MALMOE

Nirgendwo mehr Menschen

Thomas Bernhard ist seit 30 Jahren tot. Der ehemalige Staatsfeind wird heute von allen geehrt. Denkt man an seine Reden bei Preisverleihungen zurück, könnten seine Worte zu seinem 30. Todestag in etwa folgendermaßen lauten

„Es ist nichts zu loben, nichts zu verdammen, nichts anzuklagen, aber es ist vieles lächerlich; es ist alles lächerlich, wenn man an den Tod denkt.“ (Thomas Bernhard, Meine Preise)

Ich, Thomas Bernhard, war schon immer der Meister der Übertreibung; es war meine Kunst, und weil ich schon immer der erste und einzige Übertreibungskünstler war, drehe ich mich nicht nur im Grab um, wenn man mich, zum Anlass, des runden Todestages, 30 Jahre ist es zeitlich gesehen schon her, verwertet, missachtet, missbraucht und zerstückelt. Aber weil ich ein Übertreibungskünstler war, und damit auch auf ewig bleibe, dreh ich mich nicht nur im Grab um, ob dieses abstoßenden Umgangs mit dem Toten, sondern spreche selbst. Weil alles, was ich gesagt hatte, ist mittlerweile eingetreten, ich wäre aktueller denn je, doch in diesem geistlosen Klima werde ich vergessen werden. Auch dessen war ich mir schon zu Lebzeiten gänzlich bewusst.

Dichter sterben nicht. Wenn die Welt untergeht, gerade dann lässt man die alten Dichter nicht sterben. Man durchwühlt und zersägt ihr Werk, man glaubt, flüchten zu müssen vor der Wirklichkeit, in die Welt der Dichter, kriegt aber immer nur Realität. Naturgemäß lassen sie mich schon gar nicht sterben, sondern sie treiben, mit mir, dem toten Dichter, die abscheulichsten Geschäfte, nur weil alles, was ich in meinem Werk erdichtet habe, zur Gänze, und hier übertreibe ich in keiner Weise, eingetreten ist.

Im 20. Jahrhundert war es schon nicht mehr möglich zu leben; wir existierten auch nurmehr. Aber das war schön, zu existieren, wir bewegten uns fort, nachdem sich alles verändert hat, weil wir alles verändert haben. Jetzt, im 21. Jahrhundert, da ist alles kalt: alles kalte, klare Wissenschaft; heute ist jeder Tag ein kalter und klarer Tag. So, wie ich es prognostizierte, exakt so ist es eingetreten. Diese Kälte ist so grimmig und entsetzlich, wie wir sie uns im 20. Jahrhundert nicht vorstellen haben können.

Mit der Klarheit nahm die Kälte zu, weil wir durch die Geschichte hindurch die Welt auf die Probe gestellt, und die Realität uns auf die Probe gestellt hat, bis wir sie entzaubert haben. Jetzt kennen wir die Naturgesetze. Jetzt ist alles Wirklichkeit geworden und alle Märchen sind ausgelöscht. Es gibt keine Märchen mehr und wenn ihr in die Natur hineinschaut, dann seht ihr keine Gespenster mehr. Nur noch kalte, unumstößliche Klarheit seht ihr. Diese furchtbare Kälte, sie macht euch alle selbst zu Gespenstern. Im 21. Jahrhundert kann man nicht einmal noch existieren, hier lebt ihr so tot, wie der tote Dichter nie sein wird, habt aber die Wissenschaft, mit der alles, innere wie äußere Geografie, verändert worden ist, sodass ihr nicht ganz sterben könnt. Keine Gespenster seht ihr mehr, doch überall untote Mitmenschen.

Aber wir haben uns nichts vorzuschreiben, wir waren immer nur nichts, wir hatten immer nur das Chaos verdient, und das habt ihr jetzt bekommen. Das ist die Wahrheit, und ihr wisst es genau. Warum ihr mich zu meinem Todesjubiläum so unverschämt ausgrabt, ist augenscheinlich: Unter Untoten ist ein Toter gern gesehen. Dann treibt ihr mit mir, dem toten Dichter, der zu Lebzeiten der große Feind war, die abscheulichsten Geschäfte, nur weil alles, was ich in meinem Werk erdichtet habe zur Gänze, und hier übertreibe ich in keiner Weise, zur Wahrheit geworden ist.

