Bill Fisher – Hallucinations of a Higher Truth
LP, Septaphonic Records, 2021
Es sind harte, orientierungslose Zeiten. Was hilft da schon? Antwort: Bill Fisher. Die Harmonien geschmeidig wie beim Electric Light Orchestra. Alles ist ziemlich ambitiös, schließlich feiert der Prog Rock gerade ein Comeback, um das ihn niemand gebeten hat. Dennoch, beim Anhören der Platte möchte man sich zur Oma in den Ohrenbackensessel setzen und sich in ihren enormen Bart kuscheln während sie einem eins auf dem Piano spielt. Okay, zugegeben in altehrwürdig steckt auch das Wort „alt“, und vieles riecht ein bisschen nach Katzenpipi. In dem musikalischen Ansatz liegt aber eben auch ein gewisser Charme, und der passt gut zu der thematischen Größe, die Fisher einfach so liebt. Zu der immer am Abgrund der Banalität tänzelnden Musik kommt nämlich dieser nicht wenig spleenige Drift hin zu einem numinosen Themenkreis. Fishers Band, Church of the Cosmic Skull, fragte bereits auf ihrem Debütalbum „Is Satan real?“ Salbungsvoll serviert ist das eine Frage, die man sich ja mal stellen kann, und warum sollten sich beim Anhören des neuen Albums von Fisher nicht plötzlich „höhere Wahrheiten“ offenbaren? Und wer weiß, wofür die dann noch gut sind.
Duckwrth – SG8
EP, SuperGood/The Blind Youth, 2021
Alltägliche Covid-19-Realitäten in Singing-Rap verhandeln, mit bissi Liebeskummer und bissi refreshing melodic beats? Jared Lee alias Duckwrth war für inspirationsmindernde Pandemiezeiten auffällig kreativ und veröffentlicht ein kurzes Album – oder doch eine lange Single? Mit acht Tracks irgendwo dazwischen, aber wen interessiert das eigentlich noch, wenn die Tracks überzeugen und du dich dabei ertappst, kopfnickend mitzusummen? „I had plans then the whole year was canceled / Now stress and anxiety‘s the only thing I plan on (yeah, yeah)“. Mit so’n bissi Funk-Rap ist Lockdown schon fast erträglich.
Masha Qrella – Woanders
LP, Staatsakt, 2021
Immer wenn man sich einem Jubiläum verstorbener Künstler:innen nähert, dann sprießen erwartungsgemäß Lobeshymnen aus allen erdenklichen Ecken. Ein solches wurde dieses Jahr auch mit dem 20. Todestag von Thomas Brasch begangen. Während die Feuilletons munter Nägel in den Sargdeckel klopften, anstatt sich mit der Gegenwärtigkeit seiner Sprache zu beschäftigen, veröffentlichte Masha Qrella Anfang des Jahres das Album Woanders. Darin verarbeitete sie Braschs lyrische Texte in sanften Melodien zu Songs, die in eigensinniger Weise warmherzig und widerspenstig zugleich klingen. Stücke, die einerseits balladenhaft, anderseits technoid dahinschweben, reihen sich so siebzehnmal aneinander. Braschs Sprache, die meist einer von Schmerz, Alkohol und Drogen getragenen Klarsicht ähnelt, wird hier brüchig. Sie beginnt zu funkeln, ohne ihren Ernst einzubüßen. Masha Qrella gelingt es mit ihrer leichtfüßig-verspielten Musik, zwischen den Worten Braschs etwas zu finden, das trotz aller Strapazen, die unbedingte Neugierde an den Dingen nicht aufgibt.
Modecenter – Modecenter
LP, Numavi Records, 2021
Die Konzertsaison war leider wieder kurz. Aber ganz Wien wollte eine Band sehen: Modecenter. Und Modecenter lieferte, unter anderem mit stürmischen Shows beim Waves Festival, beim Gürtel Nightwalk und bei einem Arena Mini-Open-Air oder mit einer aufgrund der Platzverhältnisse eher intimen im Sissysound Record Store. Aber hier soll es ja ums Album gehen, das gab es nämlich auch: Das selbstbetitelte Debüt erschien im Juli bei Numavi und ist ein absoluter Knüller; dafür dass es der Erstling ist, wirkt das Ganze sehr rund und ausgereift. Neun pointierte Postpunk-Perlen, plus eine Ballade, wenn man sie so nennen mag. Die Band betitelt ihren Sound zeitgeistig mit „Krisen-Rock“. Und wie eine Krise, so die Platte: Alles rast, alles kracht. Modecenter waren dieses Jahr nicht zu bändigen.
