Die kurze Geschichte einer Region zwischen Krieg und Subkultur
In den vergangenen sieben Jahren hat sich die Lebenswelt der Bewohner*innen des Donbass drastisch verändert. Zuerst mussten sie mit ansehen, wie ihre Städte zu Kriegsschauplätzen wurden und dann Teil selbsternannter neo-sowjetischer Volksrepubliken. Der militärische Konflikt zwischen pro-russischen Separatisten auf der einen und dem ukrainischen Staat auf der anderen Seite dauert bis heute an. Hunderttausende Einwohner*innen haben aus diesem Grund den Donbass bereits verlassen und sind in friedlichere Regionen der Ukraine oder sogar ins Ausland gezogen.
Nach sieben Jahren Konflikt kehren mittlerweile die Städte auf beiden Seiten der Front zu einem relativ ruhigen Leben zurück. Die Menschen haben sich an eine Art Normalität im Ausnahmezustand gewöhnt. Trotz mal mehr, mal weniger stabiler Waffenruhe, kann eine große Anzahl Binnengeflüchteter nicht in ihre Heimatstädte zurückkehren, da sie in den Volksrepubliken als Verräter*innen gelten und auch das Leben dort nichts mehr mit dem zu tun hat, das sie vor dem Krieg kannten. Umso wertvoller erscheint in diesem Kontext die Arbeit des seit 2015 aktiven Kollektivs Luhansk Contemporary Diaspora. LCD ist eine lose Vereinigung von Künstlerinnen und Musikerinnen, die durch den Krieg vertrieben wurden. Ihre Arbeit konzentriert sich auf die Problematik des militärischen Konflikts, dessen Wurzeln und den daraus entstehenden Identitäten. Zurzeit gehören neben den Mitgliedern im Exil auch noch in Lugansk lebende Künstler*innen zu LCD. Die Gruppe arbeitet mit verschiedenen Medien, wie Ausstellungen, Zeitschriften (Golden Cole, 2017), Filme (Severodonetsk, 2017), Festivals, Konzerte und Partys. Im Interview erzählen die Gründungsmitglieder*innen Nastya Malkina und Evgeniy Koroletov über das Leben und Arbeiten im Ausnahmezustand, den Blick der Ukraine und des Westens auf den Donbass und ihre Partyreihe und gleichnamiges Musiklabel Vostok, mit dem sie die Aufmerksamkeit auf den lokalen Sound der Region lenken wollen.
Wie war euer Leben im Donbass vor dem Konflikt?
Evgeniy Koroletov: Schon vor dem Krieg gab es im Donbass kaum Galerien, Veranstaltungsräume oder Orte für alternative Jugendkultur. Alles konzentrierte sich in Kyiv. Vor dem Konflikt lebte ich in Lugansk und organisierte Kulturveranstaltungen mit. Ich veranstaltete Graffiti-Jams und engagierte mich in lokalen Initiativen. 2013 traf ich unser drittes Gründungsmitglied Anton Lapov. Wir begannen Konzerte und Ausstellungen zu machen, organisierten mehrere größere Partys. Durch unsere Kontakte hatten wir Zugang zu Räumen und Unterstützer*innen. Neben unserer Initiative tauchten dann auch weitere kulturelle Initiativen in Luhansk auf. Im Frühjahr 2014, also kurz bevor der Konflikt begann, hatten wir das Gefühl eines kulturellen Aufschwungs in der Region. Es gab auch friedliche Proteste wie die Euromaidan, an dem ich teilnahm. Das war dann schnell vorbei, als es zur Übernahme durch pro-russische Streitkräfte kam. Es war nicht mehr sicher, in Luhansk zu sein, und so beeilte ich mich, aus der Stadt zu fliehen.
Wie kam euch die Idee zur Lugansk Contemporary Diaspora?
