MALMOE

Ein digitaler Salon für Queers

Velvele.net, die Plattform für die türkische LGBTIQ+-Community, wird ein Jahr alt

Velvele beweist, dass eine andere Öffentlichkeit möglich ist. Auch in der Türkei. Die unabhängige, kollektive Online-Plattform, deren Inhalte von der türkischen LGBTIQ+ Community produziert werden, möchte sowohl ihre Mitwirkenden als auch die Lesenden empowern. Ihre Einzigartigkeit ist wohl auch diesem kollektiven Geist zu verdanken. Vor einem Jahr entstand so ein Raum und Ressourcen, in dem LGBTIQ+ und queere Erinnerungskultur ihren Platz finden. Senem Kahraman hat mit Bawer Murmur, Ari P. Büyüktaş und İlker Hepkaner über digitales Publizieren,Populärkultur und digitalen Aktivismus gesprochen.

Senem Kahraman: Ihr habt Velvele im Februar 2020 gestartet, kurz danach begann die Pandemie und alle versuchten sich schnell an die damit einhergehenden Veränderungen anzupassen. Die Fülle an digitalem Content explodierte. Wie seid ihr als Team zusammengekommen und wie haben diese Umstände die Identität und Haltung von Velvele bestimmt?

Bawer Murmur: Am Anfang habe ich erstmal einfach eine Domain registriert. Kurz darauf hab ich Ari dazu geholt. Ehrlich gesagt gab es keinen anderen Plan als den Fokus auf die Agenda und persönliche Perspektiven aus der LGBTIQ+ Bewegung zu legen. Dann trat Covid-19 jedoch in den Vordergrund und alles war plötzlich viel schwieriger – wie du gesagt hast. Doch die Pandemie und die Stimmung, die sie verursachte, wirkte sich seltsamerweise positiv auf Velvele aus. Während die Welt zitterte und unser Leben auf den Kopf gestellt wurde, hatte Ari die Idee mit dem Podcast. So fing alles an.

Ari P. Büyüktaş: Ich sehe Velvele als eine Art digitalen Salon, in dem sich LGBTIQ+-Personen ausdrücken können. Stell dir einen dieser Salons vor, in denen sich reiche, weiße Cis-Männer treffen, mit einem Whisky in der Hand am Kamin sitzen und über Politik, Kultur und Kunst reden – davon das Gegenteil und natürlich digital. In einer Zeit, in der wir mit so vielen Hindernissen kämpfen müssen, versuchen wir einerseits zuzuhören, andererseits selbst gehört zu werden und unsere Ideen und Gefühle zu teilen. Ich sehe in Velvele eine Alternative zur Vereinzelung, die über die grundsätzliche Offenheit Sozialer Medien hinausgeht. Denn wir bestimmen alle gemeinsam die Richtung, in die diese Reise gehen wird.

İlker Hepkaner: Als es mit Velvele gerade losging, kontaktierte Bawer Sezgin İnceel und mich für ein Interview über Yine Yeni Yeniden 90’lar, einen Podcast, den ich gemeinsam mit Sezgin recherchiert und produziert habe. Später schrieb ich dann Album-Rezensionen für Velvele. Bereits da hab ich gemerkt, dass wir ähnliche Vorstellungen haben und ganz gut zusammenpassen. Bawer bemüht sich sehr darum, auch Texte anderer Autor*innen zu veröffentlichen. Das zu sehen, gab mir zum einen Kraft meine Ideen aufzuschreiben und zum anderen auch Inspiration für neue. Also klopfte ich wieder bei Velvele an und fragte, ob sie Lust auf queere Literatur hätten – so wurde die Literaturabteilung geboren. Im Lauf des Jahres haben wir die Reihe Lubunya Şairlerin Dizeleri Dile Geliyor (Let’s talk – Queer Poets Voice in Verse) gestartet, in der wir fremdsprachige Gedichte ins Türkische übersetzen und LGBTIQ+-Dichter*innen eine Bühne geben, auf der sie ihre Geschichten und Essays präsentieren können.

