Poesiealbum Türkis-Grün #6
Kann sich noch jemand daran erinnern, wie das Leben war ohne das Corona-Virus? Kaum. Wo die Erinnerung schwach wird, da wächst die Illusion. Illusionen werden gern von unseren umsichtigen Volksvertreter*innen in politische Poesie gegossen. Auch in dieser Ausgabe sollen die geistigen Ergüsse festhalten werden, um sie nah am Herzen tragen zu können.
Pandemie endlich vorbei!
Die Pandemie ist jetzt over and out. Kanzler Sebastian Kurz hat es freudig im ORF gesagt und er wird ja nicht flunkern. Wie bei früheren Ankündigungen, zum Beispiel der „Wiederauferstehung nach Ostern“, sind zwei Dinge zu beachten: Erstens, die Kurz’sche Wahrheit ist periodisch, genauso, wie Österreich an Ostern im Jahr 2020 auferstand, um dies Ostern 2021 zu wiederholen (die türkise ÖVP ist vielleicht christlicher als sie denkt), so wird sich auch das Ende der Pandemie noch viele Male wiederholen. Ein jährliches Ende der Pandemie ist durchaus denkbar. Zweitens, steckt das Teufelchen im Detail, denn so richtig hat Kurz ja nicht gesagt es sei vorbei, sondern nur für die Geimpften. Im Herbst wird dies dann konkret so laufen: Die Ungeimpften müssen daheim bleiben und dürfen – beispielsweise – nicht ins Theater gehen. Den Geimpften steht der Theaterbesuch hingegen offen. Nur leider wird das Theater wegen der Pandemie geschlossen haben. Zu dumm auch.
Österreich testet
Testen ist wichtig und alle machen es gern. Hmmm. Die Sache hat nur einen grundsätzlichen Baufehler. Unverkennbar geht es der Regierung darum die logistische Mammutaufgabe millionenfacher Test mit möglichst geringem Personalaufwand zu stemmen. Auftritt der IT-Lösungen. Als sicherer Kandidat für die „Edward-Snowden-Gedenkmedaille“ muss deshalb zur Selbsttestung einem Programm der Zugriff auf das – fraglos in jedem Haushalt auf dem mehr oder weniger neuesten Stand befindliche – Smartphone erteilt werden. Dann filmen sich die Bürger*innen beim Testgurgeln selbst, während sie in Küche, Bad oder Boudoir stehen. Alles kein Thema. Ideal auch die niederschwellige Online-Anmeldung mit ungefähr 27 ganz einfachen Schritten, die teilweise vom Programm nicht abgespeichert werden und jedes Mal neu eingegeben werden müssen, kombiniert mit diesem feinen zeitlichen Druck durch plötzlich erloschene Dokumente und viele andere neurotisierende Features mehr. Faszinierend, alle Menschen die mitgegurgelt haben, entdecken neue, eigene Hürden bei der Dateneingabe. Wer morgens um fünf zur Schicht ins Stahlwerk muss, wird diesen kleinen administrativen Akt zum Dienst an der Gesellschaft besonders schätzen. Am besten erwischt es – mal wieder – die Familien. Weil viele Schulen es nicht schaffen die gesamte Klasse bis zum Eintreffen der Testbot*innen durchzutesten, soll bitte daheim gegurgelt werden. Auch kein Problem. Einfach die Kinder in der Küche aufreihen und beim Spucken filmen. Pro Kind braucht es je ein Smartphone und einen Arm, weshalb ab zwei Kindern (für Alleinerziehende, bei Paaren erst ab vier Kindern) die Nachbar*innen hinzugebeten werden müssen. Oder man macht die Testungen der nüchternen(!) Kinder nacheinander – dazu halt einfach ein bisschen früher aufstehen. Hoffentlich kommt bald wieder der Lockdown, der war einfacher.
Mauerblümchen
Das Einzige was die Grünen in den letzten zwei Jahren Regierungsbeteiligung gelernt haben, ist das Mauermachen. Die Koalitionskonflikte mögen himmelschreiend sein, dennoch stellen sich die grünen Regierungsmitglieder brav auf, um Einigkeit zu demonstrieren. Nein, alles in bester Ordnung, es gibt hier nichts zu sehen, kein Streit, kein nix. Aus strategischer Sicht ist dies schlüssig. Selbstverständlich will die Opposition und die gehässige Medienöffentlichkeit Streit säen und sehen. Nur der grundlegende Baufehler der Koalition wird ebenso deutlich. Weder können die Grünen gemäß ihrer „Überzeugungen“ (irgendwelche Dinge die sie mal vor ein paar Jahren gesagt haben) Opposition in der Regierung sein, noch können sie zufrieden sein die Claqueure der Selbstinszenierung des Kurz zu sein. Eigene Themen durchsetzen wäre somit dringend gefragt. Für die gibt es jetzt endlich einen konkreten Zeitpunkt: Unmittelbar nach dem Überschreitend der „roten Linie“ durch die ÖVP.
Kühlen Kopf bewahren
Beim nicht unbedeutenden und intellektuell kniffligen Streit darüber, ob eine Impfpflicht kommt oder nicht, wird die Gesellschaft vom hitzigen Arbeitsminister Martin Kocher auf gewisse harte Änderungen vorbereitet. Denn die Erwerbslosen, die von AMS-Geldern abhängig sind, sollen nun selbstverständlich schon einmal zum Impfen gezwungen werden, damit sie jede Job-Aussicht wahrnehmen. Die Hemmschwellen sind im freien Fall. Wer kein eigenes Geld verdient ist also nicht mehr dazu berechtigt eigene Überzeugungen zu haben und zu leben (wie hirnrissig diese auch sein mögen). Kocher rechnete aber nicht mit dem, eher schwarzen als türkisen, AMS-Vorstand Johannes Kopf (aka DJ Labour MC). Der erinnerte an so etwas wie Rechtsstaat und daran, dass das AMS gar keine Gesundheitsdaten (wie den Impfstatus) bei seinen Klient*innen erheben darf. Die alte Grundrechtsplatte kann der erfahrene DJ Kopf gerne öfters auflegen.
Polarisierungsfalle
Österreich klebt bei seiner Vollimmunisierungsbemühung bei circa 60 Prozent. Um eine Pandemie zu beenden braucht es aber 80 Prozent. Die letzten Meter könnten lang werden, weil kaum ersichtlich, wie plötzlich die Hälfte der noch Ungeimpften zu begeistern wäre, die aus sehr unterschiedlichen Gründen nicht mitmachen, die von Trägheit über Staatsskepsis bis hin zu Verfolgungswahn reichen. Politisch gibt es folgendes Problem: Das Machtprinzip Kurz basierte auf gezielter Polarisierung. Ein genau abgezirkelter, mehrheitlicher Teil der Bevölkerung wurde mit einer Kombination aus Autoritarismus des ewig Gestrigen und der Homestory des netten Enkels von nebenan für Sebastian Kurz „begeistert“. Hierbei war den Spindoktor*innen immer klar, dass sich ein relativ kleinerer Teil der Bevölkerung den Finger in den Hals schiebt, wenn sie den Avatar Kurz nur sehen. Zur Vollimmunisierung der Bevölkerung bräuchte es nun eine überparteiliche Anstrengung, die könnte im Grunde nur gelingen, wenn Kurz für eine Weile im Eisschrank verschwindet. Das wiederum würde dem Machterhalt der Partei nicht dienlich sein, weshalb es keinen Ausgang aus der selbstverschuldeten Polarisierungsfalle zu geben scheint.