Zwei Betreuer:innen von Wohngruppen für Menschen mit Behinderung über ihre Arbeit unter Covid-19 und sozialdarwinistische Logiken der aktuellen Krisenpolitik
Der nächste Corona-Winter steht an, bereits jetzt schon steigen die Fallzahlen rapide. Während Politik und weite Teile der Bevölkerung zurück zu einer „Normalität“ möchten, ist dies für viele Menschen nicht möglich. Bei Ihnen schlagen die Impfstoffe nicht an oder sie können sie aus gesundheitlichen Gründen nicht nutzen. Bleiben also weiter einem hohen Risiko ausgesetzt. So schreibt sich die sozialdarwinistische Trennung fort, die den Umgang mit der Corona-Krise von Anfang an prägt. Zugleich hat sich an den Arbeitsbedingungen von Sozialhackler:innen nur wenig gebessert. Hier veröffentlichen wir ein Interview, das Zoe* mit zwei Betreuer:innen von Wohngruppen für Menschen mit Behinderung in Wien im April diesen Jahres geführt hat, das die Problemlagen ins Zentrum stellt.
Vor einem guten Jahr hat der Lockdown begonnen. Wie habt ihr den Beginn der Pandemie in eurer Arbeit mit den Klient:innen erlebt?
Tina: Es war schwierig, von jetzt auf gleich wurden die Tagesstrukturen zugesperrt, unsere Bewohner:innen konnten nur noch zuhause sein. Dabei war es ungreifbar, wie lange das noch dauern wird. Schutzausrüstung hatten wir keine. Von der Schweinegrippe hatten wir noch Pandemiesets zum Spaß halber aufgehoben. Wir wollten schon lange ein Pandemie-Verkleidungsparty machen. Und weil wir am Anfang der Pandemie keine Schutzausrüstung hatten, haben wir die dann wieder aus dem Keller geholt.
Für unsere Klient:innen war das ziemlich befremdlich. Sie konnten auf einmal nicht mal in die Tagesstruktur, konnten nicht mehr raus, alle Betreuer:innen waren in Mundschutz und Plastikschürze – von jetzt auf gleich. Es hat auch viel an Kommunikation gefehlt, denn wir als Betreuer:innen wussten nichts, außer, dass es eine Krankheit gibt. Wir wussten nicht, wie gefährlich sie ist, wie sie sich anfühlt und wie lange diese Krise dauern würde. Das hat unsere Bewohner:innen sehr verunsichert.
Tess: Bei uns war es auf mehreren Ebenen schwierig. Ich hatte auch Angst um mich, weil ich selbst wegen meines Asthmas Risikopatientin bin. Da gab es sehr unterschiedliche Informationen von „du solltest gar nicht arbeiten“ bis „es ist egal“. Das war auch bei mir in der Arbeit sehr unklar. Wir haben viele Risikopatient:innen. Vieles war innerhalb des Vereins sehr schlecht kommuniziert, wir haben als Team viel improvisiert. Wir waren rechtlich schlecht beraten, wussten nicht ob und wie wir zusperren und Personen im Haus halten konnten. Wir hatten für uns Mitarbeiter:innen ein paar OP-Masken, aber keine für unsere Klient:innen und es gab keine Mittel, um Flächen und Hände zu desinfizieren. Wir mussten sehr kreativ sein: unsere eigenen Masken und Handschuhe haben wir gewaschen, um sie immer wieder zu verwenden. Bis heute haben wir keine Schutzausrüstung.
Wie seid ihr damals mit den Klient:innen umgegangen?
Tess: Wir haben damals viel improvisiert und versucht mit den Klient:innen darüber zu sprechen, was eine Pandemie ist. Für viele war es zu abstrakt und nicht zu fassen. Es war darum auch nur bedingt möglich, die Klient:innen zu überzeugen im Haus zu bleiben. Als die erste Person Symptome hatte, haben wir elf Tage auf ein Testergebnis gewartet. Weil die Person suizidal ist, konnten wir sie nicht isolieren und alleine lassen. Wir hatten große Angst davor, was passiert, wenn das ganze Haus oder wir uns infizieren würden. Denn unsere Arbeit als Betreuer:innen beruht auf Beziehungen, die sind nicht einfach austauschbar.
