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  Nach der Wahl bleibt es wie vor der Wahl

Türkische Zustände zwischen autoritärer Staatlichkeit und prekärer Demokratie

Am 1. Mai 1977 kommen 500.000 Menschen aus allen Teilen der Türkei dem Aufruf der Konföderation der Revolutionären Arbeitergewerkschaften (DISK) nach und versammeln sich am Tag der Arbeit auf dem geschichtsträchtigen Istanbuler Taksim-Platz. Am Ende eines Redebeitrags des damaligen Vorsitzenden der DISK, Kemal Türkler, wird aus verschiedenen umliegenden Gebäuden in die Menge geschossen. Panik bricht aus, die Polizei greift die Kundgebung an, 34 Menschen sterben. Der Tag schreibt sich als „Blutiger Erster Mai“ in das Gedächtnis der türkischen Linken ein. Die Umstände des Anschlags bleiben bis heute im Verborgenen.

10. Oktober 2015: Linke Gewerkschaften und Parteien mobilisieren angesichts der kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen dem türkischen Staat und Einheiten der PKK auf eine Friedensdemonstration in Ankara. Kurz vor Beginn der Demonstrationen detonieren zwei Bomben in den Reihen der Demonstrant_innen. Unter Massenpanik greift die Polizei die Demonstration mit Tränengas an. Über 100 Menschen werden von zwei Selbstmordattentätern in den Tod gerissen, nach Regierungsangaben von IS-Anhängern. Viele Oppositionelle vermuten, dass der Staat verwickelt ist. Nach Diyarbakır und Suruç ist das das dritte große Bombenattentat dieses Jahres, gleichzeitig der verheerendste Anschlag in der Geschichte der türkischen Republik.

Roter Faden der Geschichte

Beide Attentate treffen in Zeiten der Verschärfung gesellschaftlicher Auseinandersetzungen linke Massenveranstaltungen. Sie bleiben unaufgeklärt und deuten aufgrund ihrer Verläufe und Vehemenz auf eine Verwicklung des Staates, zumindest auf sein Gewähren hin. Sie können als Materialisierung des in der Gründungsgeschichte wurzelnden autoritären Charakters des türkischen Staates gedeutet werden, der bis heute keine minimalen bürgerlich-demokratischen Standards garantiert, geschweige denn Minderheitenschutz. Der türkische Staat gewährleistet nationale Einheit immer nur mit der Unterdrückung des „Nicht-türkischen“.

„Paternalistischer Staat“ ist deshalb eine gängige Bezeichnung für das kemalistische Staatsprojekt unter Mustafa Kemal Atatürk. Der autoritäre Charakter des türkischen Staates gründet darin, dass die Republik nicht das Ergebnis einer Volksbewegung war, sondern Teil eines Modernisierungsprojekts radikaler Reformer aus den Reihen der Eliten. Das Ziel der Modernisierung, die gegen alle Widerstände innerhalb der Bevölkerung Anatoliens durchgesetzt werden sollte, wurde zunächst mit den autoritären Methoden des ancien régime, des Osmanischen Reichs verfolgt. Diese setzten sich in antidemokratischen Institutionen fort, trotz der Propagierung eines Nullpunktes durch die Staatsgründer. „Dem Vaterstaat (baba devlet) standen seine neuen Staatsbürger wie unmündige Kinder gegenüber“, beschreibt der Politikwissenschaftler Cengiz Günay diesen Staatscharakter. Die Staatsväter wollten das Volk vor sich selbst schützen: „Trotz des Volks für das Volk“ (halka rağmen, halk için). Zentralismus und eine mächtige Bürokratie sollten mit der kemalistischen Ideologie vermengt einen rechtlich-institutionellen Rahmen schaffen, der unflexibel und gegen jegliche gesellschaftliche Mitgestaltung resistent war. Den formell existenten Bürgerrechten stand dabei ein Staatsapparat gegenüber, der unabhängige Kräfte skeptisch beäugte. Auch nach dem Übergang in ein Mehrparteiensystem 1946 wurde dieses System aufrechterhalten: Schlüsselinstitutionen wie das Militär, die hohe Bürokratie, Justiz und das Bildungswesen blieben mächtige Organe, die sich der Kontrolle gewählter Instanzen erfolgreich entzogen. Mit der Machtübernahme islamisch-konservativer Kräfte sowie der kontinuierlichen Entmachtung kemalistischer Eliten mag sich das ideologische Leitziel geändert haben, die Grundzüge der türkischen Staatlichkeit bleiben gleich.

