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Psychopharmaka absetzen Psychiatrie und „Recovery“ aus Perspektive der Betroffenenbewegung Recovery ist ein neues Schlagwort des psychosozialen Bereichs, das sowohl psychiatriekritische als auch psychiatrische Kreise vermehrt einsetzen. Ende März findet zum Thema der „1. Internationale Psychiatriekongress für Recovery und Gesundheit“ in Bern statt, bei dem auch Peter Lehmann referiert – ausgehend davon sprach MALMOE mit dem Autor, Verleger des Antipsychiatrieverlags und Vertreter der humanistischen Antipsychiatrie. MALMOE: Was versteht man unter Recovery und was ist neu daran? Peter Lehmann: Recovery bedeutet zu Deutsch Erholung, Besserung, Genesung oder Gesundung – allen Verwendungstypen des Begriffs ist die positive Konnotation Hoffnung gemeinsam. Früher war eine psychiatrische Diagnose immer verbunden mit Hoffnungslosigkeit. Aber man muss aufpassen, wer und mit welchem Hintergrund hier definiert. Das Mainstream- Verständnis von Recovery orientiert sich nur an Krankheitseinsichtigen, die sagen, „dank psychiatrischer Hilfe haben wir uns erholt“. Aber an sich geht es der Mainstream- Psychiatrie nicht um Gesundung: Durch eine behauptete anlagebedingte Störung sei der Mensch lebenslang vulnerabel und immer davon bedroht, dass die diagnostizierte Krankheit zurückkommt. Deshalb soll sie/er dauerhaft Psychopharmaka schlucken. Das ist eine einseitige Sichtweise und blendet alle abweichenden Erfahrungen aus. Für Sie ist also kein Haltungswechsel in der psychiatrischen Landschaft zu erkennen? Wie gesagt, es gibt die Tendenz, zuzugeben, dass es Hoffnung gibt. Die Betroffenen haben sich ja längst organisiert und haben eigene Zeitschriften und Verlage, Rundfunksendungen – es ist unübersehbar, dass viele problemlos im Leben zurechtkommen. Aber gleichzeitig werden ihre grundlegenden Einsichten und Erfahrungen – Gesundung abseits von Psychopharmaka oder nach deren Absetzen – weiterhin ignoriert. Zumindest versucht man dies. Dabei kann man Berichte über erfolgreiches Absetzen von Psychopharmaka und nachfolgendes Gesunden z. B. in meinem Buch „Psychopharmaka absetzen“ leicht nachlesen. Man muss davon ausgehen, dass es bei psychischen Problemen meist um Probleme des Individuums in der Gesellschaft geht, um Kommunikations- und Beziehungsprobleme, da ist die Psychiatrie als naturwissenschaftliche Disziplin fehl am Platz. Sie kann vom Ansatz her keine konfliktlösende Hilfe bieten. Und ihre Maßnahmen beinhalten dann immer auch die Tendenz zur gewaltsamen Durchsetzung. Sie sind nicht auf die eigentlichen Probleme der Menschen ausgerichtet, sondern darauf, Symptome wegzudämpfen. Wie sieht ein aus der Psychiatriebetroffenen- Bewegung heraus formulierter Ansatz von Recovery aus? Viele – natürlich nicht alle – Ansätze haben ihren Fokus darauf, dass Menschen ihren Problemen die Bedeutung selbst zuordnen und Entscheidungen treffen können – also ein wachsendes Bewusstsein für die eigene Macht entwickeln statt vorgefertigte Lösungswege präsentiert zu bekommen. Dieses an sich selbst Erfahren, sich selbst zu Ermächtigen ist zentral – eben nicht in Krisenzuständen das Recht auf eigene Entscheidung abgesprochen zu bekommen; und sich anzusehen, was überhaupt erst ohne Psychopharmaka an Verarbeitungsmöglichkeiten da ist. Für viele es außerdem wichtig, das entwertende Krankheitsverständnis abzulegen, zu verstehen, was zum Zustandekommen von Krisen beigetragen hat, und nun mit offenen Augen ihrer Situation ins Auge zu blicken. Psychopharmaka also auch nicht als Stabilisierung und kurzfristige Krisenintervention? Natürlich ist das die Entscheidung der Betroffenen, und manche Psychiatriebetroffenen machen das, wenn sie in einer so katastrophalen Situation sind, dass sie sich mit Psychopharmaka ruhig stellen. Es wäre aber sinnvoll, dass die Betroffenen sich auf eine solche Behandlung nur unter einer informierten Zustimmung einlassen – abgesehen davon, dass diese eigentlich rechtlich vorgeschrieben ist. Was ist Ihre Kritik an Antidepressiva und Neuroleptika? Antidepressiva erhöhen die Konzentration von Seratonin oder Noradrenalin im Nervensystem, was dazu führen soll, dass Menschen ihren Depressionen gegenüber gleichgültig werden. Mittel- und langfristig hat sich gezeigt, dass der Körper sich auf diese biochemische Manipulation einstellt und die Rezeptoren unempfindlicher werden. Diese sogenannte Down-Regulation führt dazu, dass Menschen chronisch depressiv werden können. Neuroleptika wiederum reduzieren und blockieren spezielle Transmitter, vor allem Dopamin – dies führt zur gewünschten Apathisierung der Persönlichkeit. In Wien ist der rechtliche Rahmen zur Zwangsunterbringung