Ihr habt besonders große Unsicherheiten und Unklarheiten in der Kommunikation der Verantwortlichen geschildert. Welche Informationen habt ihr von Leitungen, Träger und Behörden erhalten?
Tina: Wir wurden förmlich mit E-Mails überflutet, wie neue Richtlinien von Seiten der Geschäftsführung. Noch immer gibt es quasi wöchentlich neue Richtlinien betreffend Schutzausrüstung, Besuchsregeln, Umgang mit Infizierten etc. Aber wir konnten diese Richtlinien teils überhaupt nicht umsetzen, weil wir etwa die Schützausrüstungen gar nicht hatten. Ausreichend Schutzausrüstung haben wir zum Beispiel erst bekommen, als in anderen Einrichtungen sich bereits Cluster gebildet hatten. Wichtige Dinge wurden aber auch gar nicht geregelt. Zum Beispiel, ob unsere Klient:innen in die Kirche gehen dürfen. Ich hatte große Angst, dass sie sich mit dem Virus infizieren und es in die Wohngruppe bringen.
Viele Richtlinien waren auch absolut sinnlos, etwa weil sich im Nachhinein gezeigt hat, dass sie keinen Infektionsschutz ermöglichen. Andere Vorgaben waren so, dass sie ganz banal unsere Arbeit schwierig gemacht haben. Zum Beispiel sind die Brillen ständig beschlagen, sodass wir nichts mehr sehen konnten. Viele E-Mails waren völlig inhaltsleer oder statt sinnvoller Informationen haben wir für unsere Arbeit völlig nutzlose Statistiken darüber bekommen, wie viele Personen bei unserem Träger infiziert sind.
Tess: Bei uns gab es am Anfang gar keine Vorgaben. Alles mussten wir selbst ausmachen, bei jedem Fall haben wir neue Strategien entwickelt. Dabei haben wir keine zusätzlichen Räumlichkeiten bekommen, die Klient:innen sind bei uns nicht quarantänefähig. Gleichzeitig wurden wir dafür von oben kritisiert. Es hieß etwa, dass wir zu viele Tests gemacht hätten. Generell mussten wir um die Tests kämpfen. Damals hattest du noch nur schwer einen Test bekommen, wenn du nicht aus einem Risikogebiet gekommen bist oder mit einer Covid-Positiven-Person Kontakt hattest. Wenn wir einen Test bekommen haben, dann wurde so getan, als wäre uns ein riesiger Gefallen getan worden.
Tina: Der Zugang zu Tests war auch bei uns ein riesiges Problem. Wir Mitarbeiter:innen dürfen auch erst seit zwei Monaten unsere Testzeiten als Arbeitszeit schreiben, davor war es „Freizeit“. Wenn es einen Covid-Fall in der Werkstätte gab, dann wurde die zwar zugesperrt aber unsere Bewohner:innen wurden natürlich nicht getestet – die hatten ja keine Symptome. Doch selbst wenn wir endlich die Zusage für Test für unsere Bewohner:innen bekommen haben, gingen die Probleme weiter. Denn wenn ein:e Bewohner:in nicht gurgeln kann, dann wird von den Testenden, die in die Einrichtung kommen gesagt: „Ja dann kann man eh nichts machen.“ Auf einen Nasenabstrich, der möglich wäre, wird einfach verzichtet. Es wird bereitwillig in Kauf genommen, dass wir unsere Klient:innen auf Verdacht für zehn Tage in ihrem Zimmer isolieren. Das zeigt für mich, wie wenig das Leben von Menschen mit Behinderung wert ist.
Die Vorgesetzten waren also wenig hilfreich?
