Ein Gespräch mit Benjamin Herr über das Phänomen Plattformkapitalismus und seine Erfahrungen in der Essenszustellbranche
Benjamin Herr ist Arbeitssoziologe und forscht an der Uni Wien zum Thema Digitalisierung und Arbeit aus einer herrschaftskritischen Perspektive. Kürzlich erschien sein Buch Ausgeliefert. Fahrräder, Apps und die neue Art der Essenszustellung im ÖGB Verlag.
MALMOE: Es geht in deinem Buch um die „neue“ Form der Essenszustellung. Das Neue ist nicht, dass Essen per Fahrrad geliefert wird, sondern dass die Zustellung „plattformbasiert“ ist. Was kann man darunter verstehen?
Benjamin Herr: Plattformen sind sogenannte Intermediäre, die über das Internet, etwa mittels einer App, die Arbeitskraft und die KundInnen zusammenbringen. Das ist eigentlich ein kapitalistischer Traum. Man hat nur eine Software und regelt sich quasi von selbst, man benötigt nicht mal ein Büro. Man unterscheidet dabei ortsbasierte Plattformen, also Essenszustelldienste wie Foodora oder Transportdienste wie Uber, und ortsunabhängige Plattformen, das meint verschiedene Formen von Kreativarbeit, Software-Entwicklung oder Jobs wie die Beschlagwortung bei Amazon.
Wie verändern sich Arbeitsverhältnisse im Plattformkapitalismus?
Eine Folge ist sicherlich die Isolation. Menschen, die nur auf Plattformen arbeiten, sind voneinander getrennt. Es gibt keinen klassischen Firmen- oder Fabrikszusammenhang. Man ist auf sich allein gestellt. Daneben ist die Scheinselbstständigkeit ein zentraler Aspekt. Uber sagt zum Beispiel, die Leute, die die Autos fahren, sind selbstständige Entrepreneure. Letztlich werden aber die Preise von Uber festgesetzt. Es besteht in vielerlei Hinsicht ein klares Abhängigkeitsverhältnis zwischen dem Unternehmen und den „Selbstständigen“.
Du hast selbst bei einem Zustellservice gearbeitet und mit dem Fahrrad Essen ausgeliefert.
Eigentlich ist es eine schöne Tätigkeit, wenn man gerne Fahrrad fährt und draußen ist. Man ist zwar allein unterwegs, hat aber trotzdem sozialen Kontakt, zum Beispiel beim Warten in den Restaurants. Daneben ist es auch eine coole Herausforderung, wenn man mit dem Fahrrad die praktischsten Strecken durch die Stadt finden muss.
Eher nervig sind natürlich der geringe Lohn und die körperliche Anstrengung. Pro Stunde verdient man durchschnittlich zwischen 8 und 10 Euro, abhängig vom Trinkgeld. Ich war schon manchmal froh zu wissen, dass ich das Ganze auch als Sozialforscher mache und nicht, weil ich es wirklich brauche.
Ist es vorgekommen, dass dir von etwas schrägen Personen die Tür geöffnet wurde?
Na ja, manche machen in Unterhose oder gleich ganz nackt die Tür auf. Zwei junge Leute, die offensichtlich ziemlich eingeraucht waren, haben ziemliche Paranoia geschoben – ihre vier Packungen Ben & Jerry’s haben sie nur durch einen kleinen Türspalt entgegengenommen. Komisch ist es auch, wenn Leute sich nichts anderes als eine Dose Bier bestellen. Oder wenn sie eine Bestellung bei einem Lokal aufgeben, das direkt auf der anderen Straßenseite liegt. Aber generell ist der Kundenkontakt sehr kurz, man bekommt nicht so viel mit. Meist wird die Tür aufgemacht, das Essen übergeben, das war’s.
Was macht man eigentlich, wenn das Smartphone mal nicht funktioniert?
Das ist wirklich g’schissn. Wenn der Akku leer ist und man keine Powerbank dabei hat, muss man den sogenannten Dispatchern schreiben, dass man keine Zustellungen übernehmen kann. Dann bekommt man natürlich auch kein Geld, nicht für die Arbeitszeit, nicht für die Lieferungen.
Letztlich trägt man alle Risiken der Selbstständigkeit, ohne die Vorteile zu genießen. Egal, ob das Fahrrad, das Handy, die Mobilen Daten – ich muss das alles selbst mitbringen. Müssten die Unternehmen für das Internet oder die Fahrräder bezahlen, würden sie zusammenbrechen, weil es nicht mehr profitabel wäre.
Wurde viel gesudert unter den KollegInnen?
