MALMOE

Jugend borscht

Home is where the beet roots

Für diejenigen, die mit ihm aufwuchsen hallt der Klang des Wortes Borschtsch im Gehörgang nach, wie die Einladung eines geliebten Menschen sich eine Weile zu ihm zu setzen. Es ist das Versprechen zu etwas Heißem, etwas Wohligem.

Ein Versprechen alle Probleme für einen Moment zu vergessen. So sagt man, aber ich mag keinen Borschtsch. Meine Kindheitserinnerungen sind durchtränkt vom süßlich-säuerlichen Geruch der Rote Beete Brühe. Ständig gab es bei uns Borschtsch. An Feiertagen: Borschtsch. Wenn Freunde oder Verwandte zu Besuch kamen: Borschtsch. An Regentagen: Borschtsch. Im Krankheitsfall: Borschtsch. Wenn es draußen 30 Grad hat und du bereits im Sitzen schwitzt: Borschtsch, dann allerdings kalt.

Ich wundere mich, wie meine Mutter es immer wieder hinbekam, neben ihrer Vollzeitstelle in Windeseile Borschtsch zu bereiten. Immerhin dauert es Stunden bis die Suppe dick ist. Das Kochen, Schälen, Schneiden, Raspeln. Die sakrale Zeremonie des Abschmeckens und Veredelns ganz ausgenommen. In meiner Erinnerung ist es auch immer wieder ein und derselbe bodenlose Topf, aus dem wir uns tagelang einschenkten. Bis wieder ein neuer Topf gekocht wird und an ebenjener Stelle in der Küche steht. Unverwüstlich. Unendlich. Unglaublich.

Ich mag keinen Borschtsch

Als Teenager wollte ich auch mediterrane Tomatensuppe oder Buchstabensuppe oder Königsberger Klopse oder Schnitzel mit Kartoffelsalat essen. Stattdessen gab es BORSCHTSCH!

Meine Mutter ist eine ausgezeichnete Köchin und er schmeckt mir sogar, aber ich mag ihn trotzdem nicht. Denn ich hatte nie die Wahl. Entweder Borschtsch oder hungrig ins Bett. Dank des vielen Borschtsch hab ich jetzt aber rosige Wangen und erfreue mich eines starken Immunsystems. Borschtsch ist Mutters Motto für einen gesunden Körper und Geist.

Hauptsache Fleisch

Mein Vater ist Ukrainer. Für ihn ist Borschtsch ein Heiligtum. Er erzählt, dass die Männer in seinem Dorf damit angeben, wie gut der Borschtsch ihrer Ehefrauen schmeckt. Es soll wohl sogar schon zu Schlägereien gekommen sein, weil einer die Kochkunst der Frau seines Kollegen kritisiert hat. Meine Mutter ist in Russland geboren, genauer gesagt im Fernen Osten. Ihr Borschtsch ist ausgezeichnet aber eben ein Moskauer Borschtsch und keiner, wie er in der Westukraine bereitet wird, sagt mein Vater. Auch sagt er, er habe sie aus Liebe geheiratet. Fragt man meine Familie nach dem Rezept, so gibt es trotz der kulturell und geografisch bedingten Variationen einen gemeinsamen Nenner: Fleisch. Alles andere sei Unsinn, sagt mein Vater. Ich frage mich, ob es Sinn macht, ihm von unserem Vorhaben zu erzählen, einen vegetarischen oder sogar veganen Borschtsch zu kochen. Oder ob ich ihn in die neusten Trends der Moskauer Gastro-Szene einweihen soll, die Kreationen wie Gazborschto, Ramen-Borscht und Tom Ka Borschtsch hervorgebracht haben. Ich entschließe mich ihn zu verschonen.

Politikum Borschtsch

Es besteht seit jeher ein Disput darüber wem die „Erfindung” des Borschtsch zu verdanken ist. In Polen, Rumänien, Moldawien und Litauen erheben sie den Anspruch auf die Pionierarbeit an der Rezeptur. Vor allem aber zwischen der Ukraine und Russland ist Borschtsch zum Politikum geworden. Im Mai 2019 brach in Sozialen Medien ein heftiger Streit aus nachdem auf dem offiziellen Twitter-Account des Außenministeriums der Russischen Föderation folgender Tweet erschien: „Ein zeitloser Klassiker, #Borsch ist eines der berühmtesten und beliebtesten #Gerichte und ein Symbol Russlands traditioneller Küche“.

Angesichts der Besetzung der Krim und des seit 2014 anhaltenden Krieges in der Ostukraine, wurde dieser Tweet von ukrainischer Seite als Kriegspropaganda gewertet, zumal die Ukraine Borschtsch als ihr Nationalgericht betrachtet. Der ukrainische Minister für Kultur und Informationspolitik Alexander Tkachenko zeigte sich empört und konterte mit folgendem Statement: „Borschtsch ist ein ukrainisches Gericht! Sich Territorien, Geschichte und Kultur anzueignen liegt seit über hundert Jahren im Geiste des Kremls. Wie Sie wissen, widersetzt sich das Ministerium für Kultur und Informationspolitik allen Fakes über die sogenannten „Errungenschaften“ der Russen, vor allem wenn sie versuchen sie uns zu stehlen! Ich bin überzeugt die Welt erkennt unser Nationalgericht an! Wie viele Internetseiten mit Borschtsch-Reklame sie auch erschaffen mögen, die Russen werden den Borschtsch nicht bekommen!”

