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Probleme wegklicken

Die KälteApp vom Fonds Soziales Wien: Trotz bester Intentionen verhindert sie gesellschaftlichen Austausch und trägt zur Überwachung bei (Teil 2)

Hier geht es zu Teil 1: Soforthilfe via App?

Im ersten Teil haben wir uns angeschaut, wie und warum die KälteApp vom Fonds Soziales Wien (FSW) als Konkurrenzprodukt zum Kältetelefon der Wiener Caritas eingeführt wurde und wie sie zur Gefahr für Betroffene werden kann. Unsere Schlussfolgerung war, dass die App vom größten Anbieter von Sozialleistungen im Wohnungslosenbereich in Wien rein aus Marketing-Überlegungen eingeführt wurde. Mit Verweis auf die App können sich der FSW und die Stadt Wien als „digital“ und damit modern und zeitgemäß vermarkten.

Auf offizieller Seite verspricht die KälteApp, Menschen zu unterstützen und gesellschaftliche Partizipation zu ermöglichen. Allerdings lässt sich zeigen, wie solche Apps stattdessen zu vermehrter Überwachung von Marginalisierten und zu einer zunehmenden Stigmatisierung von Armutsbetroffenen beitragen.

Solidarische Applikationen

Während von der Sozialsprecherin der Wiener Grünen noch behauptet wurde, dass die App zu mehr Solidarität und Achtsamkeit in der Gesellschaft beitragen würde, behaupten wir, dass eher das Gegenteil der Fall ist. Die KälteApp ist so aufgebaut, dass eine Meldung abgesetzt werden kann, ohne mit der Person, die als hilfsbedürftig ausgemacht wurde, in Kontakt treten zu müssen. Sie ist nicht auf Interaktion ausgerichtet. Eine mögliche eigene Verantwortung wird über die App anonym an andere Stellen delegiert. Es ist Ausdruck unserer komplexen Gesellschaft mit ihren alltäglichen Entfremdungseffekten, ein soziales Problem an eine Stelle weiterleiten zu wollen, die sich dessen professionell annimmt. Die absolute Unverbindlichkeit, mit der das allerdings über die App passiert, entfernt Menschen vielmehr voneinander, als dass ein solidarisches Miteinander gefördert werden würde. Das selbstreferentielle System, das um die App aufgebaut ist, kommuniziert über Menschen, aber nicht mit Menschen. Es verstärkt die sowieso schon starke Marginalisierung von Betroffenen.

Die Stadträtin für Innovation, Stadtplanung und Mobilität Ulli Sima betont, dass bei Digitalisierungsmaßnahmen der Stadt – unter denen die KälteApp als „eindrucksvolles Beispiel“ angeführt wird – der Mensch im Mittelpunkt stehen würde: „Denn Digitalisierung ist kein Selbstzweck, sondern soll den Menschen helfen und ihnen das Leben erleichtern“. Nicht nur findet sich hier abermals die verzerrte Annahme darüber, was die App leisten kann, sondern es offenbart sich auch der paternalistische Blick, mit dem auf das gesellschaftlich produzierte Problem der Obdachlosigkeit geschaut wird. Wie im ersten Teil der Analyse ausgeführt, wurden weder die Sozialarbeitenden an der Basis noch die Betroffenen gefragt, was sie brauchen und wie sie vielleicht von einer möglichen App profitieren könnten. Es wird hier auf Basis eigener Vorannahmen eine App in Auftrag gegeben, die das „Leben erleichtern“ soll, wie die Stadträtin betont. Da stellt sich natürlich die Frage, wessen „Leben“ erleichtert werden soll.

Apps nicht per se böse

Das Projekt eines jungen Entwicklers aus Wien, die fast zeitgleich zur KälteApp erschienene Kältemelder-App, zeigt, wie eine besser konzipierte App mit weniger bzw. keinen Ressourcen zu programmieren ist. Sie arbeitet zwar ähnlich, bietet allerdings mehr Optionen für eine bessere Abklärung der Situation, in der sich Menschen in Not befinden könnten. Es kann angegeben werden, ob die Person mit einer Decke, mit Schuhen oder einem Schlafsack ausgestattet ist. Dazu wird sie explizit als Ergänzung zum etablierten Kältetelefon beworben und nicht als Ersatz. Allerdings verstärkt die App ebenfalls Stigmatisierungs- und Entsolidarisierungsdynamiken.

