Über den Zerfall einer Regierungspartei mitten in der Pandemie
Sebastian Kurz ist weg. Und was für ein zäher Abgang ist das gewesen. Monatelang hatte er einen Rücktritt ausgeschlossen, trotz gegen ihn laufender Ermittlungen wegen Falschaussage im Ibiza-Untersuchungsausschuss und wegen Bestechung und Untreue. In seiner Rücktrittsrede übernimmt er keine Verantwortung, sondern präsentiert sich als Gejagten, dem die anhaltenden Vorwürfe der Korruption die Begeisterung für die Politik vermiesen. Noch vor wenigen Monaten konnte er sich nicht vorstellen, ein Papamonat zu nehmen. Doch nun habe die Geburt seines Sohnes, den Ausschlag für seinen Rückzug aus der Politik gegeben.
Mitten in der vierten und bisher massivsten Covid-19-Welle haben wir leider andere Sorgen als die Befindlichkeiten der ÖVP. Verdammt dazu, die gleichen Fehler immer wieder aufs Neue zu machen, sitzen wir im Dezember 2021 im unausweichlich gewordenen Lockdown. Omikron bringt sich gerade als neuer Superschurke in Position. Wer hätte auch ahnen können, dass sich eine weltweite Pandemie nicht national beenden lässt?
Der nunmehr zurückgetretene Alt-Kanzler hinterlässt verbrannte Erde. Zwei Regierungen hat Kurz bereits zur Explosion gebracht und Türkis-Grün kann nach den Rücktritten der vergangenen Tage wohl keine große Zukunft mehr vorhergesagt werden. Zu sehr mit sich selbst und der Ermittlungen wegen Korruptionsverdacht beschäftigt, hat die ÖVP-geführte Regierung verschlafen, Maßnahmen gegen eine im Herbst drohende Welle zu setzen. Dass Wien angesichts der Ausbreitung der Delta-Variante die Maskenpflicht im Handel auch über den Sommer beibehalten und Eintrittstests für Kinder ab sechs Jahren eingeführt hat, bezeichnete Tourismusministerin Köstinger sogar als „völlig absurd“. Ebenso simple wie effektive Maßnahmen wie Maskenpflicht („nicht Teil unserer Kultur“) und Eintrittstests wurden damit immer wieder auch von der ÖVP in Frage gestellt. Die Regierung knüpfte ihren Maßnahmen-Stufenplan an die Belegung der Intensivstationen und reagierte damit immer erst bei sehr hohen Ansteckungszahlen: Ein weiterer Schlag ins Gesicht des Gesundheits- und Pflegepersonals, die unter unzumutbaren Arbeitsbedingungen die Krise ausbaden müssen.
Bekanntlich hat Kurz die Pandemie als für die Geimpften beendet und zur „Privatsache“ erklärt. Da jegliches Fehler-eingeständnis für die ÖVP als ein Zeichen von Schwäche Tabu zu sein scheint, wurde an der von Kurz vorgegebenen Linie stur festgehalten, selbst als dieser bereits „zur Seite getreten“ und aus der Öffentlichkeit abgetaucht war. Für die Geimpften dürfe es keine weiteren Einschränkungen geben, betonte man stets auch dann noch, als das Scheitern in der Pandemiebekämpfung angesichts explodierender Ansteckungszahlen längst offensichtlich geworden war. Kurzzeitkanzler Schallenberg entschuldigte sich schließlich bei den Geimpften, aber nicht für das eigene Versagen, sondern für das Verhalten der dummen Ungeimpften, für die man sich nicht zuständig fühlt.
In einem lesenswerten Kommentar im Standard beschreiben die Politikwissenschafter_innen Sieglinde Rosenberger und Gilg Seeber wie mit dem Regierungsantritt von Türkis-Blau 2017 eine Neuorganisation der Verantwortlichkeiten innerhalb der Regierung einherging, mit der zahlreiche Zuständigkeiten in das Kanzleramt verschoben wurden, darunter zum Beispiel die Koordination von Maßnahmen zur Bekämpfung internationaler Krisen und die Rolle des Sprechers gegenüber der Bevölkerung. Kurz hatte damit nicht nur Durchgriffsrechte innerhalb seiner Partei, sondern auch eine Richtlinienkompetenz in der Regierung. Türkis-Grün habe diese Organisationsstruktur 2019 im Wesentlichen weitergeführt. Dies begründe einerseits die Dominanz der ÖVP in der Krisenkommunikation auch beim Thema Gesundheit und habe darüber hinaus wesentlich dazu beigetragen, in der Pandemiebekämpfung wichtige Entscheidungen immer wieder zu verzögern.
Die ganz auf ihren Chef ausgerichtete Partei setzt somit auch in der Pandemiebekämpfung auf paternalistische und autoritäre Krisenkommunikation, lässt dabei kein ehrliches Interesse an Aufklärung über die Impfung erkennen und fällt immer wieder durch Wissenschaftsfeindlichkeit auf. Die Losung Abstand halten, Hände waschen (analog zur ÖVP-Leitlinie Hände falten, Goschn halten), die von Beginn der Pandemie an verbreitet wurde, ließ sich schließlich leichter mit Unternehmensinteressen vereinbaren, als die Gefahr einer Ansteckung durch Aerosole in Innenräumen zum Thema zu machen und deshalb verpflichtendes Homeoffice einzuführen. Stattdessen: Schreibtische auseinanderrücken und gut ist’s.
Dass heute „normale Leute“ in großer Zahl mit Neonazis auf die Straße gehen, wurde durch diese Politik gefördert und ist ein weiterer Schritt in Richtung der Normalisierung des Rechtsextremismus, zu dem die ÖVP, nicht erst seit Sebastian Kurz, konsequent beiträgt. In Kürze startet der Untersuchungsausschuss zur Korruption in der ÖVP und wird wohl noch weitere unappetitliche Dinge zu Tage fördern. Relevant für die kommende Zeit ist nun nicht, ob die ÖVP türkis bleibt, oder wieder schwarz wird, sondern dass sich die ÖVP nicht durch Umfärbung und Umbesetzungen selbst aus der politischen Verantwortung entlassen kann. Zur türkis-schwarzen Selbstfindung sei erstmal dringend empfohlen: ÖVP raus aus allen öffentlichen Ämtern!