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  Über die transnationale ­Dimension

Der Konflikt in Nordkurdistan und der Türkei und Kurdische und türkische MigrantInnenorganisationen in Österreich

Grenzenüberschreitende, also transnationale, Verbindungen und politische Aktivitäten von MigrantInnen geraten im Zusammenhang der sogenannten Integrationsdebatte immer wieder in politische und öffentliche Diskussionen. Transnationale politische Aktivitäten bezeichnen das politische Engagement von MigrantInnen sowohl im sogenannten Ankunfts- als auch im Herkunftskontext. Dies kann einerseits in Form direkter grenzüberschreitender Partizipation geschehen: über das Wählen und Betreiben von Wahlkampagnen sowie Lobbyaktivitäten bis hin zur Teilhabe in Debatten in Medien im Herkunftskontext, wie beispielsweise in der Türkei. Andererseits gibt es indirekte Partizipationskanäle über internationale Organisationen, politisch-institutionelle AkteurInnen wie PolitikerInnen oder Ministerien des Aufnahmekontextes, beispielsweise Österreich, die genutzt werden, um im Herkunftskontext politische Veränderungen in Gang zu setzen.

Die umstrittene Minderheitenpolitik der türkischen Regierung, die die Anerkennung des AlevitInnentums als Religionsgemeinschaft zurückweist, muttersprachlichen Kurdischunterricht an öffentlichen Schulen verbietet, sowie gewalttätige Übergriffe und politische Verfolgungen von AlevitInnen, KurdInnen, Linken und anderen Personen, die sich gegen die AKP-Politik wenden, organisiert oder zumindest duldet, sind Gründe für solches transnationales politisches Engagement von MigrantInnen in den sogenannten Ankunftskontexten. Jene umstrittenen Regierungspolitiken fördern die Transnationalisierung von politischen Aktivitäten und führen dazu, dass politische Konflikte in Österreich weitergeführt und ausgetragen werden. Andererseits sind die Verhinderung sozioökonomischer Partizipation und die Verweigerung religiöser, kultureller oder ethnischer Anerkennung durch Österreich Faktoren, die eine Transnationalisierung von politischen Aktivitäten stärken, die sich wiederum auf den Herkunftskontext, die Türkei, richten.

Organisierte Diaspora

Transnationale politische Aktivitäten von MigrantInnen aus der Türkei sind durch starke Vernetzung, ein aktives Vereinsleben sowie politische Aktivitäten und Verbindungen charakterisiert, die sich über nationalstaatliche Grenzen hinwegsetzen. In Österreich weisen türkeistämmige (1) MigrantInnen mit etwa 109 Organisationen die höchste Anzahl von MigrantInnenorganisationen auf. Diese Organisationen zeichnen sich zudem durch die höchste Anzahl von Netzwerkorganisationen wie Dachverbänden aus. Die meisten dieser Organisationen sind in den Bereichen der Religion sowie der Integrationsunterstützung aktiv. Viele der Organisationen verfolgen aber auch politische Ziele und Aktivitäten wie Öffentlichkeitsarbeit oder organisieren Demonstrationen, die sowohl Herkunfts- als auch Ankunftskontext, aber auch internationale politische Entwicklungen betreffen. Die Organisationslandschaft der türkeistämmigen MigrantInnen in Europa spiegelt durchaus die politischen, ethnischen und religiösen Spannungen sowie parteipolitischen Konfliktlinien in der Türkei wider.

Transnationale Kämpfe – Transnationale Wahlen

Das zeigten die Ereignisse um die letzten türkischen Parlamentswahlen im Juni sowie die Neuwahlen im November 2015. Auch in Österreich und Deutschland konnte die AKP bei türkeistämmigen WählerInnen die meisten Stimmen verbuchen. Insgesamt haben knapp 2,9 Millionen MigrantInnen ihre Stimmen bei den Parlamentswahlen abgegeben, während knapp die Hälfte davon in Deutschland lebt. Laut der Nachrichtenagentur Anadolu stimmten knapp 70 Prozent der türkeistämmigen WählerInnen für die AKP, während die prokurdische HDP 12,7 Prozent der Stimmen bekam, dicht gefolgt von der kemalistischen Republikanischen Volkspartei (Cumhuriyet Halk Partisi, CHP) mit 9,8 Prozent und der rechtsextremen Partei der Nationalistischen Bewegung (Milliyetçi Hareket Partisi, MHP) mit 6,6 Prozent. Zudem war die Wahlbeteiligung der türkeistämmigen WählerInnen im November höher als in den Juni-Wahlen. Laut des Facebookauftritts der AKP Österreich, „Zentrale für Wahlkoordination“ (Secim Koordinasyon Merkezi, SKM), lag die Wahlbeteiligung bei den wahlberechtigten MigrantInnen bei 45 Prozent. Wie sich die offene politische Polarisierung Recep Tayyip Erdoğans sowie der AKP-Regierung auf die türkeistämmigen MigrantInnen in Österreich auswirkte, wird in ihren Wahlkampagnen und politischen Aktivitäten im Zuge der Parlamentswahlen deutlich. Der Wahlkampf in der Türkei war mit Gewalttaten, tödlichen Attentaten und Ausschreitungen gegen HDP-AnhängerInnen, KurdInnen, DemokratInnen und Linke überschattet. Gegen diese Ereignisse protestierten und demonstrierten regelmäßig viele linke und kurdische MigrantInnenorganisationen in Österreich. Der Ableger der HDP in Österreich (HDP Avusturya) organisierte Demonstrationen, um die Attentate zu skandalisieren, so auch nach dem Anschlag am 10. Oktober 2015 in Ankara. Darüber hinaus warb die HDP auf ihren Internetseiten sowie in den türkeistämmigen Communities mit diversen Aufrufen und mobilisierte am Wahltag zu einem internationalen Tag für die syrisch-kurdische Stadt Kobanê, bei der eine Lichterkette um das Parlament in Wien gebildet wurde. Die Stadt Kobanê, die monatelang unter Belagerung und Beschuss durch den sogenannten Islamischen Staat (IS) stand, wurde zum Symbol des Widerstands für KurdInnen.