Die gegenwärtigen Entwicklungen verdeutlichen jedoch auch den Bund zwischen Staats- und Modernisierungsprojekt mit paranoidem Nationalismus, den immerwährend Wahnvorstellungen über die Teilung des Vaterlandes quälen. Die Nachwirkungen zeigen sich seit dem Militärputsch 1980 in der „türkisch-islamischen Synthese“ und der gegenwärtigen aggressiv nationalistischen Note der islamistisch-konservativen AKP. Das Phänomen des „Tiefen Staates“ (derin devlet), der parastaatliche Allianzen aus mafiösen und staatlich-institutionellen Zusammenhängen bezeichnet, veranschaulicht die Mischung aus autoritärem, antidemokratischem Staatscharakter und Nationalismus. Der „Tiefe Staat“ bewährte sich historisch als effektives Mittel für die Bekämpfung der „kurdischen Staatsfeinde“.

Eskalation on Demand

Trotz der weltweit einzigartigen Zehnprozenthürde, die die Putschisten 1982 in die Verfassung schrieben, spricht man der pro-kurdischen HDP im Juni realistische Chancen auf den Einzug ins Parlament zu. Seither beherrschen aber auch Meldungen über zahlreiche gewaltsame Übergriffe auf Kurd_innen und die HDP das politische Geschehen. Zwei Tage vor der Wahl, am 5. Juni, geht auf einer Wahlveranstaltung der HDP in der kurdischen Metropole Diyarbakır die erste Bombe hoch. Die Wahlen finden schließlich statt, die HDP erzielt dreizehn Prozent, zieht ins Parlament ein und verhindert eine absolute Mehrheit der AKP. Der Plan des Staatspräsidenten Tayyip Erdoğan, mit einer absoluten Mehrheit und einer Verfassungsänderung ein Präsidialsystem einzurichten, platzt an diesem Sommerabend. Das Wahlergebnis löst große Euphorie in weiten Teilen des Landes aus, vor allem die kurdische Bevölkerung sieht eine nun lang herbeigesehnte Anerkennung und Repräsentation ihrer selbst im Parlament. So groß die Freude ist, so schnell wird klar, dass jegliche mögliche Koalitionskonstellation unwahrscheinlich ist und die AKP auf Neuwahlen drängen wird.

Der Chaos-Sommer

Am 20. Juli sterben bei einem Selbstmordanschlag in Suruç 34 junge Menschen, die aus allen Teilen des Landes zusammengekommen waren, um sich Wiederaufbauarbeiten im benachbarten Kobanê zu widmen. Als Vergeltung ermorden mutmaßliche PKK-Angehörige zwei Polizisten, die Regierung kündigt den Waffenstillstand und den Friedensprozess mit der PKK auf und beginnt unter dem Motto „Kampf gegen jeden Terror“ einen Krieg gegen die PKK. „Kampf gegen jeden Terror“ soll suggerieren, dass auch dem sogenannten Islamischen Staat, den die Regierung für den Anschlag in Suruç verantwortlich macht, der Krieg erklärt sei. Letztendlich gibt es landesweit Razzien gegen Kurd_innen und Linke, nur wenige IS-Verdächtige geraten ins Visier der Ermittler. Der Krieg des türkischen Staates trifft vor allem auch die kurdische Zivilbevölkerung in Südostanatolien: Tagelange Ausgangssperren in kurdischen Städten, Straßenkämpfe zwischen der türkischen Armee und kurdischen Jugendverbänden oder die Leiche eines mutmaßlichen PKK-Kämpfers, die in Şırnak von einem türkischen Militärfahrzeug durch die Straßen gezerrt wird, sind nur wenige Zeugnisse dessen. Der Konflikt flammt aber auch in den zentral- und westtürkischen Metropolen auf: Angriffe auf Parteibüros der HDP; nationalistische Mobilisierung, die regelmäßig in mörderischen Mobs und in Angriffen auf kurdische, armenische und jüdische Personen, deren Geschäfte und Arbeitsstätten münden. In einigen Städten skandieren Menschen: „Wir wollen keine Militäroperation, wir wollen ein Massaker sehen!“.

