interessiert und begeistert.

Friedafrust: Ich habe selber ein paar Jahre an einer AHS unterrichtet und möchte eine Lanze dafür brechen: Es war nicht weniger laut, aber es gab einen weiteren Bildungsbegriff. Mir ist das sehr wichtig, aber nicht im elitären Sinn. Denn erst, wenn man Zusammenhänge herstellen kann, und das gerne tut, dann kann man politische Entwicklungen sehen.

Hanna: Ich bin eine Nutznießerin der kreiskyschen Bildungsreform. Der Staat hat meine ganze Ausbildung bezahlt. Sonst wäre ich wahrscheinlich im tiefen Waldviertel mit einem Bauern verheiratet, hätte viele Kinder usw. Für mich war die Schule ein Sprungbrett, aber vor allem durch die Uni und die Unipolitik habe ich gelernt, Gesellschaft zu denken. Der formelle Bildungsabschluss war wichtig für meine Biographie.

Petra: Die Kinder bringen viele Fragen mit in die Schule und sind in ihrem Verhalten oft sehr widerständig – ein Teil des Widerstands ist problematisch, aber hinter einem anderen Teil ihres Verhaltens steckt mehr. Wir müssten lernen, zuzuhören. Das ist schwierig und wird nicht gerne gesehen. Angst- und Kontrolldiskurse, die einen selbst auffressen, dominieren die Schule. Ganz viel Widerstand, der von den Kindern kommt, sollte aufgegriffen werden. Lehrer_innen sollten sich mit ihnen solidarisieren und verbünden.

Hanna: Für mich ist der zentrale Inhalt von Bildung: Was bedeutet Demokratie? Demokratielernen sollte inkludiert sein in die schulische Erfahrung eines jeden Menschen. Demokratiepolitisch wäre es ganz wichtig, gewisse Grundsteine zu legen und nicht den Kindern Diskriminierungserfahrungen anzutun, weil die produzieren genau das, was wir heute erleben – 50% Hofer-Wähler_­innen. Die Schule ist leider eine wichtige Institution, die diese Erahrungen der Abwertung vermittelt.


(1)Reformpädagogik nach Célestin und Elise Freinet. In Wien gibt es eine aktive ­­Freinet-Gruppe

Anmerkung:
Die Diskussionsveranstaltung im que[e]r wurde im Rahmen der Sendung „Radio Widerhall“ auf Radio Orange unter dem Titel „Schulreform ohne Ende – und wo bleiben die Lehrer_innen? Erstes Reflexions- und Vernetzungstreffen“ ausgestrahlt und kann unter dem folgenden Link nachgehört werden: https://cba.fro.at/321734. Der Abdruck der Diskussion basiert auf einer überarbeiteten und ergänzten Version des Transkripts der Radiosendung.




GLOSSAR

VS = Volksschule (1.–4. Schulstufe): Schule für alle 6–10-jährigen

NMS = Neue Mittelschule (5.–8. Schulstufe): das, was von Diskussion um die Gesamtschule blieb, aber letztlich einfach die Hauptschule ersetzte

HS = Hauptschule (5.–8. Schulstufe): Ziel ist die Vorbereitung auf das duale Bildungssystem, d.h. Lehre mit Berufsschule oder BMHS

AHS = Allgemeinbildende Höhere Schule (5.–12, bzw. 13. Schulstufe): Schließt mit Matura ab, Ziel ist die Vorbereitung auf Studium u. Ä.

BMHS = Berufsbildende Mittlere (9.–11./12. Schulstufe, danach Berufsreifeprüfung und damit Hochschulzugang möglich) und Höhere Schulen (9.–13. Schulstufe – Abschluss: Matura): Berufliche Qualifikationen und Allgemeinbildung; sehr verschiedene Einzeltypen (HBLA, HTL, HAK, etc.)

online seit 08.03.2017 13:21:10 (Printausgabe 76)
autorIn und feedback : Moderation & Text: Rosa Costa


Links zum Artikel:
www.malmoe.org/artikel/funktionieren/3257Keine Garantien, aber Pflichten. Zur Logik des neuen Ausbildungszwangs
www.malmoe.org/artikel/alltag/3216Rezension des FIPU-Bandes zu Prävention & Bildung gegen Rechtsextremismus



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