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Schulversuch Gemeindepsychiatrie Wien bastelt an seiner psychiatrischen Versorgung Wer ist ab wann psychisch krank und wie ist mit dieser Krankheit, also dem psychischen Leid und/oder devianten Verhalten, umzugehen? Die Psychiatrie verhandelt immer noch die gleichen Fragen, die Praxis hat sich aber in den letzten ca. 30 Jahren stark verändert: Bis Ende der 1970er Jahre bestand Österreichs psychiatrische Versorgung primär aus repressiv agierenden, therapeutisch fragwürdigen und völlig überbelegten Anstalten; ihre gesellschaftliche Aufgabe war vor allem der Ausschluss und die langjährige Verwahrung von sich auffällig verhaltenden Personen – Franco Basaglias formulierte Kritik der Psychiatrie als eine Institution der Gewalt war nicht von der Hand zu weisen. International waren Reformen längst im Gange, als sich in Österreich erstmals mediales Interesse und eine psychiatriekritische Öffentlichkeit formierte – u. a. mit Protesten, Demonstrationen und zwei öffentlichkeitswirksamen Club 2-Sendungen. Schließlich kam es auch hierzulande zu Reformmaßnahmen: Die Großkliniken wurden sukzessive geöffnet und verkleinert und Konzepte der komplementären psychosozialen Versorgung entwickelt. Das neue Programm hieß bzw. heißt Gemeindepsychiatrie und steht für einen grundlegenden Wandel des Umgangs mit psychisch auffälligen/kranken Menschen: eine Psychiatrie, die nicht in erster Linie verwahrt, sondern im Lebenskontext interveniert, soziale Faktoren berücksichtigt und multiprofessionell und dialogisch handelt. In den Bundesländern verliefen die Veränderungen durchwegs unterschiedlich; Wien wurde für die 1979 beschlossene Reform und den „raschen und einheitlichen Ausbau“ immer wieder gelobt: Die beiden dezentralen Krankenanstalten der Stadt, Baumgartner Höhe und Ybbs (100km von Wien entfernt), wurden systematisch verkleinert – statt der damals über 3.800 psychiatrischen Betten hat Wien die Zahl auf heute etwa 600 reduziert. Zudem wurde mit dem PSD (Psychosoziale Dienste Wien) eine Institution geschaffen, die die neu entstehende, ambulante Versorgung organisieren und prägen sollte. Andere Vereine wie LOK, pro mente und GIN wurden für die Wohn- und Arbeitsbetreuung gegründet. Das ist nun rund 30 Jahre her, und seitdem ist es um die Psychiatrie still geworden. Das breite Interesse nicht nur der Öffentlichkeit, sondern auch der in der Sache sehr engagierten linksautonomen Szene ist verschwunden – gemeinsam mit dem auf Ausgrenzung, Stigmatisierung und Verwahrung basierenden anstaltspsychiatrischen Paradigma. Dabei sind längst nicht alle Reformpläne und -utopien realisiert bzw. Probleme gelöst. Daran ändert auch das viel gelobte Unterbringungsgesetz aus dem Jahr 1991 nichts Grundsätzliches, das die Zwangsunterbringung in psychiatrischen Krankenanstalten an die Bedingung der Selbst- oder Fremdgefährdung knüpft. It’s medication time! Kritik an den herrschenden Zuständen in der Psychiatrie gibt es von verschiedenen Seiten – von Wissenschaftler_innen, Aktivist_innen und psychiatrisch Tätigen. Wo jedoch genau das Problem liegt, darüber gibt es unterschiedliche Meinungen. Die Kritik lässt sich an drei Punkten festmachen: Zum ersten hat die psychiatrische Versorgung weiterhin die Funktion gesellschaftlicher Kontrolle. Für poststrukturalistisch orientierte Theoretiker_innen ist die aktuelle Praxis ein Paradebeispiel der Transformation sozialer Kontrolle – statt repressiver Machttechnologien gäbe es nun kooperative Technologien. Vertreter_innen der Betroffenenbewegung sehen das anders – für sie ist Psychiatrie nach wie vor eine offen repressiv agierende Institution: Im Unterschied zu früher werde gesellschaftliche Ordnung vor allem durch vermehrten Psychopharmaka- Einsatz hergestellt. Zweitens sind mit der Gemeindepsychiatrie