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  Wege nach Ravensbrück

Sylvia Köchls Studie thematisiert die Geschichte/n von bis heute nicht im Opferfürsorgegesetz berücksichtigten KZ-Häftlingen

Sylvia Köchl, Politikwissenschafterin, Journalistin und Aktivistin der Österreichischen Lagergemeinschaft Ravensbrück und FreundInnen, widmet sich in ihrem Buch einer sowohl in der NS-Forschung als auch in Erinnerungspolitiken marginalisierten KZ-Häftlingsgruppe. Als so genannte „Berufsverbrecher_innen“ konnten zur NS-Zeit vorbestrafte Personen klassifiziert und im Sinne einer „vorbeugenden Verbrechensbekämpfung“ auch in Konzentrationslager interniert werden. Die Gründe reichten von Abtreibung über Eigentumsdelikte und Brandstiftung bis zu Kindsmord.

Mit dem Titel „Das Bedürfnis nach gerechter Sühne“ zitiert Sylvia Köchl die Anklageschrift gegen die Linzerin Rosina Schmidinger aus dem Jahr 1943, die als Abtreiberin angeklagt wurde und – so die Forderung des Leiters der Anklagebehörde des Sondergerichts Linz – zum Tod verurteilt werden sollte. Dort wird ihre Bestrafung mit dem „Schutz der Volksgemeinschaft und [dem] Bedürfnis nach gerechter Sühne“ begründet.

Die Autorin begann sich in den späten 1990er-Jahren – im Zuge der Vorbereitungen zu der von ihr mitentwickelten Ausstellung „wege nach ravensbrück – Erinnerungen von österreichischen Überlebenden des Frauen-Konzentrationslagers“ – für die Biographien so genannter „Berufsverbrecherinnen“, die in das Konzentrationslager Ravensbrück verbracht worden waren, zu interessieren. Bei ihren jahrelangen Recherchen stieß Köchl vor allem auf Leerstellen: So existier(t)en, wie sie mehrfach betonte, keinerlei Selbstzeugnisse. Darüber hinaus hatten die zahlreichen Stereotype und Vorurteile über die Grünen-Winkel-Häftlinge – mit einem grünen Winkel wurden „Berufsverbrecher_innen“ in Konzentrationslagern markiert – auch bei anderen Opfergruppen zu Schweigen oder starken Abgrenzungen geführt. Insbesondere bei den sich nach 1945 stark organisierenden „politischen“ Häftlingen wurde, wie Köchl nachvollziehbar darstellt, versucht, nicht mit ehemaligen Grünen-Winkel-Häftlingen in Verbindung gebracht zu werden: „Tatsächlich hatte sich außerhalb der Lager […] ein Diskurs entwickelt, der noch lange nach der Befreiung weiterwirken sollte: dass nämlich alle KZ-Häftlinge ‚VerbrecherInnen‘ seien. In den Erzählungen der politischen Häftlinge bewirkte dieser Diskurs fast zwangsläufig Beschreibungen von ‚BerufsverbrecherInnen‘, die die größtmögliche Abgrenzung von dieser Häftlingsgruppe zum Ziel hatte.“ (S. 35) Auch hält Köchl fest, dass Angehörige der Gruppe bis heute nicht offiziell als Opfer anerkannt und entschädigt wurden. In dieser Hinsicht lassen sich deutliche Parallelen zu als „asozial“ stigmatisierten KZ-Häftlingen finden, die ähnlichen Mechanismen der Tabuisierung und Abgrenzung seitens anderer Opfergruppen in der deutschen und österreichischen Nachkriegsgesellschaft ausgesetzt waren und erst 2005 in das Opferfürsorgegesetz aufgenommen wurden. Beide Gruppen organisierten sich nach dem Zusammenbruch des NS nicht in Opferverbänden, ihre „Vergehen“ galten auch über die NS-Zeit hinaus als strafwürdig oder moralisch verwerflich (bis in die 1980er-Jahre hinein gilt dieser Befund darüber hinaus auch für als homosexuell verfolgte Personen).