BM: Einige Dinge entstanden wirklich organisch und gar nicht nach Plan. Aber bei einer Sache waren wir uns von Anfang an einig: Diese Website sollte nicht nur Inhalte produzieren, sondern hatte auch zum Ziel alle Mitwirkenden und Leser*innen in diesen schrecklichen Zeiten zu bestärken. Wir möchten der türkischen LGBTIQ+-Community eine Stimme geben und mit unserer Plattform eine gemeinsame Erinnerungskultur herstellen. Und wenn ich jetzt auf dieses letzte Jahr zurückblicke, dann sieht es ehrlich gesagt gar nicht schlecht aus.

Es tut so gut, dass es auch in der Türkei öffentliche Plattformen gibt, die auf die Probleme von LGBTIQ+ aufmerksam machen, die dich verstehen und dieselbe Sprache sprechen. Welche Fragen leiten euch und wovon zehrt ihr bei der Erstellung von Inhalten?

İH: Bawer hat vorhin schon erwähnt, dass der Kampf um die Rechte von LGBTIQ+, der Kampf um freie Meinungsäußerung und unsere Themen ansprechen zu können, im Mittelpunkt unserer Arbeit stehen. Ob ich einen Artikel für Velvele schreibe, oder live für die Macera Dolu Amerika-Reihe auf Instagram sende oder neue Vorschläge für die Textübersetzung beurteile – ich frage mich immer, wie wir eine Alternative zur Oberflächlichkeit des Mainstreams, zur Heteronormativität und Konformität schaffen können. Leider bilden gute Recherchen, kritisches Denken und Methoden selten die Grundlage für türkische Medien. Für uns ist von zentraler Bedeutung, diesbezüglich die Medienberichterstattung über die Belange von LGBTIQ+-Agenden zu verändern.

In dem Beitrag „İyi ki doğdun Velvele“ (Happy Birthday, Velvele) schreibt ihr, dass Velvele „eine Alternative zu männlichen, hierarchischen, trans-/homophoben, sexistischen, speziesistischen, rassistischen und klassistischen Plattformen sein soll“, die „durch die Öffnung des Raumes für LGBTIQ+“ wächst. Mittlerweile seid ihr eine kollektive Plattform. Wie funktioniert das für euch?

AB: Mich reizt als Redakteur*in an Velvele am meisten, dass dieser kollektive Produktionsprozess ganz organisch abläuft. Unsere kollektive Struktur hat sich so ergeben, dass Leute unsere Inhalte gut fanden und geteilt haben und irgendwann selbst ihre Texte oder andere Inhalte auf Velvele teilen wollten. Natürlich müssen wir diese vorgeschlagenen Inhalte durch die in der Frage beschriebenen Filter laufen lassen. Ich muss sagen, dass diese Filter auch tatsächlich unverzichtbar sind. Insbesondere in den letzten zwei oder drei Jahren haben wir gesehen, dass transphobe Diskurse unter dem Namen der Gedankenfreiheit vollkommen unproblematisch veröffentlicht werden konnten. Und das selbst in Kanälen, die sich selbst als progressiv bezeichnen würden. Wir begegnen Medien, die eine Sprache der Gewalt verbreiten, die einen Diskurs unterstützen, der direkte Gewalt zum Ausdruck bringt, indem sie sich hinter dem Konzept der Meinungsfreiheit verstecken. Im Verlagswesen, wie in vielen Bereichen des Lebens, tritt eine solche Heuchelei hauptsächlich bezogen auf Trans-Personen und Körperpolitik auf, was kein Zufall ist. Es ist offensichtlich, dass bei diesen Themen die Progressivität oft endet.