EV: 2015 wurde Anton angeboten, eine kleine Ausstellung in Kyiv zu machen. Die Ausstellung hieß Hard Land, aber das Projekt Black Olymp, das dabei im Mittelpunkt stand, wurde schon vor dem Krieg durchgeführt. Dort kamen alle Luhansker Künstler*innen zusammen, um gemeinsam einen Zukunftsentwurf für unsere heimische Industrieregion zu entwickeln. Die Künstler*innen versuchten durch das Prisma ihrer Vergangenheit über die Zukunft des Donbass nachzudenken. Nach dem Konflikt erhielt dieses Konzept eine zusätzliche Tiefe. Im Grunde ging es uns darum, dass die Menschen wahrnehmen, welche Kluft zwischen der Wahrnehmung und der Wirklichkeit des Donbass besteht. Denn es gibt außerhalb des Donbass ein Bild unserer Region, das wir als lokale Künstler*innen nicht wahrnahmen, welches aber stark die Wahrnehmung der Ukrainer*innen prägt. Sie verbinden mit dem Donbass bestimmte Narrative und wir wollten zeigen, wie wir diese Narrative sehen und versuchen, von diesen Stereotypen loszukommen.
Kannst du das noch genauer erklären?
EV: 2014/15, während der Krieg in vollem Gange war, waren alle Berichte über den Donbass in den ukrainischen Medien entweder damit verbunden, dass es eine depressive, rückständige Region sei oder sie beschuldigten alle Bewohner*innen einer pro-russischen Einstellung. Es wurde so dargestellt, dass die Krim gegen den Willen des Volkes eingenommen wurde, aber im Donbass alle freiwillig für Putin gestimmt hätten. Darum hätte es im Gegensatz zur Krim, den meisten Ukrainer*innen nichts ausgemacht, wenn der Donbass von der Landkarte verschwunden wäre. Das mediale Narrativ des Donbass im In- und Ausland ist auch weiterhin das der trostlosen, post-industriellen Landschaft, wo es keine Entwicklungsmöglichkeiten für junge Menschen gibt. Keine Kultur, alles düster und verlassen. Um diese Darstellung zu beeinflussen, aber auch, um für die Jugend im Donbass, ein Kulturangebot aufrecht zu erhalten, gründeten wir 2015 die Lugansk Contemporary Diaspora.
Seit ein paar Jahren gibt es in der Ukraine Kulturprojekte, wie beispielsweise die Donbass Studies die von der von Donezk nach Kyiv migrierten Kulturplattform Izolyatsia durchgeführt werden. Sie wollen damit gezielt regionale Kulturinitiativen fördern und diese auch ins internationale Blickfeld lenken. Was haltet ihr davon?
Nastya Malkina: Eigentlich ist es eine gute Sache, aber manchmal entsteht der Eindruck, dass solche Projekte den Donbass exotisieren wollen. Das kommt selbst bei ehemaligen Bewohner*innen des Donbass vor. Manche Leute, die jetzt in Kyiv wohnen, haben sich mittlerweile völlig von ihrer früheren Umgebung entfremdet. Sie fangen an, den Donbass von außen zu betrachten und fügen sich in den Kontext des Narratives, das wir eben beschrieben haben, ein. Also ein Narrativ, das besagt: Im Donbass ist alles schlecht und in Kyiv ist alles wunderbar. Darum finden mittlerweile zwar regelmäßig Kulturprojekte in dem von der Ukraine kontrollierten Teil des Donbass statt. Leider berücksichtigen die Veranstalter*innen oftmals nicht die Bedürfnisse der lokalen Kulturschaffenden und Bewohner*innen. Viele Einheimische haben sich bereits daran gewöhnt, dass die meisten Besucher*innen herkommen, schnell ihr Projekt durchziehen und dann wieder verschwinden ohne sie mit einzubeziehen oder sich wirklich für ihre Lebenslage zu interessieren.
EV: Vor Kurzem hatten wir hier in Severodonetsk zwei Künstler*innen aus den USA. Die kamen für gerade mal zwei Wochen für eine Residence. Die Einheimischen fragten sie, was sie bereits von der Ukraine gesehen hatten und was sie noch sehen wollen. Es stellte sich heraus, dass die beiden gar nichts gesehen hatten. Sie waren lediglich ein paar Stunden in Kyiv und dann zwei Wochen bei uns in Severodonetsk. Danach ging es zurück in die USA.