War im 20. Jahrhundert die Verdummung und absolute Verstümmelung des Menschen weit fortgeschritten, ist sie heute, genau wie ich gesagt habe, zur Wahrheit und Wirklichkeit geworden.

Mit der Jahrtausendwende ist auch der letzte denkende Mensch von dieser Erde beseitigt worden. Und auch wenn diese absolute und unheilbare Verdummung der Menschheit bereits zur realen Sicherheit geworden ist, ist sie in Österreich, naturgemäß, am weitesten fortgeschritten. Auch mit Österreich geschieht, was ich immer vorhergesagt habe. Es war ein pseudo­sozialistisches Land und wird wieder ein nationalsozialistisches. Nichts anderes kann aus dem Pseudosozialismus dieses Landes hervorgehen. Einzig auf die vollkommene Verblödung dieser ganzen Dilettanten kann man hoffen. Wir sind Österreicher, wir sind apathisch; wir sind das Leben als das gemeine Desinteresse am Leben, wir sind in dem Prozess der Natur als Größenwahn-Sinn als Zukunft. Schon die meinige Zeit hatte so hohe Ansprüche gestellt wie keine andere. Wir existierten nur noch größenwahnsinnig, ihr seid ausschließlich wahnsinnig.

Die Wissenschaft hat die Märchen vernichtet und Wirklichkeit erschaffen und verantwortlich dafür ist Fotografie. Jedes Augenpaar, das gerade auf ein elektronisches Bildgerät blickt, ist Zeuge des Prozesses, der der Fotografie eines Tages gemacht werden muss. Die Menschen flüchten sich in die Fotografie, es ist ihnen nichts zu blöd, um das perfekte Bild zu bekommen. Am Bild will alles schön gemacht sein, und dann wird hineingeschaut, es aufgesaugt, um die wirkliche Hässlichkeit zu verdecken. Je schöner die Bilder, umso hässlicher die Zeit. Das ist die Wahrheit. Alle Bilder sind verfälscht, sind Idealbilder, Wunsch- und Traumwelt der Menschen. Nichts zeigt sich mehr auf glücklichen Fotografien mit glücklichen Menschen als das Unglück glücklicher Menschen auf glücklichen Bildern, weil diese Menschen die unglücklichsten Menschen sind.

Die Fotografie hat das Denken für die Menschen überflüssig gemacht, und die Technik hat den Menschen überflüssig gemacht. Nichts ist mehr ein Märchen, und die Wirklichkeit richtet über alles. Europa, die Schöne, schon lange tot, zerfällt nun in ihre Einzelteile. Der Tod Europas ist bereits Vorgeschichte, aber erst das 21, Jahrhundert erlebt die Konsequenzen. Also schämt euch nicht, denn es gibt nichts zu schämen. Wir haben uns über die Natur zu erheben geglaubt, dachten wir bringen Ordnung, stattdessen haben wir nun rund um uns und in uns selbst das Chaos, das wir sind. Urteilt nicht über euch, denn ihr seid bereits Geschichte, ihr seid nur noch Knechte eurer eigenen Kommunikations- und Fotoapparate.

Ich habe nie um etwas gebeten, habe nie etwas gebraucht, und brauche auch jetzt nichts; ich muss euch nicht einmal darum bitten, mich sterben zu lassen; so schnell werde ich vergessen worden sein, so wie die gesamte Moderne vergessen sein wird, und auch die Französische Revolution vergessen ist. Das ist die Wahrheit, und sie wird zur Wirklichkeit werden. Dann werden alle Dichter vergessen sein, ihr werdet nicht nur keine Märchen mehr haben, ihr werdet auch nicht einmal mehr wissen, dass ihr sie vermisst.

Zum Weiterlesen: Thomas Bernhard: Meine Preise. Suhrkamp, Frankfurt/Main 2009