Digitale Plattformen arbeiten augenscheinlich mit beeindruckender Geschwindigkeit. Es müssen laufend neue Inhalte produziert werden, um von den Klicks leben zu können. Das ist gleichzeitig das größte Hindernis bei der Erstellung eines authentischen Inhalts. Wie geht ihr mit dieser Geschwindigkeit auf digitalen Plattformen um? Wie schafft ihr es, authentische Beiträge zu produzieren?

BM: Als jemand, der als Journalist für digitale Medien gearbeitet hat, verfluche ich manchmal diese Welt, weil das Verfolgen und Verstehen der Agenden, der Diskussionen, der Entwicklungen und ihrer Hintergründe sowie das Recherchieren von Quellen manchmal sehr anstrengend sein kann. Wir müssen uns in Erinnerung rufen: Wir sind nicht durch Klicks zum Leben erwacht, und werden auch nicht ohne sie sterben. Wir möchten ein Verständnis für queere Themen und einen queeren Raum schaffen wollen. Wir wollen nicht in der Kurzlebigkeit der Klicks gefangen sein, sondern eine Ressource schaffen, die beständig ist und über die Leute sich langfristig informieren können. Dabei werden wir nicht der Klick-Besessenheit zum Opfer fallen, das wollen wir nicht. Die Kämpfe der LGBTI+ Community sind bis heute meist verbal geführte Kämpfe. Der schriftliche Ausdruck begann lange später. Wir glauben an die Einzigartigkeit der Geschichte eines/r jeden und bemühen uns, jedem/jeder einen Raum zu geben, sich auszudrücken. Als wir anfingen zuzuhören, stellten wir fest, wie viele interessante, lehrreiche und wertvolle Geschichten es gab. Jede/r hat eine Geschichte zu erzählen, eine Motivation, und sie sind oft einzigartig und authentisch, wir müssen ihnen nicht erst zusätzlichen Glanz verleihen. Wir übertragen diese Geschichten, ohne zu zerstören, das macht ihre Authentizität aus.

In dieser Welt hat sich die toxische und männliche Sprache von überall her manifestiert. Welchen Weg habt ihr gefunden, eine eigene Sprache aufzubauen und konstruktive Diskussionen voranzutreiben?

BM: Wir kommen aus einer Geschichte des Kampfes, die spricht, erzählt und vermittelt. Erfahrungen mit Mobbing, Ausgrenzung und Diskriminierung, die wir aufgrund unserer sexuellen Orientierung/Geschlechtsidentität in unserer Kindheit und frühen Jugend erlitten haben, haben uns damals zum Schweigen gebracht, unsere Stimme geraubt. Wir haben dies unzählige Male von anderen Menschen gehört, mit denen wir zusammenkommen. Wir möchten dieses Schweigen brechen. Mit jedem Satz beginnt eine Geschichte. Mit jeder Geschichte fügen wir unserer eigenen Sprache eine neue Festigkeit und eine neue Farbe hinzu. Als Herausgeber wollen wir zu dieser Entwicklung der Beziehungen zu unserer Sprache beitragen und sie anderen schenken, die genau diese Sprache brauchen. Letztendlich sollen sie zu fühlen bekommen, dass sie nicht alleine sind, dass wir nicht alleine sind. Diese Sprache ist organisch, offen für Entwicklung und hat eine Kraft, die sowohl die Sprache selbst als auch ihre/n Sprecher*in verändert. Und jede/r Einzelne fügt dem neue Dinge hinzu und erweitert damit den Rahmen der Sprache. Wir bemühen uns, diesen Fluss nicht zu stören, sondern ein Teil davon zu sein. Zwischen den Leser*innen und Velvele gibt es keine Mauer. Unsere Leser*innen sind ein Teil von Velvele, genauso wie Velvele ein Teil des Kampfes von LGBTIQ+, dieser Kultur und dieser Community ist.

Dieses Interview wurde zuerst auf Türkisch auf der digitalen Plattform Dadanizm veröffentlicht. Für MALMOE hat Makbule Temel Auszüge aus dem Text übersetzt. Hier geht es zum ganzen Interview.