Tina: Nein. Zum einen haben sie so weitergemacht, als wäre keine Pandemie. Zum Beispiel hat unsere Bereichsleitung mitten im ersten Lockdown einen Klienten aus einer Kinder-WG in unsere Wohngruppe übergeben. Das heißt auf einmal waren alle seine Bezugspersonen und die gesamte Umgebung ausgetauscht und die Betreuer:innen, mit denen er nun zu tun hatte, nicht nur komplett unbekannt, sondern zudem völlig eingehüllt in Schutzausrüstung. Er hat mit Fremdaggression darauf reagiert und uns körperlich angegriffen. Von unserer Bereichsleitung und Geschäftsführung wurden wir völlig allein damit gelassen. Fachberatungen konnten wegen Covid auch nicht kommen, um uns zu unterstützen. Zum anderen wurde von uns noch mehr Arbeit erwartet: Auf einmal hatten wir zehn bis zwölf Stunden Dienste, von denen von der Leitung angenommen wurde, dass wir das ganz selbstverständlich hinnehmen. Ich hatte das Gefühl, dass unsere Arbeit auch von unseren Vorgesetzen einfach nicht wertgeschätzt wird. Bis heute wird ständig vertröstet: „Wir arbeiten dran.“ Doch passiert ist bis jetzt nichts. Es werden wahnsinnig hohe Erwartungen an uns gestellt, die wir, weil wir wollen, dass es unseren Klient:innen gut geht, erfüllen und du persönlich bekommst nix dafür. Nur leere Worte. Ein „Ihr seid super“ am Ende jeder E-Mail bringt mir genauso wenig wie Klatschen vom Balkon.
Tina, du hast angesprochen, dass eure Dienstzeiten sich schlagartig verändert haben. Wie genau muss ich mir das vorstellen?
Tina: Wir mussten nicht nur mehr arbeiten, sondern konnten uns auch nicht mehr aussuchen, mit wem wir im Team zusammenarbeiten wollten. Du hast eine extrem fordernde Situation und dann musst du zwei Monate mit einer:m Kolleg:in zusammenarbeiten, mit der:m du dir schwertust. Außerdem sollten wir zustimmen, dass wir nun bereit sind bis zu 72 Stunden am Stück in der Dienststelle zu bleiben. Zudem kam die Angst: Wenn die Personen, die nach mir den Dienst machen sollen, auf einmal positiv sind, dann muss ich auf einmal noch eine extra Schicht im Betrieb bleiben.
Tess: Bei uns war das ähnlich. Statt einem sollte ich nun drei Nachtdienste in der Woche machen und ich habe oft weit mehr gearbeitet, als in meinem Arbeitsvertrag steht. Die Klient:innen waren nach wie vor total angespannt. Eine Klientin war massiv selbst- und fremdgefährdend. Wir hatten auch einfach Angst von ihr körperlich angegriffen zu werden. Die Arbeitsbelastung während der Stunden war höher, zugleich sollen wir länger arbeiten. Doch das ist nicht alles. Um unseren Job gut machen zu können, müssen wir abschalten und Pausen machen können. Aber wegen der Pandemie ist das Freizeitangebot total eingeschränkt. Außerdem sollst du dich am besten mit niemand mehr treffen, du könntest das Virus ja in die Wohngruppe tragen.
Tina: Ja, ich war anfangs super panisch, hatte große Angst den Virus in die Wohngruppe zu bringen. Denn viele unserer Bewohner:innen können sich nur schwer artikulieren – wie sollten wir dann wissen, ob eine:r erkrankt ist? Darum habe ich aufgehört in den Supermarkt zu gehen und habe mir die Lebensmittel liefern lassen. Aber die Angst war genauso auch anders herum da. Außerdem hatte ich riesige Sorgen meinen Vater anzustecken, weil ich den Virus auf der Arbeit bekommen könnte. Dabei hat gerade am Anfang der Träger sich rein gar nicht darum gekümmert, dass wir auf der Arbeit geschützt sind.
Wir haben bisher über die Anfangszeit der Pandemie gesprochen. Inzwischen dauert die Pandemie weit mehr als ein Jahr an. Was bedeutet das für euch als Betreuer:innen?
Tess: Normalerweise gibt es nach stressigen Phasen auf der Arbeit ruhigere Phasen. Es ist seit einem Jahr Notbetrieb. Seit einem Jahr lebe ich nur noch für die Arbeit, weil ich mich isolieren soll.
Tina: Gleichzeitig ist es inzwischen ein Gefühl einer völligen Perspektivlosigkeit. Am Anfang haben wir gedacht, es sind ein paar Wochen, das wurde uns ja auch auf den Pressekonferenzen vermittelt. Aber der Zustand dauert an und das Ende wird immer wieder neu aufgeschoben. Seit einem Jahr wird viel mehr verlangt, ohne, dass wir darauf vorbereitet worden wären und dass wir einmal runterkommen können oder es gute Unterstützungsangebote von den Trägern gibt. Ich kenne viele Leute in der Pflege, die in den letzten Monaten gekündigt haben, weil sie es einfach nicht mehr ausgehalten haben. Ich selbst arbeite nur noch, weil ich mir die Kündigung nicht leisten kann.