Anders als viele junge Leute aus der Region seid ihr nach der Besetzung eurer Heimatstadt Luhansk nicht nach Kyiv gegangen, sondern habt euch für Severodonetsk entschieden, dass gerade mal 50 Kilometer von der Kontaktlinie zur Volksrepublik Luhansk entfernt ist. Warum?
NM: Ich bin genau deshalb hierhergezogen, weil ich näher an zu Hause und näher an den Ereignissen sein wollte und alles ungefiltert miterleben will. Ich will an den Ereignissen teilnehmen und nicht im weit entfernten Kyiv oder sonst wo sitzen. Außerdem habe ich hier nach einiger Zeit gemerkt, dass Severodonetsk eine ganze Reihe von Initiativen hat, die ich mitentwickeln kann. Ich habe viele Ideen, was hier gemacht werden könnte. Auch sind hier die Lebenshaltungskosten und die Miete wesentlich günstiger als in den ukrainischen Großstädten, das entspannt ein wenig. Aber auch das ändert sich so langsam. Denn Severodonetsk ist seit 2014 zur Hauptstadt des ukrainisch kontrollierten Teils des Donbass geworden. Das hat die Stadt sehr verändert. Aber trotzdem ist es überschaubar hier und du kannst dich in den Aufbau von etwas Neuem in der Region einbringen. Natürlich wissen wir nicht, wie sehr es gelingt, wirklich etwas Neues zu schaffen, aber wir versuchen es immerhin.
EV: Außerdem ist es eine kleine Stadt mit viel Natur Drumherum. Wenn wir in den Wald wollen, brauchen wir gerade mal fünf Minuten aus der Stadt raus und stehen mittendrin. In Kyiv muss ich genau planen, um raus in die Natur zu kommen. Außerdem fühle ich mich als lokaler Künstler. Wenn ich in Kyiv leben würde, wüsste ich nicht, was ich dort machen sollte. Es ist auch nicht interessant, den Donbass-Techno dort zu vertreten, sondern wir wollen ihn hier entwickeln, wo er herkommt.
So ein regional engagiertes Projekt ist eure Partyreihe und das Label Vostok. Welche Idee steckt dahinter?
Naja, unsere Leute aus Lugansk und Donezk haben eben einen speziellen Klang, wie wir finden. Ein Klang, der sich von dem aus Kyiv, Charkiv oder sonst wo unterscheidet. Er ist irgendwie experimenteller, hart, aber zugleich ironisch, so wie auch der Name unseres Kollektivs Lugansk Contemporary Diaspora. Er ist eben ein bisschen Provokation und ein bisschen scherzhaft. 2019 haben wir dann ein gleichnamiges Musiklabel gegründet und einen Sampler herausgegeben, der eine logische Ergänzung der Partiereihe ist. Auf dem Sampler sind Musiker*innen aus den Regionen Lugansk und Donezk zu hören, unabhängig davon, ob sie in dem ukrainisch kontrollierten oder nicht kontrollierten Gebiet des Donbass leben. Genau das macht Vostok auch aus. Mit dem Label wollen wir die ostukrainische Elektroszene bekanntmachen aber auch, mit Blick auf die Veranstalter*innen und Künstler*innen aus der Region, ein Netzwerk aufbauen, das lokalen Strukturen entspringt und diese weiterspinnt. Bei Vostok geht es um Freiheit, das Recht auf freie Meinungsäußerung, es geht darum, mit Hilfe von Musik und Partys Grenzen aufzulösen, die seit dem Krieg unsere Leben bestimmen. Alle unsere Werte und Prioritäten spiegeln sich in Vostok wider und diese Werte sind das, was man unsere lokale Identität nennen könnte, wenn es sowas überhaupt gibt.