Behandlungs- und Betreuungslücken und Unübersichtlichkeit entstanden. Und drittens wird von vielen – eben auch von der Betroffenenbewegung – die medizinische Dominanz in der Psychiatrie kritisiert: Zwar wurden Institutionen abseits der Krankenhäuser geschaffen, der Anteil des nicht-medizinischen Personals erhöht und das biologische Krankheitsmodell um psychische und soziale Faktoren erweitert, letztlich hat sich aber die unter Kritik geratene, medizinisch ausgerichtete Psychiatrie durch die Reform neu legitimiert: Psychopharmaka gelten als das heilsversprechende Therapeutikum und die Ärzt_innenschaft als die Berufsgruppe mit der höchsten Kompetenz für das Metièr. Trotz (theoretischer) Erweiterung des Krankheitsmodells werden Komponenten psychischer Krankheit jenseits der Neurotransmitterstörung und genetischen Disposition weiterhin marginalisiert. So z. B. in einem kürzlich erschienenen Artikel im Wochenmagazin Profil (02/12): Problemlagen in Familie, traumatische Erlebnisse und gesellschaftliche Komponenten werden als potenzielle Ursachen psychischer Erkrankungen bzw. Krisen schlichtweg ausgeblendet. Und Psychotherapien sind weiterhin tendenziell kostenintensiv, weil der Gesamtvertrag mit den Krankenkassen fehlt. Entsprechend medizinisch ist auch die Behandlung akuter Krisen ausgerichtet: Letztlich findet sie nur in psychiatrischen Krankenhäusern statt. Seit der Reform von 1979 ist das Krankenhaus als Kurzzeiteinrichtung konzipiert, die Behandlung beschränkt sich meist auf wenige Tage oder Wochen und ist vor allem auf Psychopharmakagabe fokussiert. Den Folgeschluss Krise = Spital kritisieren unter anderem viele Ex-Patient_innen, z. B. Christoph Fally, der Herausgeber der Betroffenen- Zeitung „Spring ins Feld“: „Das Krankenhaus ist ein sonderbarer Ort, das Pflegepersonal benimmt sich sonderbar, die Patienten und Patientinnen sowieso, das ist gerade bei Sensibilität nicht zuträglich“. Nichtmedizinische Kriseneinrichtungen bzw. -betreuungen gibt es keine und sind derzeit nicht angedacht – sieht man von dem kleinen Verein Windhorse ab, der auf privater Basis ohne Psychopharmaka begleitet. Die stärker therapeutisch ausgerichteten Psychosomatischen Kliniken sind bei Wartezeiten von bis zu einem halben Jahr nicht gerade für akute Krisen geeignet. Dazu kommt, dass es innerhalb der psychiatrischen Krankenhäuser (und gerade im kinder- und jugendpsychiatrischen Bereich) derzeit an Betten mangelt, weswegen immer wieder Patient_innen gegen ihren Willen entlassen bzw. gar nicht erst aufgenommen werden – so auch das Fazit des Untersuchungsausschuss zur Psychiatrie von 2009. Reform der Reform? Seit Kurzem gibt es jedoch Bewegung: Noch dieses Jahr sollen zwei neue Stationen zur stationären Betreuung geschaffen werden. Und auch im ambulanten Bereich fanden innerhalb der letzten eineinhalb bis zwei Jahre einige Veränderungen statt. „Der PSD war stolz auf die rasche Sektorisierung und Ambulanzbildung, und dabei haben sie es dann belassen“, schildert die am AKH tätige Psychiaterin Dr. Michaela Amering die Situation nach der Psychiatriereform. Die Institution war insgesamt „undurchsichtig“ in Bezug auf Grenzen der Zuständigkeit und Angebotslage, insbesondere auch im Wohnbereich und im Hinblick auf aufsuchende Hilfen sowie Schnittstellen und Kooperationen. Sie bestand weiters aus etlichen Kleinststellen, diese wurden nun in zehn Ambulatorien zusammengelegt bzw. aufgelassen und personell wie strukturell aneinander angeglichen. Darüber hinaus kooperiert der neue PSD endlich mit anderen psychosozialen Institutionen – alte Feindschaften bzw. Konkurrenzen zwischen PSD, Krankenhäusern und anderen Vereinen sind, so scheint es, begraben. Man bemüht sich beispielsweise um die Nachbetreuung von Patient_innen, die früher oft einfach aus der psychiatrischen Station in die Obdachlosigkeit