Die HDP sitzt dabei zwischen den Stühlen. Die noch vor wenigen Monaten als große Hoffnungsträgerin gefeierte Partei bemüht sich um Deeskalation. Trotz Distanzierungen von der PKK wird sie vom türkischen Staat als deren terroristischer Kollaborateur verunglimpft und gleichzeitig von verschiedenen Stimmen aus der PKK als zu moderat, nicht revolutionär genug abgetan. Mit der HDP leidet also die einzige progressive Partei am meisten unter dem andauernden Konflikt, vor allem nach den Wahlen im November, bei denen eine absolute Mehrheit der AKP nicht erneut verhindert werden konnte.

Dass die Eskalation der gewaltsamen Auseinandersetzungen gewollt war, erscheint spätestens seit dem 1. November, als die AKP bei den Neuwahlen 49,5 Prozent der Stimmen verbuchte, als unbestreitbar: Ein aufflammender Nationalismus im Krieg gegen die „kurdischen Staatsfeinde“ und die Angst vor einem weiteren Bürgerkrieg im krisengeschüttelten Nahen Osten waren wohl Gründe für viele Menschen, sich dieses Mal doch für die AKP zu entscheiden.

Dunkle Aussichten?

Wenn auch die absolute Mehrheit der AKP nicht verhindert werden konnte, die HDP hat die Zehnprozenthürde trotz Verlusten erneut geknackt. Der Einzug der ersten dezidiert pro-kurdischen Partei in das Parlament ist ein nicht zu unterschätzendes Novum. Dass die AKP die Zweidrittelmehrheit zur Verfassungsänderung und damit das Präsidialsystem verfehlt hat, scheint Erdoğan aber keinen Grund zur Sorge zu geben. Schon vor den Wahlen erklärte er, dass er faktisch bereits alle Regierungskom­petenzen trage, dieser Umstand lediglich noch rückwirkend rechtlich abgesichert werden müsse. Die AKP hat mit den Neuwahlen ihre politische Herrschaft offiziell wiederhergestellt und wird fortan bemüht sein, Oppositionelle zu bekämpfen. Dass die Hegemonie der AKP spätestens seit den Gezi-Protesten 2013 bröckelt, bleibt weiterhin gültig.

Ein Krieg gegen die Demokratisierung

Der gegenwärtige Krieg des türkischen Staates gegen die Kurd_innen, das Aufflammen des Nationalismus und die Zunahme der Aggressionen auch seitens der türkischen Bevölkerung dürfen nicht auf die „kurdische Frage“ oder ein allein kurdisches Anliegen beschränkt werden. Sie sind ein Angriff auf alle gesellschaftlichen Randgruppen und jedes emanzipatorische Anliegen. Somit ordnen sich die Ereignisse der letzten Monate auch in eine Reihe von Manifestationen des immanent autoritären, antidemokratischen und nationalistischen Charakters des türkischen Staates ein: sei es der Genozid an den Armenier_innen im Jahr 1915, der blutige erste Mai von 1977, die Pogrome an Alevit_innen 1993 in Sivas oder die Niederschlagung der Gezi-Proteste. Gleichzeitig ist der erstarkende kurdische Widerstand Teil eines Strebens nach Demokratisierung. Solidarität sollte deshalb auch der HDP gelten: Als Sammelbecken diverser zivilgesellschaftlicher, parteiförmiger, linker Zusammenhänge und als Sprachrohr der Randgruppen in der Türkei hat sie definitiv mehr auf ihre Agenda gesetzt als allein den Kampf gegen die Unterdrückung der kurdischen Bevölkerung.

online seit 07.12.2015 12:49:55 (Printausgabe 73)
autorIn und feedback : Volkan Ağar




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