Lebensgeschichten

Bewusst entschied sich Sylvia Köchl für die Darstellung der Geschichte dieser Gruppe anhand konkreter Lebensgeschichten: Zum einen, weil über die Biographien einzelner Akteurinnen ein niederschwelliger Zugang zu diesem Teil der NS-Geschichte möglich sei und bestimmten existierenden Vorurteilen dieser Gruppe gegenüber mit konkreten Lebensgeschichten leichter entgegenzutreten sei. Zum anderen, weil für Österreich gerade eine strukturelle geschichtliche Darstellung fehle, auf die hätte aufgebaut werden können.

Die Biographien von acht Frauen waren nach der komplizierten Archivrecherche – so sind etwa die Haftbücher aus den Jahren 1938 bis 1945 nur in knapp der Hälfte der Bundespolizeidirektionen überhaupt aufbewahrt worden – ausreichend beleg- und rekonstruierbar. Dass es sich bei den acht Frauen um drei mehrfach vorbestrafte Diebinnen aus der Steiermark und Tirol und um fünf mehrfach vorbestrafte Abtreiberinnen aus Oberösterreich handelt, weist, wie die Autorin betont, auf die unterschiedlichen Archivsituationen, nicht aber auf eine regional unterschiedliche Intensität der „vorbeugenden Verbrechensbekämpfung“ hin. Dass der Autorin nur Strafgerichtsakten als Quellen zur Verfügung standen und, wie erwähnt, jegliche Egodokumente der betroffenen Frauen fehlen, reflektiert Köchl kritisch und antwortet darauf mit einer gelungenen Quellenkritik.

Anerkennung aller KZ-Häftlinge

Besonders ansprechend ist der Aufbau des Buches: In einem ersten, ausführlichen Kapitel wird erläutert, wie Sylvia Köchl – auch biographisch als Studentin und Forscherin – zur Frage der so genannten „Berufsverbrecherinnen“ gekommen ist. Im zweiten Teil werden verschiedene Kontexte angesprochen, die historische Einordnungen erleichtern: etwa zu Mechanismen des Strafvollzugs im Nationalsozialismus, der Unterbringung von Frauen in Gefängnissen oder dem Straftatbestand der Abtreibung und seiner Verfolgung durch NS-Behörden. Der dritte Teil erläutert die Vorgeschichten der acht „Berufsverbrecherinnen“, der vierte widmet sich der Internierung der Frauen in das KZ Ravensbrück, aber auch generell der Häftlingsgruppe „mit dem grünen Winkel“. Der fünfte Teil folgt der Nachgeschichte der KZ-Haft jener vier Frauen, die diese überlebt haben. Im letzten Teil fokussiert Köchl schließlich auf die Frage der bis heute fehlenden Berücksichtigung der Opfergruppe im österreichischen Opferfürsorgegesetz. Das Buch endet mit einem Plädoyer für die Anerkennung aller ehemaligen KZ-Häftlinge als Opfer des NS. Wenn die meisten selbst betroffenen Personen auch schon verstorben seien, wäre es – so Köchl – vor allem ein Signal an die Nachkommen der Opfer.

Sylvia Köchl ist ein gut lesbares, auch für ‚Einsteiger_innen‘ in das Thema Nationalsozialismus bzw. Häftlingsgruppen geeignetes Buch gelungen, das aber gerade auch für Forschende in diesem Feld eine wichtige Lücke schließt und zugleich – über die Auseinandersetzung mit der Häftlingsgruppe der „Berufsverbrecherinnen“ – einen genauen Blick auf die Kriminalitäts- und Justizpolitik des NS-Regimes ermöglicht.

Darüber hinaus erzeugt das Buch gerade für außeruniversitäre und aktivistisch motivierte Forschung, die häufig unter prekären finanziellen Bedingungen stattfindet, Sichtbarkeit.

Sylvia Köchl: „Das Bedürfnis nach gerechter Sühne“. Wege von „Berufsverbrecherinnen“ in das Konzentrationslager Ravensbrück, Mandelbaum, Wien 2016


online seit 02.02.2017 15:37:18 (Printausgabe 77)
autorIn und feedback : Elisa Heinrich




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