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  Leben ist kein Schicksal

Amartya Sens Kritik der absoluten Identität

Das Thema der kulturellen Identität bereitet zahlreiche Schwierigkeiten, da kulturelle Identität sowohl ein Faktor der Inklusion und der wechselseitigen Anerkennung wie auch eine Quelle der Ausgrenzung und der emargination sein kann: Die kulturelle Identität muss nicht, kann jedoch zwischen den Mitgliedern einer Gesellschaft und zwischen den unterschiedlichen Gesellschaften zu Zwietracht, Hass und Gewalt führen, wenn sie aus machtpolitischen Gründen missbraucht wird.

Wem dient ein „Kampf der Kulturen“?

Amartya Sen, der Schriften wie How Does Culture Matter? und Identity and Violence: The Illusion of Destiny der Untersuchung der kulturellen Identität gewidmet hat, hat innerhalb seiner Forschungen mithilfe verschiedener geschichtlicher Ereignisse (z.B. die Kämpfe zwischen Hindus und Moslems in Indien in den vierziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts oder die Massaker in Ruanda) auf die Probleme, Risiken und Gefahren der Interpretation der absoluten, starren und eindimensionalen Identität, d.h. der Deutung der Identität, nach der jedes Individuum eine und ausschließlich eine Identität hat, hingewiesen. Die Texte von Sen bilden einen klaren, resoluten und unnachgiebigen Widerspruch zu den Studien von Samuel Huntington wie z.B. The Clash of Civilizations and the Remaking of World Order oder der Vorrede zu Culture Matters: How Values Shape Human Progress.

Die Absicht von Sen innerhalb seiner Meditation gilt der Demaskierung der eigentlichen Ziele, die mit dem Konzept der absoluten Identität verfolgt werden: Denn die Auffassung der eindimensionalen Identität, weit entfernt davon, neutral zu sein, verfolgt bestimmte Zwecke bezüglich der Gestaltung einer Gesellschaft, und zwar, die Dominanz über die Individuen zu erlangen und die Zwietracht zwischen Individuen und Gruppen zu stiften. Sens Grundüberzeugung bezüglich der kulturellen Identität besteht darin, dass eine absolute Identität nicht existiert: Jedes Individuum ist an sich selbst eine Pluralität von Identitäten und von Kulturen und jedes Individuum ist plural, weil es eine Vielfalt an Identitäten und an Kulturen in sich birgt. Sen schätzt jedes Individuum als unterschiedlich unterschieden („diversely diverse“) ein, und zwar in dem Sinne, dass jedes Individuum, indem es eine Pluralität von Identitäten hat, eine Pluralität von Unterschieden im Verhältnis zu jedem anderen Individuum hat.

Sen gedenkt in seinen Studien nicht, den Begriff der kulturellen Identität auf alle Fälle und unter all den Aspekten zu verurteilen; er kritisiert jedoch ständig die solitaristische Deutung der Identität, die die Identität jedes Individuums als statisch, unveränderlich und einzig ansieht (das Individuum habe nur eine Identität, die das Individuum sozusagen vollständig definiere; Identität sei keine Frage der individuellen Wahl, sondern entspreche einer bestimmten Tradition, der das Individuum vollständig unterworfen sei; Identität konstituiere sozusagen das Schicksal des Individuums).

Identität als Instrument der Machtpolitik kann tödlich sein

Die Interpretation der Identität als einer absoluten Identität ist eben eine Deutung, welche zwecks der Verfolgung machtpolitischer Ziele die Individuen zu einer Gruppe und ausschließlich zu einer Gruppe zuweisen will, um dieselben Individuen von anderen Individuen und Gruppen zu trennen: Es handelt sich dabei um eine Auffassung der Identität, welche die Trennung und anschließend die Feindseligkeit zwischen Gruppen fördern wird. Der Begriff „Identität“ dient innerhalb dieser Sichtweise dazu, starre Gruppen künstlich zu kreieren und bestimmte Individuen als „das Andere“, „das Fremde“ wahrnehmen zu lassen.

Mit der Ansicht der starren Identität ist die Ansicht des kulturellen Determinismus (die Sen ebenfalls kritisiert) eng verbunden, nach der eine Kultur feste und endgültig bestimmte Inhalte hat, von denen die Individuen in ihrem Verhalten, in ihren Meinungen, in all den Aspekten ihres Lebens determiniert sind. Den Anschauungen der Befürworter_innen der starren Identität und des kulturellen Determinismus ist es gemeinsam, dass sie das Individuum als etwas, das von bestimmten Traditionen ohne Abhilfe vollständig absorbiert wird, ansehen, und dass sie die Inhalte der Kultur als statisch bestimmt erachten und nicht als etwas, das eine Dynamik und eine Entwicklung hat. Die Konzeption des Kulturdeterminismus zielt ebenfalls darauf ab, bestimmte Gruppen zu marginalisieren und sie zu verachten. Besonders drastische Beispiele für die Folgen, welche der Kulturdeterminismus mit sich bringt, sind das Unterlassen von Hilfsmaßnahmen durch die britische Regierung während der verschiedenen Hungersnöte in Irland und jener in Bengalen während des zweiten Weltkrieges, bei der sich eine Verachtung des britischen Establishments gegenüber der irischen und indischen Bevölkerung zeigte. Kulturdeterminismus kann tödliche Konsequenzen nach sich ziehen.

