Aufstehen und Krönchen richten – nachdem sich Diskurs und Haltung aus den Musikzeitschriften verabschiedeten, fahnden Spex, Groove & Co. nach Alternativen im Internet
Als die Popkulturzeitschrift Spex im Oktober 2018 ihr Ende als Printmagazin ankündigte, ging ein Raunen durch die deutschsprachigen Feuilleton-Spalten. Während Autor*innen in zahlreichen Nachrufen von ihrer persönlichen Liebe zum selbsternannten „Zentralorgan intelligenter Popkritik“ berichteten, schwangen in ihren Worten Demut, Nostalgie und Verzweiflung über das Aussterben deutschsprachiger Popkultur-Dinosaurier mit: Musikjournalismus sei in der Krise, der popkulturelle Diskurs erlahmt – und mit dem Printende der Spex habe man den letzten Nagel in den Sarg der eigenen Jugend gehämmert.
Dass 2018 neben der Spex auch zwei weitere Musikzeitschriften, die Groove und die Intro, aus den Kiosken verschwanden, ging im tiefen Tal der Tränen beinahe unter. Sinkende Auflagenzahlen durch zunehmend schlechtere Verkaufszahlen führten zu geringen Werbeumsätzen, die wiederum für sinkende Auflagenzahlen und schlechtere Verkaufszahlen sorgten. Weniger Kohle, weniger Inhalte, weniger Aufmerksamkeit – und so weiter. Eine Abwärtsspirale bohrte sich durch die popkulturellen Eingeweide der Zeitschriftenlandschaft und hinterließ ein Loch, in dem ehemalige Diskursgazetten verschwanden – oder ihre Arbeit wie zum Beispiel die Groove oder Spex ins vergiftete Internet verlagerten.
Mit voller Kraft voraus – in den Eisberg gecrasht
Pop habe an Relevanz verloren, meinen manche. Und selbst die Spex als unter die Räder gekommenes Diskursorgan solle nichts falsch gemacht haben, schreibt Falter-Redakteur Gerhard Stöger. Sie sei „einfach ein Opfer popkultureller Entwicklungen seit der Jahrtausendwende.“ Das stimmt – und auch nicht.
Denn das Leck im Print-Tanker reißt nicht erst seit gestern auf. Vom Umstieg auf den Online-Betrieb erhofft man sich nun eine neue Zukunft und glaubt, das klaffende Loch mit einem Abo-Modell zu stopfen. Im Netz fällt die Sache aber ebenso prekär aus. Im Februar 2019 gab VICE bekannt, weltweit über 250 Stellen abzubauen. Auch Noisey, das Online-Musikmagazin von VICE, ist davon betroffen. Die Redaktionen in Deutschland, der Schweiz und Österreich sperren zu. Wegen „Umstrukturierungen“, wie es offiziell heißt. Die eigentlichen Gründe sind dieselben, wie man sie auch zwischen den Zeilen der Erklärungen von Spex, Intro und Groove lesen kann: Der Betrieb ist schon lange nicht mehr rentabel.
Liam Gallagher vernichtete die Musikpresse
Vor über 20 Jahren war das anders. Popmagazine segelten auf einem Auflagenhoch. Musikjournalist*innen waren die ersten, die relevante Platten hören und den Diskurs darüber steuern konnten. Die Entscheidung, was als „lit“ oder „whack“ durchging, war einigen wenigen vorbehalten. Dann kam 1997. Britpop war gerade der heiße Scheiß und Oasis-Sänger Liam Gallagher rasierte sich die Haare ab. Er schaffte es damit auf das Cover der britischen Boulevardzeitung The Sun. „We’re fucked. It’s over“, soll Carol Clerk, die damalige Chefredakteurin der britischen Popkulturzeitschrift Melody Maker, den radikalen Schnitt kommentiert haben. Die großen Medienhäuser sprangen auf den Zug auf, der von einer nischigen Schiene kommend in die entgegengesetzte Richtung rauschte. Eine Richtung, die geil auf Klatsch, Sensation und Reichweite war.