Tess: Es fehlt auch der Austausch unter der Kolleg:innen. Am Anfang gab es gar keine Supervisionen. Inzwischen sind sie online. Das macht es viel schwerer, Dynamiken im Team anzusprechen. Nicht jede:r hat schnelles Internet oder einen PC, der dafür notwendig ist. Auch der ganze informelle Austausch in Kaffee- oder Zigarettenpausen fällt weg. Das heißt, wir können uns nicht mehr darüber austauschen, wie es uns eigentlich mit der Arbeit geht, wie Kolleg:innen mit Situationen umgehen, die ich selbst fordernd finde etc. Das ist für mich das A und O, um gut arbeiten zu können und gerade jetzt, wo eine Krise ist, ist das nicht möglich.
Tina: Wir hatten ein ganzes Jahr lang weder Teamsitzungen noch Supervisionen. Erst jetzt, als eine Bewohnerin an Covid gestorben ist – und auch nur, weil wir wegen dem Begräbnis ohnehin getestet waren – haben wir uns zusammen setzen und drüber reden können, wie es uns geht. Allein aussprechen zu können und von Kolleg:innen zu hören, „mir gehts scheiße“, hat geholfen.
Tess: Dieses gehört werden hat für mich auch mit Wertschätzung zu tun, Wertschätzung, die ich mir von meiner Leitung wünschen würde. Indem wir als Team ausreichend Stunden bekommen, indem ich mehr Geld bekomme – weil meine Arbeit härter und anstrengender ist seit Corona. Abgesehen von diesem einmaligen Corona-Bonus von 500 Euro ist da nichts gekommen. Stattdessen entstand mehr und mehr der Eindruck, dass die eigene Arbeit von Ressourcenarmut bestimmt ist. Weil man nicht gehört wird, kein Geld bekommt, keine adäquate Ausstattung bekommt. Das fühlt sich scheiße an. Das muss endlich ein Ende haben.
Tina: Ja, absolut. Bei uns hat der Träger sich am Anfang geweigert, den Corona-Bonus, der im Tarifvertrag vereinbart wurde, auszuzahlen. Es wäre kein Geld da. Wir mussten ihn uns erst erstreiten. Selbst dann haben Hilfskräfte, die nicht genug Stunden hatten, ihn gar nicht bekommen. Sie hätten „nicht genug Überstunden geleistet“. Dabei sind diese 500 Euro absolut lächerlich, wir hätten sie jeden Monat verdient, weil unsere Arbeit durch Corona viel härter ist.
Tess: Diese 500 Euro hätte ich gut brauchen können, um davon Therapie zu zahlen, um meine Arbeit zu verarbeiten.
Tina: Ja, oder dass der Träger einfach Supervision anbietet. Es muss ja nicht immer monetäre Anerkennung sein. Aber nichts davon ist passiert.
Tess: Auch daran zeigt sich, wie wenig unsere Arbeit mit Menschen mit Behinderung anerkannt wird. Aber es ist nicht nur eine Frage der Träger. Für mich war die Erfahrung des Tarifabschlusses und zugleich der absurden Summen, die für die Rettung der Austrian Airlines in die Hand genommen wurden, absolut niederschmetternd. Seitdem habe ich eine unendliche Wut in mir.
Wir haben bislang über die Auswirkungen auf eure Arbeit als Betreuer:innen und euch gesprochen, was bedeutet die fortdauernde Pandemie eurer Einschätzung nach für die Klient:innen?