entlassen worden waren. Seit einigen Jahren kooperiert der PSD außerdem mit der Wohnungslosenhilfe, es gibt inzwischen 30 Einrichtungen mit Konsillarpsychiatrischem Dienst, sprich: einer_m Psychiater_ in, der_die stundenweise in die Institution kommt. Das Angebot ist freiwillig, sowohl Klient_innen als auch Mitarbeiter_innen der Einrichtungen werden beraten. Während diese Veränderungen durchaus zu begrüßen sind (sieht man von der Problematik der Ausdehnung des psychiatrischen Einflussbereichs ab), lassen große Veränderungen auf sich warten. Die Neustrukturierung des PSD lässt sich wiederum eher als eine effizientere und übersichtlichere Gestaltung des schon Vorhandenen ausmachen als eine Reform der Reform. Die medizinische Dominanz bleibt nach wie vor unangetastet. Ambulante Betreuung und Sozialraumkultivierung Internationale Vorbilder gäbe es ja: Bewährt hat sich etwa in Großbritannien das Modell des „Home treatments“, der Krisenbetreuung zu Hause, die bis zu zweimal am Tag Menschen in Krisen aufsucht. Der Ausbau dieser sogenannten nachgehenden Arbeit während bzw. abseits akuter Krisen wird von Expert_ innen auch regelmäßig eingefordert. Einen anderen Ansatz gibt es außerdem in der Sozialraumkultivierung, die bislang vor allem in der Jugendbetreuung und in Deutschland zum Teil auch im psychiatrischen Bereich auftaucht. Das Schlagwort Sozialraumkultivierung steht für im Grätzel angesiedelte Räume, die niederschwellig zugänglich sind und die Nachbar_innenschaft mit einbinden. Denn ganz egal wie man sich zu Psychopharmaka positioniert – viele Klient_innen der ambulanten Psychiatrie suchen in erster Linie das Gespräch und regelmäßigen Kontakt. Das könnte besser und auch billiger in anderen, wohnzimmerartigen Räumen stattfinden als in den Ambulatorien des PSD. Solche Reformideen scheitern aber letztlich daran, dass Entscheidungsträger_innen eher Bestehendes statt neue Modelle fördern und Mediziner_ innen ihre Macht nicht beschneiden wollen. Neben Strukturreformen fehlt auch eine klare, konzeptuelle Ausrichtung der gemeindepsychiatrischen Praxis: Zum einen liegt das an der psychiatrischen Doppelfunktion von Hilfe und Kontrolle, zum anderen ist mensch sich uneinig, wo die Hilfe- und wo die Kontrollfunktion der Psychiatrie beginnt: Wer ist entscheidungsfähig und wer nicht? Wie weit darf deviant gelebt und risikoreich entschieden werden, und ab wann sind Menschen vor sich selbst zu schützen? Im psychiatrischen Bereich Tätige tun sich in Sachen Selbstbestimmung oft schwer und setzen eher auf Stabilisierung, anstatt Risiken einzugehen, die für Veränderung/Gesundung notwendig wären. Für einen solchen risikofreudigeren Ansatz soll nun „Recovery“ sorgen. Recovery heißt für Professionist_innen unter anderem, die Gesundheit und Loslösung von Hilfesystemen zu unterstützen und Patient_innen Wahlmöglichkeiten zur Verfügung zu stellen. Der Psychiater Heinz Katschnig schreibt schon von „einer neue Wende“ in der Psychiatrie – gesundheitspolitische Verankerung von Recovery gibt es aber keine, Vertreter_innen der Betroffenenbewegung wie Peter Lehmann bezweifeln außerdem die Reichweite des Konzepts (siehe Interview). Für eine Reform der Reform bräuchte es – neben einer größeren Anzahl engagierter Professioneller – eine stärker organisierte Betroffenenbewegung, die ihre Interessen vertritt; bislang gibt es in Wien bzw. Österreich nur wenige, kaum vernetzte Initiativen. Zudem wäre ein erneuter Untersuchungsausschuss vonnöten, der nicht nur die psychiatrischen Krankenhäuser, sondern auch den ambulanten Bereich in den Blick nimmt und der auch Nutzer_innen und Angehörige mit einbindet – und dann entsprechend handelt. online seit 21.03.2012 10:38:25 (Printausgabe 58) autorIn und feedback : Paula Pfoser Links zum Artikel:
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