Für die MALMOE-Literaturseite schreiben Katharina Pressl und Marie Luise Lehner über das Wohnen, manchmal hochpolitisch oder eindringlich, manchmal humorvoll oder seicht. Dieses Mal behandeln die Texte Albernheit und Kindergartenalltag.
Folge 2: Eine Fliege am Küchentisch, alle Hunde sind Männer
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Vielleicht werden wir langsam albern
Nachdem ich viele Wochen alleine in der Wohnung gesessen bin und versucht habe, keine zu großen Portionen zu kochen, ist jetzt eine junge Amerikanerin im Durchgangszimmer zum Bad. Sie hat von der Stadt nichts gesehen; seit sie angekommen ist, ist alles außer den Supermärkten geschlossen und das Wetter durchwegs grau. Sie liebt das dunkle Brot. Sie kocht Linsengerichte. Wir probieren einen Sauerteig anzusetzen und nennen ihn Tarsha, wie das Kleinkind, auf das sie regelmäßig aufpasst und dem sie Englisch beibringen soll. Während sie mit dem Kind spielt, nutzen die Eltern die gewonnene Zeit, um zu arbeiten, um aufzuräumen. In unserer ganzen Stadt und fast jeder Stadt der Welt sitzen Leute eingesperrt in ihren Wohnungen. Tarsha, der Sauerteig, wächst schnell, wie das Kleinkind. Die Avocadokerne, die keine Wurzeln bekommen wollen, heißen Maksim, Lotta und Anna. Jeden Tag begutachten wir das Wachstum des Teigs und das Nichtwachstum der Kernwurzeln. Auf Deutsch könnte man sagen, „the ceiling falls onto our heads“, sage ich, oder ist es abends die Bettdecke? Wir betrinken uns mit einem halben Bier am Küchentisch. Wir bringen den Glasmüll hinaus. Wir schrubben auf Knien das Parkett. Wenn wir wollen, kommt immer Dreck heraus, und es fühlt sich wie Sport an, nach nützlicher Arbeit, nach Abwechslung, danach, etwas getan zu haben. Wir reden darüber, dass wir den Dielen Namen geben könnten, den Tomatensamen, die in den Ziehkästen wachsen sollen. Die Flasche mit dem Zitronensaft heißt Gisela, die externe Festplatte Kathleen Hannah, die Zuckerdose Robyn. Wenn in einem der Podcasts, die wir hören, Konzerte angespielt werden oder Geschichten vorkommen vom Autostoppen durch Länder, in denen Sommer ist, halten wir uns die Ohren zu. Auf der Karte zeige ich der neuen Mitbewohnerin, wo in Europa sie überall hinfahren könnte. Wir sehen uns Bilder von Stränden und Städten an, sie war bisher nur einmal in Berlin, sonst kennt sie den Kontinent nicht. Jemand hat sie in einen Gruppenchat mit achtzehn anderen Leuten hinzugefügt. Alles unbekannte amerikanische Telefonnummern. Ein paar Leute schreiben: „Bitte nehmt mich aus der Gruppe.“ Eine Nummer mit einer Vorwahl aus Kalifornien schreibt mehrmals: „Hallo“. Schreibt mehrmals: „Wer bist du?“, schreibt: „Ich heiße Luis, wer bist du?“ Sie sitzt am Küchentisch, ich rühre im Sauerteig, als sie mir das Handy reicht, um mir den Chat zu zeigen. „Hallo, ich bin Tarsha“, schreibe ich. „Kennen wir uns?“, fragt Luis. Ich setze mich neben die Mitbewohnerin an den Tisch. Wir hätten uns auf einer Poolparty kennengelernt, wir. Er komme aus Ukiah, da sei er auch gerade, zu Besuch bei seinen Eltern, schreibt er. Wir kämen aus der Schweiz, schreiben wir, das beeindruckt ihn. Wie alt wir seinen? Wir seien 32, schreiben wir, er sei 34, antwortet er. Wir fühlen uns, als wären wir zwölf, kichern, als hätten wir uns das erste Mal bei einem sozialen Netzwerk eingeloggt. Wir können fünf Sprachen, schreiben wir: Schweizerdeutsch, Kroatisch, Kasachisch, Englisch, Russisch. Luis könne zwei Sprachen, seine Eltern kämen aus Mexiko. Unsere Mutter käme aus der Schweiz, unser Vater aus Kasachstan, drum das Kasachisch. Wir verstünden auch ein wenig Deutsch, schreiben wir, „Hallo, wie geht’s?