„Internetseiten mit Borschtsch-Reklame“, meint er die jüngst veröffentlichte Google Arts & Culture-Plattform Раскуси Россию, auf der die kulinarischen Traditionen der russischen Küche und der Cusine ethnischer und kultureller Minderheiten in der Russischen Föderation vorgestellt werden. Dort findet der ukrainische Borschtsch seinen Platz unter den Top zehn original russischen Gerichten.

Der ukrainische Star-Koch und Kulturaktivist Jevhenij Klopotenko spricht dem Borschtsch eine Schlüsselrolle im Kampf um die Unabhängigkeit und nationale Identität zu. Er stellt klar, dass die kulinarischen Errungenschaften die nationale Identität ebenso definieren wie die Sprache und daher mit allen Mitteln verteidigt werden müssen. Borschtsch ist für Klopotenko mehr als eine Rote Beete Suppe. Es ist ein mächtiges kulturelles Phänomen. Darum stellt er 2019 einen Antrag bei der UNESCO den Borschtsch als ukrainisches Nationalgericht in die Liste des Weltkulturerbes aufzunehmen. Ihm zufolge hat sich die Sowjetunion die Gerichte anderer Nationen angeeignet und als diese zusammenbrach, hat sich Russland alle kulinarischen Errungenschaften zugeschrieben, so auch die der Ukraine.

Zugegeben, die nichtslawische Welt betrachtet Borschtsch als eine russische Spezialität, während Polen ihn nur als das geliebte Barszcz kennt. Auch dies ist problematisch, da die Hälfte der Ukraine mehrere Jahrhunderte von Polen besetzt war. Aus historischer Sicht kann eine Reihe von Kulturen Borschtsch als ihr Erbe feiern – Ukraine, Belarus, Polen und natürlich auch Russland.

Bärenklau

Historische Quellen belegen, dass Borschtsch erstmals im 14. Jahrhundert auf dem Territorium der Kiewer Rus gekocht wurde. Damals gab es dort aber noch keine Tomaten und keine Rote Beete. Der Borschtsch war daher graugrün.Die grüne Farbe verlieh ihm ein Gewächs, welchem er auch seinen Namen zu verdanken hat: Bärenklau, altsalvisch Бърщ (Brshch) genannt. Die Zubereitung des Borschtsch war damals schon recht zeitaufwendig aber simpel: Blätter und Stängel wurden mit Wasser übergossen und für etwa eine Woche an einen warmen Ort gestellt. Dabei setzte wie beim Sauerkraut eine Milchsäuregärung ein. Es entstand ein grüne Sole die als Suppenbasis diente. Bärenklau vermehrt sich schnell und sein Anbau wurde im 16. Jahrhundert im Bauernratgeber Домострое des Russischen Reichs wie folgt gepriesen:

„In der Nähe des Zauns, rund um den ganzen Gemüsegarten herum, dort wo die Brennnessel wächst, sollst du Bärenklau sähen und ab Frühjahr öfter für dich selber zubereiten: ihn gibt es nicht auf dem Markt, aber hier gibt es ihn immer; und mit denen, die in Not sind teile ihn um Gottes willen, und wenn der Borschtsch gut gewachsen ist, verkauf ihn und tausche ihn gegen ein anderes Gewürz ein”.

Im Laufe der Zeit wurde der Bärenklau durch Rote Rüben ersetzt, die aus Italien über Deutschland nach Polen und dann ins östliche Europa eingeführt wurde. Die Rote Beete gedieh im Osten sehr gut und ließ sich bis in den tiefsten Winter hinein lagern, wodurch es den Bärenklau fast vollständig aus der Kochbüchern verdrängte.

Borscht-Belt

Mit dem Begriff des Borschtsch-Gürtels hat sich der Eintopf in die europäische Topografie eingeschrieben und in den kollektiven Wissensarchiven verewigt. Laut Wikipedia umfasst der Gürtel die heutigen Staaten Polen, Rumänien, Ukraine und Belarus und zieht sich bis hin zu den durch Wolga und Don abgegrenzten Teilen Russlands.
Die inzwischen gebräuchliche englische Schreibweise des Borschtsch mit einem „t“ ist aus der jiddischen Transliteration abgeleitet, da die Suppe vor allem von jüdischen Flüchtlingen aus Osteuropa in den Westen gebracht wurde. Borschtsch wurde daher zum Namensgeber einer Urlaubsregion, die von osteuropäisch-jüdischen Emigrant:innen im Upstate New York gegründet wurde. Der Borscht-Belt avancierte in den Jahren zwischen 1920 und 1960 zum Ferien-Hotspot der jüdischen Community. In den Speiseplänen der Ressorts nahm Borschtsch einen prominenten Platz ein und fand so auch Eingang in die kulinarische Geschichte der USA.

Wir sehen also: Rezepte migrieren zusammen mit Menschen, deshalb ist Borschtsch heute weltweit beliebt. Ich möchte klarstellen: Borschtsch gab es bevor es Nationalstaaten gab. Borschtsch ist anti-national oder prä-national oder trans-national. Jedenfalls ist Borschtsch kein Nazi. Mahlzeit.

Julia Portnowa ist Teil des Kollektivs eastKost, das sich der Migration von Pflanzen und Speisen jenseits traditioneller kulinarischer Geografien widmet. Mehr dazu auf www.instagram.com/east_kost