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  Politiker aus Notwendigkeit

Selahattin Demirtaş und der Wahlerfolg der HDP

Mit dem Wahlsieg der linken und prokurdischen HDP am 7. Juni 2015 wuchs das Interesse an führenden HDP-PolitikerInnen schlagartig. Bis dahin waren ihre Namen in der deutschsprachigen Öffentlichkeit völlig unbekannt. Die Aufmerksamkeit konzentriert sich dabei fast ausschließlich auf den HDP-Co-Vorsitzenden Selahattin Demirtaş. Andere HDP-PolitikerInnen, die innerparteilich ebenso wichtig sind, nicht zuletzt die HDP-Co-Vorsitzende Figen Yüksekdağ, erfahren deutlich weniger Aufmerksamkeit. Dies ist wenig überraschend, weil Demirtaş auch für die türkische Öffentlichkeit das Gesicht der Partei ist. Sein Wahlkampf, den er häufig in Talkshow-Auftritten führte, fiel augenfällig anders aus als jener der politischen Konkurrenz: Er setzte eher auf subtile Witze und sanfte Formulierungen als auf aggressive Töne und persönliche Angriffe, die nicht nur von Staatspräsident Erdoğan, sondern von fast allen politischen Führungsfiguren des Landes bevorzugt wurden. Ebenso passte das öffentliche Bild von Demirtaş nicht zu dem, was üblicherweise in der Türkei für erfolgreiche politische Führungspersonen gilt: autoritäre Macher, die gegen alle Widerstände ganz alleine und aus eigener Kraft durchsetzen, was sie wollen, haben hier Tradition. In dieser Weltsicht gilt Nachdenken und Reflexion als Schwäche und sachliche Kritik als Verrat. Ruhig und besonnen reagierten Demirtaş und seine Partei auf die vielen Angriffe seitens der Regierungspartei AKP. In den Talkshow-Auftritten glänzte er nicht mit felsenfesten Überzeugungen, sondern mit differenzierten Überlegungen, die Raum für unterschiedliche Perspektiven ließen. Diese Charakterisierung mag für sein öffentliches Bild und während des Wahlkampfs nicht ganz falsch sein, seine Person ist aber deutlich widersprüchlicher und komplexer.

Bürgerkriegserfahrungen und der Weg zur Politik

Demirtaş ist vom Bürgerkrieg der 1990er Jahre in den kurdischsprachigen Gebieten geprägt. In diesen Jahren werden kurdische Politiker­Innen öffentlich hingerichtet, Menschen entführt und AktivistInnen aufgrund haltloser Anschuldigungen zu jahrelangen Haftstrafen verurteilt. Sein älterer Bruder, Nurettin Demirtaş, wird 1993 verhaftet und erst 2004 wieder freigelassen – wegen vermeintlicher PKK-Mitgliedschaft. Diese willkürliche Verhaftung und ähnliche Ereignisse führen dazu, dass Selahattin Demirtaş beschließt, Jura zu studieren, um zuerst als Menschenrechtsaktivist und später als Anwalt für eine Menschenrechts-NGO zu arbeiten. In diesen Jahren beschäftigt er sich mit diversen Menschenrechtsverletzungen in den kurdischen Gebieten. Seine politische Karriere beginnt erst 2007, als er in der prokurdischen DTP (einer der verbotenen Vorgängerparteien der HDP) als Kandidat für die Parlamentswahlen aufgestellt wird. Zu diesem Zeitpunkt hat Demirtaş keine Machtbasis innerhalb der Partei und seine Position innerhalb der DTP geht hauptsächlich darauf zurück, dass sein Bruder Nurettin Demirtaş Parteivorsitzender der DTP ist. Er wird als Abgeordneter für die Provinz Diyarbakır ins türkische Parlament gewählt. Als die DTP 2009 wegen „Unterstützung von Separatismus“ verboten wird, erhalten die führenden DTP-PolitikerInnen ein politisches Betätigungsverbot von 5 Jahren. In der Nachfolgepartei BDP entsteht so ein Vakuum an der Führungsspitze, weil die erfahrenen DTP-Figuren nicht mehr politisch agieren dürfen. So wird Demirtaş zum Co-Vorsitzenden der BDP gewählt, wobei das politische Gewicht seines Bruders sicherlich eine Rolle spielt. Nach dem Übergang von der prokurdischen BDP in die linke Sammelpartei HDP wird er ebenfalls zum Co-Vorsitzenden gewählt.

Weniger Strategie als Überzeugung

Mit seiner Biographie im Blick lässt sich das Auftreten und Agieren von Demirtaş besser verstehen: Als am Tag vor den Juni-Parlamentswahlen in Diyarbakır ein Anschlag gegen die HDP-Wahlkundgebung verübt wird und er sich dabei nur in 30 Meter Entfernung zu einer der detonierenden Bomben befindet, beruhigt Demirtaş wenig später die HDP-AnhängerInnen und ermahnt diese auch in den nächsten Tagen immer wieder zur Ruhe. Er kennt den blutigen Bürgerkrieg der 90er und weiß, dass am Ende ZivilistInnen die Opfer sind, wenn eine Situation eskaliert und die Gewalt Oberhand gewinnt. Sowohl seine frühere Arbeit als Menschenrechtsanwalt als auch sein jetziger Posten als Co-Vorsitzender einer demokratischen Partei gehen darauf zurück, dass er friedliche und zivile Politikgestaltung befördern möchte. Die Besonnenheit ist also nicht nur ein Trick, um in der Öffentlichkeit als moderater Politiker zu erscheinen und damit WählerInnen zu mobilisieren. Vielmehr dürfte es seiner Überzeugung entsprechen, dass es für Frieden in der Türkei Verhandlungen und Kompromisse bedarf – und keiner weiteren Eskalation. Allerdings hinterlassen der monatelange Krieg seit den Juni-Wahlen und der blutige Anschlag in Ankara mit über 100 Toten ihre Spuren. Seine Auftritte sind wütender und trotziger geworden – wenn auch immer noch für Frieden, immer noch für Demokratie. Aber die Situation in den kurdischen Gebieten der Türkei lassen für Witz und Humor wenig Raum, wenn Panzer durch die Straßen rollen und die Menschen aus Angst vor Scharfschützen ihre Wohnungen nicht verlassen können. Zudem hat die HDP mit der Wahlschlappe am 1. November zu kämpfen, was auch auf die Gleichgültigkeit von Teilen der westtürkischen Öffentlichkeit und Gesellschaft gegenüber dem Krieg in den kurdischen Gebieten verweist. Aufgrund dieser Ignoranz und Indifferenz fällt es selbst Demirtaş inzwischen schwer, von einer friedlichen, gemeinsamen Zukunft der Völker in der Türkei zu sprechen.


online seit 07.12.2015 12:49:51 (Printausgabe 73)
autorIn und feedback : Ismail Küpeli




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