“, schreiben wir auf Deutsch „Wow“, schreibt er, das seien sehr viele Sprachen! Er fragt, ob wir ihm ein Foto von uns schicken können, wir fotografieren eine Frau aus einer Zeitschrift ab. „Schick noch eines“, schreibt er, „Geht nicht“, schreiben wir, „ich bin in einem Wald in den Bergen zelten und es ist drei in der Früh.“ Wir schicken ein schwarzes Foto. Wir kichern. Er fragt, ob wir alleine campen. Nein, wir wären mit unserem Hund Coral unterwegs. Er schickt uns ein Bild von sich. Achtzehn Leute lesen schweigend mit, während wir mit Luis chatten. Niemand will mehr aus der Gruppe entfernt werden. Er fragt, ob wir verheiratet seien, wir schreiben, „zweimal geschieden“. Das tue ihm leid, er schreibt dreimal „Sorry“ und fragt, was passiert sei. „Es gab viele Affären“, schreiben wir. „Meinerseits“, schreiben wir. Ob wir betrogen hätten, fragt Luis. So würden wir es nicht nennen, antworten wir. Wie wir es nennen würden? „Freie Liebe“, reiben wir. Luis schickt ein Herz. Eine Fliege setzt sich auf den Küchentisch und reibt die Vorderbeine aneinander. Irgendwann schreiben wir, dass wir müde seien, es sei kalt im Zelt und schon so spät. Er wünscht uns schöne Träume. Wir wünschen eine gute Nacht und schicken ein Emoji mit zwei tanzenden Buben in Gymnastikkostümen. „LOL, was ist das?“, schreibt er. „Das sind wir“, antworten wir, „du und ich, tanzend, in unseren Träumen.“ „Freundin“, schreibt er, „schön dich kennengelernt zu haben“, schreibt er. „Danke für das Gespräch, Tarsha“, schreibt er, „schade, dass du am anderen Ende der Welt bist.“ Er schickt das Bild von einem Globus.
Marie Luise Lehner
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In diesem guten Hause
Die erste Tür ist offen, bei der zweiten muss ein Code eingegeben werden. Seit Monaten heißt es, bald gibt es einen neuen, weil einige Eltern die Kinder hochheben, um sie den Code eingeben zu lassen. Von innen habe schon einmal eines der Kinder versucht, mit dem Bobby-Car zum Türöffner zu fahren, auf das Bobby-Car zu steigen – aber dann fehlten noch zwanzig Zentimeter bis zum Schalter, der die Tür öffnet. Wenn die Tür zu lange offen ist, ertönt ein Alarm. Manchmal tönt der Alarm einfach so, weil die Mechanik der Tür spinnt, meistens ignorieren alle Erwachsenen den Alarm.
Hinter der dunkelblauen Garderobentür sind 20 Fotos von Kindern, auf den Haken hängen Gatschhosen, Skihosen, Jacken, Radfahrhelme und Reservegewandsackerl, wenn das Gewand zu dreckig oder diversen Gründen nass ist. Auf der Ablage darüber Schals, Hauben, Fäustlinge, Handschuhe. Unter den Sitzplätzen liegen Patschen, alte Patschen, Gummistiefel und Winterstiefel.
Hinter der dunkelblauen Gruppentür gibt es 20 Laden mit 20 Fotos von den Kindern. Dahinter verschwinden glitzernde Bastelmaterialien, Knöpfe und Spangerl von anderen Kindsköpfen, Zeichnungen mit Namen und Datum, fingergestrickte Armbänder, Fensterschmuck, Beile und Revolver aus Karton.