Die Identität ist eine Wahl

Sen stellt den BefürworterInnen der starren Identität zahlreiche Ideen entgegen, unter denen ich die folgenden erwähnen möchte: Sen ist der tiefen Überzeugung, dass das Leben kein Schicksal ist („Life ist not mere destiny“). Damit meint Sen, dass die Wahl für eine Identität, die Entscheidung für eine Kultur, durch welche ein Individuum eine seiner kulturellen Komponenten als bedeutungsreicher als seine anderen kulturellen Bestandteile erachtet, eben das Ergebnis einer Wahl ist, die das Individuum unter der Bandbreite seiner kulturellen Elementen durchführt. Jedes Individuum wählt eine Identität, falls das Individuum eine bestimmte Identität wählen will; die Identität ist nicht ein Faktor, der vom Individuum von Geburt an Besitz ergreift; Identität ist nicht ein Faktor, den das Individuum ererbt und der von Individuum zu Individuum vererbt wird, ohne dass die Individuen irgendeine Macht auf die Identität ausüben können. Ganz im Gegenteil kommt eine Identität als das Ergebnis der Wahl und der Verantwortung der Individuen heraus.

Ferner bringt Sen seine ganze Abneigung zum Ausdruck, die Staaten als Gefüge zu erachten, die aus Bündnissen von Gruppen (z.B. aus Bündnissen von religiösen Gruppen) und nicht vor allen Dingen aus Individuen bestehen, als ob die Bündnisse den Vorrang vor den Individuen hätten. Sen opponiert mit Nachdruck gegen jedweden Versuch, die Individuen auf überindividuelle Strukturen zurückzuführen, in welchen die Individualität selbst der Individuen aufgehoben wäre. Er teilt die Ansicht nicht, dass Zivilisationen unbedingt miteinander konfligieren müssen, allein weil er noch vor der Auffassung des Konflikts zwischen Zivilisationen die Reduktion der Individuen auf Zivilisationen kritisiert: Die Individuen dürfen nicht auf etwas vermeintlich Höheres reduziert werden.

Äußerst aufschlussreich ist zudem in Sens Meditation die Kritik an der Äquivalenz zwischen Multikulturalismus und Freiheit: Sen sieht nicht (oder zumindest nicht notwendig) in der Vielfalt an Kulturen innerhalb einer Gesellschaft ein Zeichen für die in dieser Gesellschaft herrschenden Freiheit: Falls das Individuum ohne die eigene Zustimmung einer Gruppe und den Traditionen einer Gruppe zugewiesen wird, ist dies eher ein Zeichen des Mangels an Freiheit, da die Gesellschaft der freien Wahl der Individuen nicht Rechnung trägt. Interessant ist an dieser Stelle, dass Sen mahnt, den Multikulturalismus in einer Gesellschaft als den Zustand zu interpretieren, in welchem eine Pluralität von Kulturen wechselseitig voneinander getrennt und ohne wechselseitige Kommunikation besteht. Dies wäre aber nach Sens Auffassung kein Multikulturalismus, sondern vielmehr eine Art von pluralem Monokulturalismus.




Literaturhinweise

Samuel Phillips Huntington: The Clash of Civilizations and the Remaking of World Order, Simon & Schuster, New York 1996
Jonathan Sacks: The Dignity of Difference: How to avoid the Clash of Civilisations, Continuum, London/New York 2005
Amartya Sen: Poverty and Famines: An Essay on Entitlement and Deprivation, Oxford University Press, Oxford, 1981
Amartya Sen: Development as Freedom, Knopf, New York 1999; dt. Übersetzung: Ökonomie für den Menschen: Wege zu Gerechtigkeit und Solidarität in der Marktwirtschaft, Deutscher Taschenbuch Verlag, 3. Auflage, München, 2005
Amartya Sen: How Does Culture Matter?, in: Culture and Public Action, edited by V. Rao and M. Walton, Stanford Social Sciences, an inprint of Stanford University Press, Stanford, 2004, Seiten 37-58
Amartya Sen: Identity and Violence: The Illusion of Destiny, W. W. Norton & Company, New York, London 2006
Amartya Sen: The Idea of Justice, Penguin Books, London 2009

online seit 10.06.2017 14:25:10 (Printausgabe 78)
autorIn und feedback : Gianluigi Segalerba




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