Tina: Meine Wahrnehmung ist, dass für sie am schlimmsten ist, dass sie gesellschaftlich noch unsichtbarer sind als davor schon. Dass das Leben einer Person mit Behinderung gesellschaftlich viel weniger wert ist als das eines „gesunden“ Menschen hat sich noch mehr zugespitzt und ist noch deutlicher sichtbar geworden. Egal wer vom öffentlichen Dienst mit uns zu tun hat, es fallen alle Fassaden, auch vom Fahrtdienst oder der Rettung. Da heißt es dann: „Die Leute sollen doch weggesperrt werden.“ Mein Eindruck ist, die Leute sollen gar nicht mehr existieren. Der Fonds Soziales Wien hat 14.000 Kund:innen und für Menschen mit Behinderung haben die Krankenhäuser in Wien im ersten Lockdown kaum Betten bereitgehalten. Es ist ein total sozialdarwinistischer Umgang mit Menschen mit Behinderung. Ihr Leben ist es nicht wert, geschützt zu werden, denn sie werden eh keine produktiven Arbeitskräfte mehr sein. Das ist eine sehr beängstigende Logik. Die wirkt sich auch dadurch aus, dass gesellschaftlich wenig Bemühungen unternommen werden, unseren Klient:innen irgendetwas zu ermöglichen. Ihnen wird vermittelt, sie sind nur ein Problem. Was sie davor an Freizeitangeboten oder Beschäftigungen hatten, ist ihnen genommen und wir als Wohnkontext sollen nun improvisieren. Von Seiten der Gesellschaft kommt da nur: „Unser Leben ist in der Pandemie schon anstrengend genug, wir können uns nicht um euch kümmern und wollen nicht auch noch mit euch und euren Problemen konfrontiert sein.“ Das ist sehr schmerzvoll für unsere Klient:innen. Dazu kommt auch wie sie im öffentlichen Raum angefeindet werden.
Tess: Das ist auch mein Eindruck. Auch im nationalen Impfplan wurden Menschen mit Behinderung zunächst vergessen. Menschen mit Behinderungen werden ab einem gewissen Grad der Behinderung bei Covid nicht intubiert, sie erhalten eine schlechtere Versorgung im Krankenhaus. Auch zu den Testverfahren, die für Kinder in der Schule verwendet werden, haben unsere Klient:innen etwa für die Werkstätten keinen Zugang. Schließlich funktioniert der Modus der Isolation nicht, der als allgemeine Antwort auf die Pandemie gegeben wurde. Unsere Klient:innen sind zum Teil nicht quarantänefähig, du kannst sie nicht für Tage in ein Zimmer isolieren. Ausweichräumlichkeiten werden nicht bereitgestellt und darum muss die ganze WG in Quarantäne, wenn ein:e mobile:r Mitbewohner:in Covid positiv ist. Unsere Klient:innen werden in den Diskussionen in der Politik, den Medien und der Gesellschaft nicht wahrgenommen. Dazu kommt für unsere Klient:innen, dass sie einfach seit einem Jahr in ihren Wohnkontexten feststecken – bis auf die Phasen, in denen die Werkstätten aufmachen – und sie merken, wie alle um sie herum, die Leute, von denen sie abhängig sind, immer angespannter und gestresster werden. Sie spüren die Krise, aber weil sie teils nonverbal sind, können wir uns darüber nicht mit ihnen verständigen. Außerdem merke ich, wie ich immer weniger Beziehungsangebote mache oder auf sie eingehe.
Wir hatten ein Corona-Cluster in der WG. Für unsere Bewohner:innen hat das bedeutet, dass wir nur noch in ihr Zimmer gekommen sind, um sie zu waschen und ihnen beim Essen und beim Trinken zu helfen und kaum noch auf sie eingegangen sind.
Bis heute machen wir uns als Gesellschaft viel zu wenig Gedanken darüber, wie wir eine abstrakte Bedrohung, wie eine Pandemie, Menschen erklären, die nicht Sprechen oder Lesen können. Wie es ihnen mit ihr geht, interessiert unsere Gesellschaft noch weniger. Sie fragen wir nicht, obwohl sie in ihren Leben noch viel stärker durch die Pandemie eingeschränkt sind als viele nicht behinderte Personen.
Der Anspruch deines Trägers, Tess, ist ja insbesondere, die Ausschlüsse und die Verdrängung von Menschen mit Behinderung aus dem öffentlichen Raum, die ja in der Pflege und Betreuung von Menschen mit Behinderung dominant sind, aufzubrechen. Inwiefern gelingt das euch?
Tess: Es ist schwer. Wir geben uns Mühe, ihnen eine gute Zeit zu ermöglichen, raus zu gehen, Ausflüge zu machen. Ich gebe Bildungsangebote und spüre den Durst von den Klient:innen, sich mit etwas zu beschäftigen, Input zu bekommen. Generell ist unsere Struktur so, dass wir niemanden einsperren. Die Bewohner:innen können von einer Bezugsperson Besuch bekommen. Das heißt aber im Umkehrschluss, dass wir gerade auch mit den jungen Leuten bei uns, die viel Besuch bekommen, viel verhandeln, viel über Solidarität reden, damit unsere stärker vulnerablen Bewohner:innen noch geschützt sind. Wir müssen da einen Mittelweg finden. Das ist oft nicht leicht.