Drinnen schreit Sisi, ein Bub habe ihr weh getan, und Franz schreit, er sei es sicher nicht gewesen. Maria Theresia läuft im Kreis und ruft: „Ich habe mir froh gemacht, ich habe mir froh gemacht!“ Am Jausentisch sitzen drei kleine Karls im stillen Wettstreit mit dem Paprika vor ihnen, wer Gemüse mehr ähnelt. Bald werden sie auftauen und sich auch froh machen, werden nach der Jause Händewaschen, das Papiertuch in die Luft werfen und beim Hinausgehen gegen den Mistkübel treten.
Sisi sitzt am langen Tisch und malt Fledermäuse, kleine Hunde, alle namens Chico, Katzen und Menschen mit Kreuzen statt Augen. Sie zeigt einer Erwachsenen ihr Bild. Die Erwachsene schlägt Namen für die Tiere vor, zum Beispiel Garfield. Sisi sagt, das gehe nicht. Alle Katzen sind Frauen und alle Hunde sind Männer namens Chico. Die Erwachsene erzählt Sisi von Katern und Hündinnen, Welpen und Katzenbabys. Sisi sagt, es gäbe nur Frauenkatzen und Hundemänner und diese Menschen hätten Kreuze statt Augen, weil sie tot seien.
Leopold ist gekommen, er weint ohne Ton in sich hinein, wie alle zwei bis drei Wochen, niemand weiß warum. Sobald ein Erwachsener ihm eine Partie Ubongo anbietet, wird es wieder gehen. Er wird Zugstrecken bauen und „Bitte beachten Sie, dass in den Verkehrsmitteln sowie in allen Stationen FFP2-Maskenpflicht herrscht“ vor sich hinmurmeln. Bis zum Mittagessen, bei dem er nicht mehr als drei Krümel isst, ausgenommen es gibt Schnitzel, Kürbiscremesuppe oder Marmorkuchen. Eine Stunde nach dem Mittagessen wird Elisabeth fragen, ob es schon Mittagessen gegeben habe oder nicht.
Im Morgenkreis bildet sich wieder ein dunkler Fleck auf Maria Theresias Sitzpolster. Franz redet vor sich hin, erzählt vom Hydraulikaufsatz des Traktors seines Vaters, versucht die Erwachsenen zu übertönen, ruft, ob er nun endlich einmal etwas sagen dürfe. Leopold zeigt auf, weil er weiß, welcher Kindergartentag heute ist. Zuerst wird ein:e Erwachsene:r eines von den Gemüsekindern fragen, sie werden „Guten Tag“ antworten, „Montag“ oder gar nichts, während sie gebannt Franz beobachten, der mittlerweile einen Gabelstapler imitiert. Ein:e Erwachsene:r wird Leopold auffordern, das zu unterlassen. Leopold wird sagen, dann gehe er halt nach Hause, hole seine Werkzeuge und zerstöre den ganzen Kindergarten.
Im Garten sitzt Otto in der Schaukel und die Karls in der Sandkiste, Sand ausspuckend. Ferdinand taucht Otto an und ruft „Hoden, Hoden!“ Dann wirft er einen Ball auf Otto. Otto lacht. Dann wirft Ferdinand einen Kübel auf Otto. Ein:e Erwachsene:r fordert Ferdinand auf das zu unterlassen. Ferdinand greift nach der Schneeschaufel. Ein:e Erwachsene:r ruft laut und warnend Ferdinands Namen. Ferdinand beginnt zu weinen, während Otto versichert, dass er es Ferdinand sehr wohl erlaube, die Schaufel auf ihn zu werfen.
Sobald Otto abgeholt ist, zottelt Ferdinand hinter einer Erwachsenen her und Sisi fragt, ob sie wie ein Baby gehalten werden könne. Es wird langsam dunkel. Für morgen ist gutes Wetter angesagt und es gibt Schnitzel.
Katharina Pressl