Ich habe oft mit Leuten geredet, denen gar nicht bewusst war, unter welchen Bedingungen sie angestellt sind. Als ich sie gefragt habe, ob sie es nicht cool fänden, trotz Krankenstand bezahlt zu werden, meinten sie: „Ah ja, stimmt, wär eh gut.“
Ich habe grundsätzlich ein bisschen Angst, dass eine Generation herangezogen wird, für die prekäre Arbeitsverhältnisse eh schon selbstverständlich sind. Auch viele meiner FreundInnen, die studieren, denken so. Ist ja auch klar, die machen zwischendurch irgendwelche lausigen Jobs, da denkt man nicht an eine gewerkschaftliche Organisierung, sondern malt sich aus, was man später mal macht.
Was würdest du einer Person empfehlen, die überlegt, in der Essenszustellbranche zu arbeiten?
Streiks organisieren und die Unternehmen einreißen (lacht). Na, wirklich! Bei diesen Jobs ist so vieles verkehrt. Im Übrigen sind sie auch ökologisch nicht nachhaltig – man fährt zwar mit dem Fahrrad, aber wenn man sieht, wie viel Plastik verbraucht wird …
Aber vor allem kommt nichts von dem, was das Unternehmen verdient, den FahrerInnen zugute. Es ist Zeit aufzuzeigen, was an diesem Geschäftsmodell alles falsch läuft. Es darf nicht angehen, dass ein Unternehmen so zu Profiten kommt. Wenn Profit gemacht wird, dann muss es sozusagen auch einen Trade-off geben. Nämlich, dass die Menschen für den Verkauf ihrer Arbeitskraft zumindest soziale Sicherheit erhalten, langfristig planen können, sich meinetwegen Identität aus der Arbeit stiften können. Tatsächlich ist es aber so, dass diese Unternehmen die Leute in prekären Arbeitsverhältnissen halten und gleichzeitig einen enormen Profit machen.
Die Dienstleister der Essenszustellbranche präsentieren sich zumeist als Start-ups. Sind sie das wirklich?
Nein, natürlich nicht. UberEats gehört zu Uber. Ist das ein Start-up? Nein, das ist ein riesiges internationales Unternehmen und hat halt hunderte Start-ups gekauft. Oder Foodora – die gehören zum gleichen Konzern, der auch Zalando besitzt. Die Unternehmen zehren eher von einer „Start-up-Ideologie“: Man stellt sich als kleiner, netter, urbaner Betrieb dar. Für solche Betriebe, bei denen man sich untereinander kennt, opfert man sich schneller mal auf.
Welche Ansätze sollten verfolgt werden, um die Bedingungen bei der plattformbasierten Arbeit zu verbessern?
Nun, gerade ortsunabhängige Plattformen haben für viele Selbstständige ja durchaus große Vorteile, beispielsweise dass GrafikdesignerInnen, egal wo in der Welt sie sind, an Aufträge kommen können. Schwierig zu sagen ist es auch bei sogenannten Microwork-Plattformen, worüber etwa die Beschlagwortung von Artikeln bei Amazon verteilt wird. Das ist eine globale Sache. Manche Leute in Niedriglohnländern beziehen dafür einen Lohn, der gemessen am dortigen Lohnniveau, relativ okay ist.
Bei ortsbasierten Plattformen gäbe es mehrere Ansätze. Zum einen den arbeitsrechtlichen Weg. Sammelklagen zum Beispiel, wo man sagt, dass die Arbeit bei Foodora eigentlich als Angestelltenverhältnis zu sehen ist und man kein klassischer Freier Dienstnehmer ist. Somit ließen sich Nachzahlungen einfordern, das 13. und 14. Monatsgehalt etwa.
Zum anderen bräuchte es eine Organisierung und strategische Überlegungen, wie man mit einer Belegschaft umgeht, die den Job vielleicht nicht als Haupterwerb, sondern nur zeitlich begrenzt macht.
Das Ziel müsste sein, dass diese Unternehmen unprofitabel werden. Derzeit funktionieren sie, weil sie von Leuten getragen werden, die viel „gratis“ beisteuern, aber keine soziale Absicherung bekommen.
Wie oft bestellst du selbst Essen?
Früher eigentlich nie, seit meine Tochter auf der Welt ist, dafür vermehrt (lacht). In manchen Lebenssituationen hat man einen Zeitnotstand, oder es ist gelegentlicher Komfort. Das zeigt halt auch, dass es ein gesellschaftliches Bedürfnis nach dem Service gibt. Die Arbeitsbedingungen sind schlecht, genauso wie bei PaketzustellerInnen oder ZeitungskolporteurInnen. Man schiebt aber meist den KonsumentInnen die moralische Verantwortung zu, doch ich finde die liegt auf der Seite der Produktion, also der Firmen, die Arbeitsprozesse strukturieren. Als KonsumentIn kann ich meine Solidarität mit den ZustellerInnen durch ein gutes Trinkgeld, sagen wir mal ab 2 Euro, zeigen.