Ganz anders funktioniert die App Kältehilfe, die im Raum Berlin Anwendung findet. Mit dieser App können mögliche Hilfsangebote, von Schlafplätzen, über Wärmestuben bis zu Notunterkünften für Frauen in der Umgebung, angezeigt werden. So wird eine Information mit Marginalisierten geteilt und das Potential von Smartphones genutzt. Im direkten Gespräch mit Betroffenen wird geschaut, welche Bedürfnisse es gibt, und via App wird nach einer möglichen Unterstützung gesucht. Ein gänzlich anderer Zugang, der auch eine Öffentlichkeit ganz anders in die Verantwortung nimmt und die Interaktion und den Austausch fördert.

Technische Entwicklungen und Applikationen sind also nicht per se abzulehnen und negativ zu bewerten. Es bedarf jedoch eingehender Betrachtung, um ihre tatsächlichen gesellschaftlichen Effekte verstehen zu können. So lassen sich denn auch weitere Implikationen hervorheben, die nicht das primäre Ziel, aber Effekte der KälteApp sind und die Spuren in der Gesellschaft hinterlassen. Neben der zunehmenden Marginalisierung und Entfernung von gesellschaftlicher Teilhabe befördert die App auch ganz konkret die Überwachung von Menschen, die von Obdachlosigkeit betroffen sind.

Über-Überwachte Öffentlichkeit

Der Stadtraum Wien wird intensiv überwacht: Polizei, die omnipräsent ist, High-Definition-Kameras, die mit Gesichtserkennungssoftware arbeiten können und über 13.000 Kameras alleine bei den Wiener Linien, auf die seit kurzem auch die Polizei Zugriff hat, diverse Security-Firmen, die aus dem Stadtbild nicht wegzudenken sind, und eben auch Straßensozialarbeitende. All diese aktiven und passiven Ebenen definieren und strukturieren den öffentlichen Raum. Zu diesen technischen und personellen Ebenen des Polizierens und des Monitorings gesellt sich die KälteApp. Durch ihren One-Way-Kommunikationskanal produzieren jetzt alle Menschen, die die App nutzen, komplexe Daten über Marginalisierte. Doch wo es auf der einen Seite Professionelle gibt, die dafür bezahlt werden eine bestimmte öffentliche Ordnung herzustellen, arbeiten jetzt Bürger_innen umsonst und speisen Daten ins Netz zur Bewegungskontrolle von Armutsbetroffenen. Mit diesem 2,3 MB kleinen Werkzeug kann damit ein_e jede_r zu einem kleinen Kommissar werden. Das Überwachungssystem baut sich so massiv aus. So kann eine relativ schwer zu kontrollierende Gruppe, die permanent in Bewegung ist, keine fixe Adresse hat und über die es kaum Daten gibt, viel genauer beobachtet werden.

Für die Nutzenden der App hat das Ganze etwas Spielerisches, das sich nicht groß unterscheidet von Spielen wie etwa Pokémon Go. Bei der einen App werden virtuelle Monster an meist öffentlichen Orten aufgesucht, gefangen und bekämpft, in der anderen werden diejenigen gemeldet, die als „Störung“ des sozialen Raums gelten. Penibel gereinigte Straßen lassen Menschen, die keinen Zugang zu Duschen und einem Ort haben, wo sie ihre Dinge ablegen können, wie auf einem Präsentierteller sichtbar werden. Verbunden mit den Stigmen und Vorurteilen treten sie als Gegenstück zum Gewöhnlichen auf. Sie sind die Monster der Stadt. Mag der Begriff des Monsters zunächst irritieren, so weist er doch darauf hin, dass gerade die Figur eines Obdachlosen als das absolute Gegenbild der bürgerlichen Ordnung konstruiert ist: unfähig, das eigene Leben zu führen, unhygienisch, ohne fixen Wohnplatz, psychisch auffällig und damit stets jenseits der normativen Ordnung. Über solche Gegenpole produziert und legitimiert sich die vorherrschende Ordnung: Es braucht das Andere, um den „gesunden“ und gesellschaftsfähigen Menschen zu konstruieren. Stigmatisierung, Kontrolle und Überwachung sind also kein neues Phänomen, durch technische Erweiterung werden sie allerdings auf eine noch nie dagewesene Ebene gehoben.

