MALMOE

Warschau – London – Ankara

Warschau

Der US-Historiker und Osteuropaforscher Timothy Snyder betont, dass der neue Faschismus sich von jenem der 1930er Jahre unterscheidet, weil er nicht mehr eine Kampagne zur totalen Machtübernahme fährt, sondern seine Macht in einem verqueren „Underdog“-Status zementiert. Zwar habe man alle Institutionen besetzt und kontrolliert diese, aber man befinde sich im Abwehrkampf gegen einen sinisteren, übermächtigen Gegner von außen. Ein Blick in die polnische Glotze bestätigt dies. Das Fernsehen sei heute, laut dem Warschauer Professor Rafał Pankowski, wesentlich „kruder“ als jenes der 1980er unter „kommunistischer“ Herrschaft. Das staatliche Medium beschreibe die PiS-Regierung unablässig als „heldenhaft“, ihre Politik sei „gut für die Polen“ und alle anderen hätten nur „leere Versprechungen“ zu bieten. Medienerhebungen ergaben, dass in den Wochen vor der Europawahl alle Nachrichten über die PiS gut waren, eine einzige wurde als neutral eingestuft und keine war kritisch. Laut staatlichen Medien ist die PiS-Regierung somit ohne Fehl und Tadel. Durch die eigene Dreistigkeit wird die gewünschte Konstellation vermittelt, die polnische Regierung mache alles richtig und von außen komme immer nur Kritik.

London

Bei den Wahlen zum britischen Unterhaus kämpfen jetzt alle für „the people“, will sagen das „Volk“. Sie tun dies beispielsweise gegen das Parlament, wie Boris Johnson und Nigel Farage, oder wie Jeremy Corbyn gegen die „Eliten“. Nun ist zwar der jeweilige Wahnsinnsgrad der Aussagen noch ziemlich unterschiedlich, es zeigt sich aber, dass leider auch Labour in den populistischen Sumpf hinabsteigt. Dabei ist die Politik des Labour-Manifestos sehr gut. Bei der Verlagerung eines Produktionsstandortes muss dieser erst den Angestellten zum Kauf angeboten werden, um die erbrachten Arbeitserträge jener zu schützen, die die Arbeit gemacht haben. Labour will die Einkommenssteuer erhöhen, schon ab 125 000 Pfund Erben besteuern und dergleichen mehr. Problem: Das ist komplizierte Materie. In der medialen Aufmerksamkeitsspanne, die knapp unterhalb der von Eintagsfliegen liegt, sind diese Themen kaum durchzubringen. Der verzweifelte Aufruf Corbyns an die englische „Gutter Press“, doch bitte wortwörtlich zu berichten, was Labour vorschlage, brachte ihm berechtigten Spott ein. Natürlich kann er von den Medien nicht verlangen, Parteiaussendungen abzudrucken. Also flieht er sich in den eigenen, letztlich repressiven Populismus und simplifiziert das Volk zum Volk und die Eliten zu Eliten.

Ankara

Eine sinnvolle mediale Selbstverpflichtung sieht vor, nur äußerst zurückhaltend über Selbstmorde zu berichten, da dies sonst nachweislich zum „Werther-Effekt“ führt. Selbstmord ist nicht heroisch und kann durch mitfühlende Beratung fast immer verhindert werden, weil das Leben mehr Optionen bietet, als die Suizidalen erkennen können. Was aber, wenn eine ganze Gesellschaft keinen Ausweg mehr sieht? Die Türkei wird heimgesucht von erschreckenden Familienselbstmorden, bei denen sich alle Familienmitglieder gemeinsam zum Ableben entscheiden. Die Opfer sind oftmals soziale und umsichtige Menschen und warnen etwa die Nachbar*innen und Angehörigen, die Wohnung nicht zu betreten, weil das beim Selbstmord verwendete Zyanid auch bei Berührung gefährlich ist. Die Erdoğan-Regierung bemüht sich händeringend, die Opfer als Atheisten oder Kranke zu diffamieren. Dies stimmt aber nicht. Als Rettungskräfte die Leichen einer Familie aus Ankara abtransportierten, ging plötzlich das Licht aus. Die Energiegesellschaft hatte aufgrund unbezahlter Rechnungen den Strom abgeschaltet. Es ist die quälende Perspektivlosigkeit aus Armut und Jobverlust, die die Menschen in den Tod treibt.