Vernetzung türkeistämmiger DemokratInnen

Mit der Gründung der Plattform Demokratische Kräfte (Demokratik Güç Birliği) erreichte die Vernetzung demokratischer und linker türkeistämmiger MigrantInnen Anfang 2015 einen neuen Höhepunkt. Organisationen wie die Alevitische Föderation der Alevitengemeinden (Avusturya Alevi Birlikleri Federasyonu, AABF), die Föderation der ArbeiterInnen und StudentInnen aus der Türkei in Österreich (Avusturya Türkiyeli İşçi-Gençlik Federasyonu, ATİGF), der Verband der Kurdischen Vereine Österreich (Avusturya Kürt Dernekleri Federasyonu, FEYKOM), der Verein der migrantischen ArbeiterInnen in Österreich (Avusturya Göçmen İşçiler Derneği, AGİD), die Föderation der Demokratischen Arbeitervereine (Demokratik İşçi Dernekleri Federasyonu, DİDF), das Alevitsche Kulturzentrum in Österreich (Avusturya Alevi Kültür Merkezi, AKÖ) sowie die Arbeiterkammer-Fraktion Komintern und der Natur- und Kulturverein Dersim (Dersim Derneği) schlossen sich hier zusammen. Diese Plattform ist eine historisch beispiellose Allianz von diversen Organisationen, die aktiv für die Wahl der HDP mobilisiert haben. Sie stellt sich gegen Rassismus und Diskriminierung und fordert eine demokratische Lösung der sogenannten „Kurdenfrage“, sowie die Anerkennung der Cem-Gebetshäuser der AlevitInnen als Glaubenstätten. Zudem wendet sie sich gegen neoliberale Gewerkschaftsgesetze und tritt für Rechtsgleichheit aller Bevölkerungsgruppen in der Türkei ein.

AKP-Aktivitäten in Österreich

Jedoch sind auch nationalistisch-konservative Kräfte in der Diaspora aktiv. Die AKP Österreich mobilisierte ihre türkeistämmigen Anhänger­In­nen über Facebookauftritte und rief zum Anlass des Wahlsiegs der AKP zu Dankesgebeten auf. Viele feierten den Wahlsieg der AKP in verschiedenen Städten Österreichs. Nachdem die Ergebnisse der Wahl bekannt wurden, fuhren AKP-AnhängerInnen euphorisch in zahlreichen Autokonvois durch Wien und feierten auf der Ringstraße, schwenkten türkische Fahnen und stimmten Schlachtgesänge an. Auch die AKP war im Vorfeld der Wahlen stark in die Mobilisierung von WählerInnen in Österreich eingespannt. Es wurden unter anderem von Seiten des österreichischen Ablegers der AKP, SKM, mehrere Busse organisiert, die WählerInnen quer durch Österreich zu den Botschaften beförderten, wo diese ihre Stimmen abgeben sollten. Erdoğan hatte zuvor die „Einheit des türkischen Volkes und der Nation, der islamischen Gemeinschaft und aller MuslimInnen“ bekräftigt: „Die türkische Fahne wird nicht fallen, der Gebetsruf wird nicht verstummen und das Land wird nicht geteilt.“ Dabei galt dieser Aufruf nicht nur den Menschen in der Türkei, auch die Diaspora war angesprochen.

Nicht nur in der Türkei eine „Schicksalswahl“

Noch nie gab es in der türkeistämmigen Migrationsgeschichte solch einen starken, offenen und explizit ausgetragenen transnationalen Wahlkampf und transnationale Wahlkampagnen. Neben den direkten Bezugnahmen der türkischen Regierung oder Oppositionellen auf MigrantInnen in Europa – „transnationalism from above“ – waren insbesondere die zahlreichen MigrantInnenorganisationen an diesem Wahlkampf im Ausland beteiligt. Dies zeigt, dass ethnische, religiöse, parteipolitische Konfliktlinien durch Migrationsprozesse übertragen werden, in der Diaspora aber durchaus unabhängige Gestalt und Dynamik annehmen können. Zwar gab es in Wien einen Angriff auf die Räumlichkeiten des kurdischen Dachverbandes FEYKOM – es wurden Fensterscheiben der Vereinsräumlichkeiten eingeschlagen – dennoch sind die Auseinandersetzungen in Österreich nicht mit den gewaltsamen Manifestationen des Konflikts in Deutschland vergleichbar: Im Herbst griffen türkische Nationalisten und Rechte mehrmals kurdische Einrichtungen und Personen an, in Hannover wurde dabei eine Person schwer verletzt und in Berlin kam es in den migrantisch geprägten Stadtteilen zu zahlreichen handgreiflichen Auseinandersetzungen. Dass diese Wahl nicht nur von der AKP, sondern auch seitens der HDP als „Schicksalswahl“ präsentiert wurde, war auch über den deutschsprachigen Raum hinaus in ganz Europa spürbar.

(1) Die Bezeichnung „türkeistämmig“ bezieht sich nicht auf die ethnische oder religiöse Identität, sondern auf den Umstand, dass gemeinte Personen aus dem Gebiet der heutigen türkischen Republik emigriert sind.

online seit 07.12.2015 12:49:48 (Printausgabe 73)
autorIn und feedback : Alev Çakır




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