Geschichte und Kontinuität der Überwachung von Marginalisierten

Die Überwachung von der Bewegung von Menschen zum Schutz der vorherrschenden Ordnung ist fixer Bestandteil von unseren Gesellschaften. Sie ist eng verbunden mit dem Aufkommen moderner Staaten mit ihrer spezifischen Form der kapitalistischen Wertproduktion. Besitz und die Zentren, die Wert produzieren (klassisch die Fabrik), gilt es zu schützen, potenziell gefährliche Kräfte einzuhegen und zu kontrollieren. Heutiges Monitoring ist Ergebnis einer komplexen Geschichte aus Rassismus und Klassismus. So werden etwa Programme für Kameras entwickelt, die „irreguläre Bewegungen“ ausmachen können. Etwa wenn normierte Bilder durch rennende, sitzende, liegende Menschen, oder Menschen, die sich zu lange an einem Ort aufhalten, gebrochen werden. Bayramoğlu und Castro Varela führen in ihrem aktuellen Buch Post/pandemisches Leben (2021) das von 2009 bis 2014 EU geförderte Projekt INDECT (Intelligent information system supporting observation, searching and detection for security of citizens in urban environment) als Beispiel solcher Entwicklungen auf. Dessen Anspruch war es, die aus Überwachung gewonnenen Daten mit der Analyse eines „abnormalen“ Verhaltens zu verknüpfen. Die Software markiert so Menschen durch ihre Bewegungen und Handlungen als potenziell auffällig bzw. gefährlich. In dieser Tradition steht auch die KälteApp, die eine historisch gewachsene Kontinuität der Markierung von Marginalisierten fortführt. Dabei ist es erschreckend, dass die zentralen Kriterien, die sogenanntes abnormales Verhalten ausmachen – Sitzen, Liegen oder zu lange an einem Ort zu verweilen – direkt auf Bewegungsmuster von Obdachlosen anwendbar sind. Das Sammeln der Daten aus den Meldungen ist nicht das primäre Ziel der App, aber definitiv einer ihrer Effekte. Diese erfreuen sich aber reger Beliebtheit von ganz anderer Seite: bei Spekulanten, für die sichtbare Obdachlosigkeit Wertverlust bedeutet und die stets ein Interesse haben, Armutsbetroffene aus der öffentlichen Sichtbarkeit zu verbannen, bis hin zur Polizei, die so Menschen effizient vertreiben kann. Die Soziale Arbeit ist hier die Softpower, die nicht über Platzverweis „von oben“ regiert, sondern durch pädagogisches Einwirken Personen motivieren soll, in ein Notquartier zu ziehen, das sich oft an den Rändern der Stadt und damit nicht im Konsumzentrum der Innenstadt befindet (siehe MALMOE 93). Doch profitieren auch sie von der genauen Standortangabe, lassen sich doch so Räume effizienter und extensiver bespielen. Dass es allerdings für diejenigen Menschen, die größtenteils über die App gemeldet werden und für die „schnelle Hilfe“ versprochen wird, gar keine passenden Unterstützungsangebote in Wien gibt, ist dabei nicht wirklich von Relevanz.

Ein Aspekt, der noch gar nicht zur Sprache kam und vielleicht mit am zentralsten ist: Die App beruhigt ihre Nutzer_innen. Einer vielleicht sogar emphatischen Zivilbevölkerung wird das Gefühl vermittelt, sie habe doch Hilfe geholt und die Stadtregierung versichert, dass eh geholfen wird. Wobei doch alle wissen und es nur niemand wahrhaben will: Strukturelle Probleme um Wohnungslosigkeit sind fester Bestandteil westlicher kapitalistischer Gesellschaften – und können nicht via Klick in einer App gelöst werden.