Bühnenreif schimpfen mit Lydia Haider
Letzthin hatte ich Besuch von Emir (4). Er sägte mir die Beine ab, dann die Arme, aß mein Ohr, dann den Bauch, und die Nase musste auch nicht lange auf ihr blutiges Ende warten. Röchelnd robbte ich mit meinem verbliebenen Rumpf am Fußboden entlang. Bruna fragte sich beim Anblick ihres Kindes amüsiert und doch verwundert, wie das doch gleich früher war mit den Gewaltfantasien. Ja, wie war es doch gleich?
Theater der Zertretung
Etwas anders begegneten mir Zerstückelungsfantasien im Volkstheater. Drei Figuren hassen hinter grotesken Masken, was das Zeug hält, nach Poesie von Lydia Haider. Zertretung. 1. KREUZ BRECHEN oder ALSO ALLE ARSCHLÖCHER ABSCHLACHTEN nennt sich das. Den zweiten Teil des Stücks habe ich mir zwar leider entgehen lassen, doch darf sich hier zumindest der Titel gegönnt werden: Zertretung 2. SPRACHE ESSEN ABGOTT AUF oder DU ARME DRECKSFUT METZGER.
Das Stück bedient drei Medien und erhält dadurch seine Form: 1) das durch drei Schauspielerinnen Vorgetragene, 2) die Videoinstallation sowie 3) den interaktiven Ego-Shooter. Ein bisschen reingehört und los geht’s mit allem Sag- und Unsagbaren, das man der Welt allgemein und Einzelnen insbesondere wünscht. Österreich ist bekanntlich voller hassenswerter Lokalgrößen, und so reihen sich einer nach dem anderen hinter dem selbsternannten Volks-Rock-’n’-Roller Andreas Gabalier, Krone-Kolumnist Michael Jeannée und Ex-Finanzminister Gernot Blümel ein. Unzählige männliche Gestalten folgen. In den nächsten eineinhalb Stunden werden sie gevierteilt, ausgeblutet und zu Würstchen verarbeitet. Meine Begleitung durfte uns upleveln, indem sie der Aufforderung „Kill ’em all“ folgend via Joystick Jesus abknallte – Judas in Ehren.
Es bleibt das Gefühl des Ertappt-Seins oder Ertappt-Werdens, wenn man nicht anders kann, als dem Hass gegen die offensichtlich „Gehassten“ innerlich zuzustimmen. Die Kontroverse der eigenen Angepasstheit erleichtert sich nur kurz in zu lautem Gelächter. Währenddessen wendet sich der Abkratzgesang mehr und mehr gegen das allzu Eigene. Der innwärts gewandte Ekel erreicht seinen Höhepunkt mit der Erschießung einer Masse versnobter Theaterbesucher:innen – selbstredend in einem Prunksaal à la Volkstheater.
Political Correctness?
Das Kopfkino darf sich an originellen Bildern erfreuen, wie etwa ein „Oarschkrapfen“ aussehe, aus dem anstatt Marillenmarmelade braune, flüssige Kacke herausgequetscht wird. Unnötig sind allerdings die Schimpfeskapaden, die vor allem dis*abled people betreffen. Das mag absichtlich so gewählt worden sein, um zu schockieren oder kontrovers zu sein – ist es leider nicht. Schade, dass dadurch dem Oarschkrapfen und seinesgleichen weniger Bühnenzeit bleibt.
Dennoch schürt Lydia Haiders Schimpfen keinen Hass, sie hasst den Hass. Sie klagt ihn an, selbstironisch, bis sich das Stück zerfleischt. Dass das eine ihrer Stärken ist, hat sie schon anderweitig bewiesen. In dem von ihr 2020 herausgegebene Sammelband UND WIE WIR HASSEN schwingen Autor:innen wie Sibylle Berg oder Stefanie Sargnagel insgesamt 15 „Hetzreden“. Vatermord inklusive. Ein Denkmal der neuen Wiener Schimpf- und Grantlkultur auf dem Grab von Thomas Bernhard. Von wegen Rest in Peace, Lydia Haider zertritt Bernhard auch im Stück.
Emir habe ich mittlerweile auch verziehen. Immerhin sind meine Arme und Beine nachgewachsen. Allerdings schimpfe ich jetzt täglich über die Lohnarbeit – hätte er mir doch besser mal diesen Wurmfortsatz abgerupft!