Bis 21. April ist in der Secession die Arbeit des ghanaischen Künstlers zu sehen, die mit Narrativen der europäischen Kultur- und Naturgeschichte aufräumt
In dem vollständig mit rotem Plüsch ausgekleideten Raum der Wiener Secession eröffnet sich dem Publikum die Sicht auf drei große Leinwände, auf denen die Arbeit Vertigo Sea (dt.: schwindelerregende See) von 2015 zu sehen ist. Fast ein bisschen ehrfürchtig nehmen die BetrachterInnen auf den Holzbänken Platz und verfallen in duldsame Stille, während sie eine knappe Stunde über drei Kanäle gleichzeitig mit Naturaufnahmen, Archivmaterial und gespielten Szenen konfrontiert werden. Ein sphärischer Sound erfüllt den gesamten dunklen Raum. Ab und an sprechen Stimmen Texte ein, die sich – insofern man nicht genau hinhört – fast harmonisch eingliedern in das einnehmende Rauschen aus Bildern und Klängen.
Zerrissene Schönheit
Hunderttausende Monarchfalter hängen an einem Baum, dessen Äste vom Gewicht der kleinen Tiere zu brechen drohen, bis diese sich schlagartig alle zu ihrer jährlichen, über mehrere tausend Kilometer langen Reise aufmachen. Majestätische Eisbären, Orcas, die in Gemeinschaftsarbeit eine Robbe von einer Eisscholle schubsen, um sie zu fressen, und atemberaubende Landschaftsaufnahmen saugen die BesucherInnen förmlich ein. Überall ist das Meer. Wir fliegen mit den Vögeln darüber hinweg und tauchen mit Fischen darin. Wir treiben als Nebel durch dichte Wälder und peitschen als Schneegestöber über vereiste Steppen. Wir blicken nicht auf das Wasser, wir sind eigentlich in Wirklichkeit das Wasser in allen Aggregatzuständen, wir sind die Welt! Ist es nicht ein herrliches Gefühl, sich als Teil dieses kosmischen Rauschens zu fühlen? Eine flauschige Erhabenheit wie seit der Romantik nicht mehr gespürt, durchströmt den Raum.
Erste Risse im Konstrukt dieser fast teleologischen Beschaulichkeit verursachen die frühen Archivaufnahmen der norwegischen Arktis-Expeditionen. Die Bären werden erschossen und gehäutet, die Wale mit Harpunen abgeschlachtet, zerhackt oder ihre leblosen Kadaver gleich gruppenweise hinter den Walfängern durch das Wasser geschliffen. Der Ozean saugt als stummer Zeuge alles auf. Ihr Blut, ihre letzten Zuckungen. Auf den Leinwänden daneben scheint unbeirrt der ewige Kreislauf des Werdens und Vergehens in der Natur weiterzugehen. Es folgen scheinbar historische Szenen, in denen die Kamera erst Scharen an Versklavten und Verschleppten zeigt, die aus den kolonisierten Gebieten Afrikas über den Atlantik geschifft werden. Sie werden wie Übergepäck von Bord geworfen und ihre leblosen Körper an die Strände gespült, als würde das Meer sie nicht unbemerkt untergehen lassen wollen. MinenarbeiterInnen schleppen giftig gelb leuchtende Schwefelbrocken aus einer Mine. Auch diese landen teilweise im Ozean und schreiben sich als leuchtende Spur der Ausbeutung von Natur und Arbeitskraft ein in diesen Gedächtnisspeicher.
Fragmentierte Geschichte
Vertigo Sea zersetzt die anfänglich gute Stimmung kontinuierlich. Das bereits angeknackste Naturerlebnis wird durch das Einfügen gespielter Sequenzen endgültig entzaubert. Fiktionale Bilder zeigen immer wieder menschliche Figuren, die mit dem Rücken zur Kamera auf weite, geöffnete Landschaften schauen. Regungslos verharren sie. Mal sind sie gegenwärtig gekleidet, mal historisch kostümiert. Mal sind sie alleine, mal zu zweit oder von einem seltsamen Arrangement an ebenfalls anachronistischen Gegenständen umgeben. Diese Sequenzen oszillieren zwischen den prototypischen Motiven der Romantik und den skurrilen Alptraumlandschaften des Surrealismus. Sie sind weder Realität noch Traum – in jedem Fall aber fiktiv. Sie spiegeln die Immersion, der das Publikum von Vertigo Sea vor den Leinwänden selbst erlegen ist, indem sie in ihrer Schrägheit auf den immer fiktiven Charakter des Mediums Film verweisen.
So bizarr die Platzierung der Fragmente der Geschichte in dem Video ist, so verzerrt ist auch das Schauen des Publikums darauf. Eine Chronologie gibt es nur in der Aufzählung historischer Ereignisse und Orte, die in kurzen Textpassagen eingeblendet werden. Das Ticken der Uhren, das immer wieder zu hören ist, verliert in Anbetracht der multiplen Bilder seine Bedeutung. Zeit ist linear, die Geschichte ist es nicht. Wie geologische Sedimentschichten lagern sich im Ozean die historischen Ereignisse ab, verschütten sich gegenseitig und treten an Bruchlinien simultan wieder zutage. Klar wird anhand dieser nicht-linearen Erzählung jedoch: Das Eintauchen in Sehnsuchtsorte der Kulturgeschichte hat nur im beschränkten Kontext europäischer Geschichtsnarrative Entspannungspotenzial. Das Meer als Abenteuerpark mutiger Forscher und Eroberer, mit blauen Lagunen und lustig spritzender Gischt, wie in den im Video zitierten Passagen aus Moby Dick, ist das Meer der Plünderer und Ausbeuter. Unter dieser dünnen Haut legt John Akomfrah beharrlich und minutiös die tieferen Schichten der Geschichte frei.