Philipp Rumsch/supaKC – DOSIS I & II
Samples, Institut für Zukunft, 2021
Die Tür zum Club ist verschlossen. Drinnen tanzt kein Mensch. Nur die Lüfter schnurren leise, während eine Bierflasche klirrend über den leeren Dancefloor rollt. Geisterstimmung im Club. Für alle, die jetzt die Sehnsucht packt und sich eine Nebelmaschine für ihr heimeliges Wohnzimmer wünschen, gibt es den Samplepack DOSIS von Philipp Rumsch und supaKC mit Aufnahmen aus dem Leipziger Institut für Zukunft. Dort haben die Maschinen endlich wieder die Herrschaft übernommen. Sie, die viel zu lange im dröhnenden Taumel der Bässe untergingen, materialisieren sich in ihrer vollen sonischen Gewalt. Ein ausladendes Takeover, das gehört und gesampelt werden will, jetzt und immerdar … Die Ursuppe des Techno im wahrsten Sinne des Wortes.
Tirzah – Colourgrade
LP, Domino, 2021
Avantgarde-Pop, Post-Pop oder Stripped-Down-Pop? Nach dem instant classic Debüt Devotion (2018) bringt die Londoner Songwriterin Tirzah ein weiteres schroffes DIY-Album raus, das zwischen Tourneen sowie nach der Geburt ihres ersten und vor der Geburt des zweiten Kindes entstanden ist. Warum das erwähnenswert ist? Weil sich das Album gänzlich darum dreht. Und was würde nicht besser die Geburt und die Begleitung in diese Welt musikalisch untermalen als dreckige DIY-Beats und verzerrte Gesangsspulen, die auch Störungen wie ein Räuspern einbauen? Dabei ist die bereits im Frühjahr 2021 erschiene Single Send Me fast der poppigste Song, der auf dem Album zu finden ist. Er ist sehr schnell sehr eindringlich, anders verhält es sich bei den restlichen Tracks, von denen du allerdings nach ein paarmal anhören vereinnahmt werden wirst. Warum, das wirst du nie so genau wissen – aber was ist schon Rationalität, wenn dir der Sound erlaubt, einfach so dahinzuschweben?
wTricky – Lonely Guest
LP, False Idols, 2021
In seinem neuen Album lädt Adrian Nicholas Matthews Thaws alias Tricky jede Menge Freund:innen aus den unterschiedlichsten Genres ein, um sich mit ihnen musikalisch auszutoben. Mit dabei sind unter anderem Jo Talbot und Marta, mit der gemeinsam Tricky auch den besten Song des Albums aufgenommen hat: Atmosphere. Das Ganze ist eine Compilation verschiedenster Stimmungen und Sounds, die nicht alle typisch für Tricky sind, aber dennoch einen hervorragenden Bogen spannen. Durchgehend soft bis ruhig, mitunter leicht, aber meistens melancholisch und mit einer gehörigen Prise Retro Riffs und teilweise nostalgischen Portishead-Reminiszenzen aus den Nullerjahren eignen sich die Songs ausgezeichnet für den nächsten Lockdownspaziergang mit Flachmann in der Manteltasche.