sehr eng. Im Bereich Tätige beschweren sich über mangelnde Eingriffsmöglichkeiten – z. B. bei stark verwahrlosten Menschen. Was sagen Sie dazu? Es ist verlockend, mit psychopharmakologischen Mitteln alle ungelösten gesellschaftlichen Probleme – Obdachlosigkeit, Verwahrlosung, Unlust bei Arbeitslosigkeit, Aufsässigkeit bei Strafgefangenen – lösen zu wollen. Aber es gibt nun mal die Menschenrechte und die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen; danach haben auch Menschen mit psychiatrischen Diagnosen das Recht auf Selbstbestimmung. Leider tun sich viele Leute, die in dem Bereich arbeiten, schwer, das anzuerkennen. Zwangsweise Hilfe ist aller Regel nach Unterdrückung und schafft weitere Konflikte. Ich kann Leuten nur raten, sich angesichts drohender Behandlungen mit Vorausverfügungen zu schützen. Die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen ist 2008 in Kraft getreten und wurde von 100 Staaten, u. a. auch von Deutschland und Österreich ratifiziert. Was für Konsequenzen wird sie haben? Die Konvention wurde lange diskutiert, mit dabei waren Vertreter des Europäischen Netzwerks von Psychiatriebetroffenen, des Weltnetzwerks und von MindFreedom International. Die haben dort das Prinzip der unterstützten Entscheidungsfindung durchgesetzt. Das heißt, dass Menschen – anstatt besachwaltet zu sein – das Recht haben, selbst zu bestimmen. In Krisen sollen dann vorbestimmte Helfer und Helferinnen ihre Vorausverfügungen durchsetzen. Das ist ein Erfolg. Die UN-Konvention ist aber erstmal nur ein Papier. Aus Deutschland weiß ich, dass es bei der Umsetzung große Probleme gibt. Die Konvention ist völlig entstellt übersetzt worden und im Gremium, das Vorschläge zur Umsetzung machen soll, sind Psychiatriebetroffene nur ein kleiner Teil in der Gruppe der aktiven Behinderten. Da ist es schwer, sich durchzusetzen. In Österreich schaut es mit der Organisierung traurig aus, soweit ich weiß. Vielleicht sollten interessierte Einzelpersonen Vertreter des Europäischen Netzwerks zu einer Veranstaltung einladen, um zu schauen, ob man nicht wieder eine Organisation gründen kann. Wie ist das mit dem Behinderungsbegriff? Tut man sich da nicht auch schwer? Man tut sich schwer, man möchte nicht gerne als behindert gelten. In dem Fall, wo man quasi ins Boot der Behindertenbewegung steigt, wo es um gleiche Rechte geht, geht das aber. Ohne körperliche Unversehrtheit nützt die ganze Würde nichts. Gibt es noch andere Schauplätze, wo die Betroffenenbewegung aktiv ist? Das Europäische Netzwerk für Psychiatriebetroffene macht viele Aktionen, Demonstrationen, speziell in Südwesteuropa, mit dem Slogan „Wir sind verrückt und stolz“, um gegen das Stereotyp der verblödeten, gemeingefährlichen Irren anzugehen. Sonst gibt es natürlich viele aktive Einzelpersonen und Gruppierungen. Es gibt zum Beispiel die Soteria-Bewegung in England und Deutschland, die gemeinsam mit gutwilligen Profis ein Reformsystem durchsetzen will, das ohne Psychopharmaka arbeitet, ohne Gewalt, ohne Krankheitsbegriff, mit einem gemischten Team, wo auch Nicht-Profis drin sind. In Deutschland gibt es mit dem Berliner Weglaufhaus eine antipsychiatrische Kriseneinrichtung. Aus Finnland kommt das Modell der „bedürfnisangepassten Behandlung“. Das heißt, ein gemischtes Team kommt zu den Familien und redet mit ihnen und sieht, welche Hilfen nötig und vor allem erwünscht sind – Psychopharmaka kommen vergleichsweise zurückhaltend zum Einsatz. In längeren Studien hat sich gezeigt, dass dadurch die Psychopharmakagabe und die Zwangsunterbringungen drastisch reduziert wurden. Dann gibt es – auch in Wien – das Windhorse- Projekt, gegründet von dem buddhistischen Psychiater Edward Podvoll, da geht es um das Mit-Sein mit Menschen; darum, Inseln der Klarheit zu finden, wo man entrückten Menschen wieder Kontaktmöglichkeiten zum Zurückkommen bietet, um Meditation und Reflexion, um sich aus psychischen Notsituationen wieder zu lösen. Es gibt in aller Welt Einrichtungen, in denen Betroffene mehr oder weniger eingebunden sind, sie sind aber relativ klein und haben damit wenig Möglichkeit, gegen die massive Macht der Pharmaindustrie und von ihr dominierten Psychiatrie etwas auszurichten. All diese Projekte sind organisiert im Internationalen Netzwerk für Alternativen und Recovery. Der Kopf und Motor dieses Netzwerks ist übrigens der aus Wien stammende Psychiater Peter Stastny; mit ihm gemeinsam habe ich das Buch „Statt Psychiatrie 2“ herausgegeben, in dem all die genannten Alternativprojekte beschrieben sind. online seit 08.05.2012 11:43:42 (Printausgabe 58) autorIn und feedback : Paula Pfoser Links zum Artikel:
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