Die angezählte Musikpresse ging vielleicht nicht wegen Liam Gallagher zu Boden, bekam aber vom Internet den nächsten Kinnhaken verpasst. Auf einmal sollten sich alle zu einer Platte, einem Konzert oder einer Künstlerin äußern können und ihre Meinung in den Äther prusten. Sofort. Ohne Umwege. Alles ziemlich easy. Das war gut, hat der veränderungsresistenten Geschäftsgrundlage der Musikmagazine aber weniger geschmeckt.
Musikmagazine verpassten die Ausfahrt
Man hätte sich spätestens zu diesem Zeitpunkt auch mal fragen können, wer von nun an die ganzen verkopften Reviews zu einer Platte, die unverständlichen Interviews (I’m looking at you, Diedrich Diederichsen) und die von Risiko befreiten Meinungsartikel lesen soll. Die Demokratisierung der Meinungsäußerung hat diese Form von Journalismus nicht obsolet gemacht. Sie hat sie nur verlagert. In die Foren, die Blogs und Social-Media-Kanäle deiner Freunde. Die Zeiten, in denen Musikkritiker*innen in experimentellem Wortreichtum aus ihrem Elfenbeinturm posaunen und auf treue Gefolgschaft im geschaffenen Wertekanon hoffen konnten, sind aber vorbei.
Dass die Musikbranche und ihre Künstler*innen über Facebook und Instagram eigene Kanäle schafften, um direkter und authentischer mit Fans zu kommunizieren, tat ihr Übriges. Wenn Künstler wie der österreichische Rapper RAF Camora auf Instagram 1,5 Millionen Follower erreichen, kann sich die Musikpresse brausen gehen. Wenn Künstler wie er zweimal hintereinander die Stadthalle in Wien ausverkaufen und trotzdem von der Presse niedergemacht werden, weil Musikjournalist*innen von ihrer augenscheinlichen Existenz gekränkt sind, läuft im popkulturellen Diskurs gehörig was falsch. Tränenreiche Texte über den Verlust der vermeintlichen Vormachtstellung haben die Situation für Musikjournalist*innen noch nie besser gemacht.
Wir konsumieren mehr – und lesen weniger
Musikkultur hat sich verändert. Die gedruckten Musikmagazine nicht. Face it. Via Streaming konsumieren wir mehr Musik und lesen weniger über sie. Plattformen wie Spotify oder Apple Music basteln anhand unserer Hörgewohnheiten Playlists zusammen, setzen uns wöchentlich „neue Musik“ vor und versuchen, uns die Musik ganz natürlich entdecken zu lassen. Manche Plattformen kennen uns besser als ein monatlich erscheinendes Musikmagazin, das so tut, als hätten all diese Veränderungen nie stattgefunden.
Noch nie war Musik für so viele Menschen ein fixer Bestandteil ihres Lebens. Pop ist überall. Das mache nicht alle Menschen zu Leser*innen von Musikmagazinen und schon gar nicht zu Teilnehmenden an popkulturellen Diskursen, sagt der ehemalige Intro-Chefredakteur Thomas Venker. Auch wenn das manche Medienschaffende insgeheim hofften. Schließlich wollte man eine möglichst große Zielgruppe erreichen, verwässerte dabei aber den aufgebauten Haltungskosmos. Ein Kosmos, „der einerseits klar definierte Positionen und Handlungen mit sich bringt, die an den Beiträgen ablesbar sind, der sich aber auch langfristig dadurch auszeichnet, dass er all die anderen Stimmen ernst nimmt, und den Dialog mit diesen aufgreift und abbildet“, so Venker.
Die fehlende Haltung machte diskurspolitischen Musikjournalismus entbehrlich. Die Musikbranche kämpft rund um die Uhr um die begrenzte Aufmerksamkeit von Menschen. Alles lebt von Klicks. Gleichzeitig bleibt für die popkulturelle Nische, die Keimzelle utopischer Ideen, kein Platz. Der freie Markt lässt Laute lauter schreien – und würgt fundierte Gegenargumente ab. Wenn Menschen keine Musikmagazine mehr kaufen, hat das einen Grund. Vielleicht auch mehrere. Zumindest einer davon liegt in der eigenen Hand. Kritisch sein und durch die eigene Haltung neue Perspektiven aufzeigen. Auch wenn wir damit nicht alle erreichen können.