Fehler Kuti – Professional People
LP, Alien Transistor, 2021
Mit Professional People liefert der Münchner Künstler und Sozialwissenschaftler Julian Warner alias Fehler Kuti ein neues und hochpolitisches Album. Dabei stellt er der oft verklärten Black-Lives-Matter-Rezeption in Deutschland und Europa, die die Proteste in den USA bejubelt, die antirassistische Kritik aber nicht auf den eigenen Kontext zu übersetzen vermag, eine Auseinandersetzung mit Klassen- und Ausbeutungsverhältnissen hierzulande entgegen. Das klingt erstmal sperrig, ist aber ein wunderbar vielfältiges und experimentierfreudiges Album, das unter Beteiligung der Notwist-Brüder Markus und Micha Acher entstanden ist und auch auf deren Label Alien Transistor veröffentlicht wurde. Synthie-Pop mit Orgelsounds, Bläsereinsätze und Steeldrum, Spoken Word – alles dabei. Fehler Kuti hat ein Faible für denglische Texte und scheut sich nicht, politische Botschaften gleich in seine Songtitel zu packen (In Every City, In Every Aldi The Blood Of My Brothers And Sisters Taints Your Spargel). Nebenbei hat Julian Warner dieses Jahr im Verbrecher Verlag mit After Europe ein Buch über dekoloniale Kritik herausgebracht.
ARCA – kiCK iiiii
LP, XL Recordings, 2021
Zurecht feiern Arcas Fans gerade die vier neuen Alben, die an vier aufeinanderfolgenden Tagen veröffentlicht wurden und Arcas KiCk-Zyklus’ vollenden. Der letzte Teil KiCk iiiii stellt das Ende des Zyklus’ dar, das sich vor allem einer träumerisch-melancholischen Klangwelt widmet. Arcas sanfter Gesang verleiht dem Album eine besondere Stimmung, die stilistisch an die Songs Calor und No Queda Nada aus KiCk i sowie an einzelne Songs vom Vorgänger des KiCk-Zyklus ARCA, das 2017 erschienen war, erinnert. Das Finale bildet der Track Crown, der ebenfalls mit dem Albumcover visualisiert wird. Inspiriert vom venezolanischen Mythos über die Königin María Lionza und dem ihr gewidmeten Denkmal in Caracas. Arca, la reina mutante, the alien queen, she wears her crown.
Nura – Auf der Suche
LP, Vertigo, 2021
Schon seit April 2019 ist SXTN, das Dreamteam des deutschen Hip-Hops getrennt unterwegs. Traurig, aber was willst du machen? Dann kam Covid-19 und Juju hatte Angst gechipt zu werden. Währenddessen macht Nura ihre Impfung öffentlich und kassiert einen Shitstorm auf Instagram. 2020 bringt Nura dann mit Vom Asylheim in die Charts ein Buch über ihre Kindheit heraus und dieses Jahr kam endlich das neue Album. Die auf Auf der Suche versammelten Themen klingen erstmal schwer: Armut, Depression, Patriarchat und Rassismus. Aber Nura macht nicht auf nachdenklich, sondern gibt Deutschland direkt aufs Maul. „Warum ist es der Flüchtling, der dir Angst macht und nicht die Nazis im Landtag?“ Keine große Analyse, dafür zutreffende Beschreibungen und, was das Wichtigste ist, dabei den Flow nicht verloren. Den Humor sowieso nicht – „Alle Türsteher begrüßen mich mit: Ausweis bitte.“ Insgesamt gehen die Tracks vorwärts und ich hab schon richtig Bock auf ein Livekonzert. Gemma Wien, Nura!
Damu The Fudgemunk – Conversation Peace
LP, KPM/Def Pressé, 2021
Boah, das ist echt voll nett, dass Damu The Fudgemunk wieder ‘ne Platte gemacht hat. Der Beat wird bei ihm so schön klar mit dem Gummihammer auf die Vorderstirn geklopft, dass sich schon nach wenigen Sekunden die Frage aufdrängt: Wer braucht was anderes als Boom Bap im Leben? Die fantasievollen Arrangements, die feinen Sounds, ausgesucht aus wahren Vinylgebirgen (dort wohnt Damu nämlich), die in Jahrzehnten des Crate Diggin‘ zusammengesammelt wurden. Das ist Hip Hop wie er musikalisch nicht reicher sein könnte und der seiner historischen Aufgabe gerecht wird, den verstaubten Jazz für die Nachtwelt zu retten. Komplett mit Vibraphone, Klavier und Flöte, alles prima verscratcht, damit sich ein klassisch und feinsinniger Mix entfalten kann. Einfach toll. Und Rap mit Awareness gibt es obendrauf. Perfekt.