Wie ist das bei euch, Tina?
Tina: Wir halten uns an die Regelungen der Regierung. Das heißt, Besuche waren lange Zeit nur in den Zimmern möglich und nur eine beschränkte Anzahl und getestet. Das hat dazu geführt, dass es weniger Besuch gab. Letztlich kommen wir als Betreuer:innen dann in die Position, darüber entscheiden zu müssen, wer rein darf. Das ist sehr fremdbestimmt für die Bewohner:innen. Als Alternative hat unser Träger Tablets organisiert, damit die Bewohner:innen mit Angehörigen skypen können. Aber auch das ist kompliziert, wenn wir etwa als Betreuer:innen das Tablet über die ganze Zeit halten müssen, weil die Klientin das nicht kann. Das sind dann Einzelbetreuungen für die uns das Personal fehlt. Diese Logik des Personalmangels greift auch, wenn Bewohner:innen Angehörige besuchen. Natürlich können wir nicht kontrollieren, ob wirklich alle, mit denen die Bewohner:in außerhalb der Einrichtung Kontakt hat, getestet sind, auch wenn die Angehörigen uns das versichern müssen. Aber weil wir einfach überfordert sind in der aktuellen Situation, ist es eine sehr große Entlastung zu wissen, dass ein:e Klient:in einen Tag oder zwei nicht im Haus ist. Weil wir angesichts der andauernden enormen Arbeitsbelastung einfach nicht mehr können, gehen wir das Risiko, dass uns der:die Klient:in Corona ins Haus schleppt, ein.
Tess: Absolut, wir sind in derselben Situation. Es ist eine enorme Dynamik im Haus, wenn über ein Jahr ständig alle zuhause sind und keine:r etwas anderes sieht. Das lässt sich nicht halten. Auch wenn es ein enormes Risiko bedeutet. Wir werden zu dieser Entscheidung gezwungen, weil seitens der Politik und der Träger keine Lösungen gefunden werden.
Was würdet ihr euch angesichts dessen von der Politik und von den Trägern für eure Arbeit wünschen?
Tess: Mehr Klarheit und Anleitungen, wie wir mit Situationen umgehen können und schließlich Fahrpläne, wie es weitergehen soll. Aber vor allem mehr Stellen und Stunden in dem Bereich und eine bessere Entlohnung. Weder geht es an, dass wir ständig improvisieren müssen, mit der Unsicherheit zu tun haben, dass wir spontan 16,17,18 Stunden Schichten schieben müssen. Auch ist der Tarifvertrag in keiner Weise hinnehmbar. Diese Kritik geht auch an die Gewerkschaften. Nie war mehr gesellschaftliches Bewusstsein für die Bedeutung von Pflege und am Ende steht ein derart schlechter und so lange geltender Tarifabschluss. Es wird nicht anerkannt, dass wir eine Arbeit machen, dass wir nicht aus Nächstenliebe für lau arbeiten. Und auch die eugenische und menschenfeindliche Logik in Bezug auf Menschen mit Behinderung muss enden.
Tina: Einmal muss die Marginalisierung von Menschen mit Behinderung enden und dass sie notorisch an den Rand der Gesellschaft gedrängt werden. Dabei geht es auch um Ressourcen. Zum Tarifvertrag hast du alles gesagt, Tess. Er war für mich der Anlass die Gewerkschaft nach Jahren zu verlassen. Aber es ist ein gesamtgesellschaftliches Problem. Die Politik in der Corona-Krise hat einmal mehr gezeigt: Für alles ist Geld da außer für den Sozialbereich. Das scheint auch der gesellschaftliche Konsens, denn der große Aufschrei ist ja ausgeblieben. Eine konkrete Forderung für mich wäre, dass die Verletzungen des Kollektivvertrags, zum Beispiel Überstunden und Nicht-Einhalten von Ruhezeiten in der Pflege, tatsächlich zu Strafzahlungen führen, welche der Arbeitgeber bezahlen muss. Diese sollten direkt der Arbeit mit Menschen mit Behinderungen zweckgebunden zukommen.