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Kapı açık – Die Tür ist offen Die Proteste in der Türkei – ein historischer Moment? Beißender Geruch, brennende Augen, lautes Klopfen, Pfeifen und Klatschen beunruhigten mich in Istanbul am 31. Mai. Ich erfuhr, dass die Polizei mit Tränengas und Wasserwerfern gegen UmweltschützerInnen vorgegangen war, die im nahe gelegenen Gezi-Park das Fällen von Bäumen für ein umstrittenes Bauprojekt der Erdoğan Regierung verhindern wollten. Dieser Park und der daran angrenzende Taksim-Platz waren dann auch für mehrere Wochen der Hauptschauplatz für etwas, das von vielen IstanbulerInnen mir gegenüber als ‚historischer Moment‘ bezeichnet wurde. WAS MACHT DIESEN MOMENT HISTORISCH? Die urbane Entwicklung Istanbuls leidet schon seit einiger Zeit unter den rigorosen Eingriffen der Stadtregierung. Straßenlokale wurden flächendeckend geschlossen, um dem Alkoholkonsum und somit auch einer bestimmten Öffentlichkeit entgegenzuwirken; kulturelle und architektonisch wichtige Orte, wie beispielsweise das Emek, eines der ältesten Kinos der Stadt, wurden abgerissen; Wälder und Grünflächen müssen dem Bau einer dritten Brücke über den Bosporus weichen; ein ganzer Stadtbezirk droht zu Gunsten eines Bauprojektes zu verschwinden. Eine verstärkte Polizeipräsenz war in Istanbul schon länger spürbar. Ege, ein 30-jähriger Fotograf, erzählte mir, dass er zeitweise wöchentlich von der Polizei angehalten, durchsucht und nach seinen Papieren gefragt wurde. Überhaupt wird von einer jüngeren, großteils aus der säkularen Mittelschicht kommenden Generation der autoritäre Führungsstil Erdoğans als extrem bevormundender und freiheitsberaubender Eingriff in ihre alltägliche Lebensweise empfunden. ALS SICH DIE PROTESTBEWEGUNG AUFGRUND DES BRUTALEN Vorgehens der Polizei verbreitete, um gegen den Ministerpräsidenten Erdoğan und seinen strikten Führungsstil zu demonstrieren, standen zum ersten Mal sehr gegensätzliche Gruppen Seite an Seite. Säkulare wie Gläubige, KemalistInnen, FeministInnen, KurdInnen, antikapitalistische MuslimInnen, bisher völlig unpolitische Jugendliche und deren Mütter, LGBT-AktivistInnen und viele mehr. Wenn morgens nach den Protesten vom Vorabend freiwillige Reinigungstrupps durch die Stadt zogen, stand auch dahinter keine übergeordnete Organisation. Der Gezi-Park selbst wurde in kürzester Zeit zu einem selbstverwalteten, lebendigen und friedlich genützten Ort inmitten der Stadt, der nicht von einer politischen Gruppe instrumentalisiert werden sollte. Für viele IstanbulerInnen war die Erfahrung dieser zivilgesellschaftlichen Selbstorganisation im öffentlichen Raum etwas Außergewöhnliches und ist vielleicht auch daher als ein historischer Moment erlebt worden. DABEI GAB ES EINE BEMERKENSWERTE GEMEINSAME SPRACHE, die sich aus einer ‚Volkskultur‘ heraus während der Proteste entwickelte: Die Tradition der politischen Karikatur, des Comics und der Vorliebe für Sprach- und Wortspiele, die auf Schildern, Texten und Wandsprüchen während der Besetzung des Gezi-Parks sichtbar waren. Hier wurde der Spieß umgedreht: Dem harschen politischen Diskurs der Regierung und der autoritären Sprache des Staates wurde Satire entgegengesetzt. Während CNN-Türk die Proteste ignorierte und stattdessen Pinguin-Dokumentationen ausstrahlte, reagierten die AktivistInnen auf diese absurde Zensur der Berichterstattung sofort. Der Pinguin wurde zur Symbolfigur der Gezi-Bewegung und tauchte in vielen verschiedenen Kontexten auf. Eine Zeit lang trat für mich in meinem Bezirk Cihangir so etwas wie eine Regelmäßigkeit im Ausnahmezustand ein. Ab 16 Uhr Nachmittags zogen sich die Vorsichtigen aus den Straßencafés zurück. Die Geschehnisse am Taksim-Platz wurden durch Twitter, Facebook, Livestreams oder einfach den Personen, die vom Taksim-Platz kamen, in die Seitenstraßen kolportiert. Das Töpfe-Klopfen um 9 Uhr abends wurde zum täglichen Ritual. Zeitliche Abweichungen kündigten meistens einen Tränengas-Übergriff der Polizei an. In ebenerdigen Wohnungen hielten BewohnerInnen straßenseitig Mittel gegen brennende Augen bereit. Mein Nachbar von gegenüber rief flüchtenden DemonstrantInnen oft von seinem Fenster aus „kapı açık“ (Die Tür ist offen) zu, damit sie sich schnell im Hausflur in Sicherheit bringen konnten. NACH DER GEWALTSAMEN RÄUMUNG DES BESETZTEN GEZI-PARKS und der ständigen Polizei-Kontrolle der Öffentlichkeit rund um den Taksim-Platz wurde der Protest dezentraler, aber auch das Vorgehen der Polizei unberechenbarer und beunruhigender. Es bildeten sich Diskussionsforen in anderen Parks der Stadt. Viele Menschen wurden verletzt, verhaftet oder wurden mit dem Vorwurf, über Social Media zum Protest aufzurufen, aus ihren Wohnungen geholt. Sechs Todesopfer sind derzeit bekannt. Auch jetzt im Herbst begegnen die DemonstrantInnen den Provokationen der Regierung wieder verstärkt mit Widerstand. Inzwischen ist die Austragung der Olympischen Spiele 2020 an Tokio vergeben worden und nicht wie befürchtet an Istanbul. Ob Erdoğan seine Macht weiterhin mit Polizeigewalt ausüben wird, um von seiner aktuellen Syrienpolitik oder von einer möglichen Wirtschaftskrise in der Türkei abzulenken, ist schwer zu beurteilen. Äußerst komplex und brisant bleibt die politische Situation auf jeden Fall. online seit 09.10.2013 20:58:05 (Printausgabe 64) autorIn und feedback : Ricarda Denzer |
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Ungewöhnliche Allianzen aus dem Diskursiv: Widerstand Tag XYZ [16.11.2018,Bernadette Schönangerer] "Nimm das, was dir liegt, und arbeite damit" Das Antifaschistische Ballett und die Suche nach neuen Protestformen [16.11.2018,Charlie L. ] Jenseits von Widerstand Erfolge mit "Durchbruchprojekten" organisieren [16.11.2018,Rainer Hackauf] die vorigen 3 Einträge ... die nächsten 3 Einträge ... |
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