Im ersten Teil dieser Serie zu Gayatri Chakravorty Spivak nähern wir uns dem Verhältnis von Theorie und Praxis der bedeutungsvollen postkolonialen Intellektuellen an
Gayatri Chakravorty Spivak wurde 1945 in der indischen, damals unter britischer Kolonialherrschaft stehenden Stadt Kalkutta geboren und zählt heute zu einer der bedeutendsten globalen Intellektuellen. Sie ist dafür bekannt über die Grenzen einzelner Disziplinen hinauszudenken. Zwar ist Spivak Professorin für Literaturwissenschaft, jedoch beschreibt sie selbst sich als antidisziplinär und plädiert immer wieder dafür, der zunehmenden Banalisierung der Geisteswissenschaft Einhalt zu gebieten. Bekannt wurde sie unter anderem durch ihre 1976 erschienene Übersetzung von Jacques Derridas Grammatologie. Ohne Übertreibung kann gesagt werden, dass diese Übersetzung aus dem Französischen ins Englische die Philosophie der Dekonstruktion für ein globales Publikum zugänglich machte und damit eine breite Rezeption ermöglichte. Nicht abreißende internationale Sichtbarkeit verschaffte ihr das viel rezipierte (oft auch lediglich zitierte) Essay Can The Subaltern Speak?, welches auf Grundlage eines im Jahre 1983 gehaltenen Vortrags basiert. Gemeinsam mit Edward Said und Homi Bhabha wird Spivak als eine der Hauptvertreter_innen der postkolonialen Theorie gesehen. Die drei werden – durchaus mit einem Augenzwinkern – als „Holy Trinity“ der Postcolonial Studies bezeichnet. Bedeutsam für Spivaks kritisch intervenierende Praxis ist die Herausforderung von Disziplinarkonventionen in den Geisteswissenschaften, der Philosophie und den Literaturwissenschaften. Mit stetig wachsamem Blick verweist sie auf die gewaltvolle Geschichte der europäischen Universitäten und akademischen Disziplinen, die sich nach wie vor verwickelt in eine wirkmächtigen (post-)koloniale Komplizenschaft befinden. Es ist deswegen nicht ratsam, Spivaks Schriften für eine Disziplin zu vereinnahmen zu suchen, denn ihr Denken verweigert sich bewusst kontinuierlich einer Disziplinierung.
Ein Schwerpunkt ihres Werks liegt auf Auseinandersetzungen mit der trickreichen Frage der Repräsentation subalterner Frauen, die von den westlich-dominanten kulturellen Diskursen oft unbeachtet bleiben. Dabei betont sie immer wieder, dass nicht alle Gruppen, die sozial diskriminiert sind, sogleich die Position der Subalternen innehaben. Subalternität ist für Spivak ein Raum ohne Identität. Es geht um Gruppen, die keinen Zugang zur Zivilgesellschaft haben. Der konsequent feministische und gleichsam marxistische Fokus auf gesellschaftliche Verhältnisse grenzt Spivaks Wirken und Schaffen von der Mehrheit postkolonialer und dekolonialer Theoretiker_innen ab.
Ausgangspunkt eines postkolonialen Denkens ist die Feststellung, dass mit den großen antikolonialen Bewegungen, die sich im Grunde vom 17. Jahrhundert bis heute erstrecken, koloniale Herrschaft nicht gänzlich beendet wurde, sondern sich koloniale Macht- und Herrschaftsdiskurse lediglich verschoben haben. Unter kolonialer Herrschaft existierende Machtdynamiken sind nach wie vor wirkungsmächtig. Sie bestehen lediglich unter anderen Vorzeichen fort, diese prägen die ökonomischen, sozialen, kulturellen und politischen Realitäten der Welt. Zentral in der Argumentation postkolonialer Theorie ist die Infragestellung der Behauptung, die westliche Welt sei zivilisierter und demokratischer. Die Philosophin Nikita Dhawan hat kürzlich gar provokant gefragt, ob es nicht an der postkolonialen Welt sei, die Aufklärung vor den Europäer_innen zu retten. Die Zivilisation, die Europa dem „Rest der Welt“ bringen wollte, ist nie wirklich in Europa selbst verwirklicht worden. Das Herausfordern, des für selbstverständlich angenommenen vermessenen Selbstbilds, stellt diese Glorifizierung des Westens bloß. Die Produktion des überlegenen Selbstbilds, so wird argumentiert, war eine notwendige Bedingung für die Unterwerfung der Welt unter europäischer Kolonialherrschaft.
Die Werkzeuge einer postkolonialen Intellektuellen
Can The Subaltern Speak? zählt zu den prominenten Texten der postkolonialen Theorie. Trotz Spivaks ambivalentem Bezug zu dem Essay kann der diskursive Einschnitt, den es in akademischen und aktivistischen Kontexten vollbracht hat, kaum unterschätzt werden. Auf das Essay angesprochen, antwortet Spivak oft in Spiralen und bringt dabei immer wieder einen weniger belichteten Aspekt aus der Schrift in den Diskurs ein. Das ist für die globale Intellektuelle keine ungewohnte Praxis, sondern wohl eher eine Spivak’sche Technik. Mit dieser versucht sie sich stets einer vereinfachenden Lesart zu entziehen, um dadurch den definierenden, gewaltvollen, verschließenden Tendenzen, die Spivak in der Wissensproduktion der Universität ausmacht, zu entkommen. Für Spivak ist dies eine wichtige Übung des Intellekts, die sie oft mit einem Schmunzeln vollzieht und die nicht selten als Arroganz gedeutet wird. Diejenigen, die sich selbst als Teil der europäischen Akademie verstehen, können nur schlecht ertragen, dass eine postkoloniale Intellektuelle ihnen verdeutlicht, dass sie ein Phänomen doch nicht ganz verstanden haben.
Wenn wir diese Spivak’sche Praxis ernst nehmen, so stellt das auch eine Einführung, wie diese, vor Herausforderungen. Denn, wie können wir das Denken und Schaffen einer Person vergegenwärtigen, die sich eben diesem kontinuierlich zu entziehen sucht? An dieser Stelle kann Spivak nur mit Spivak selbst begegnet werden: In ihrem sehr einflussreichen Vorwort zur Grammatologie bemerkt sie, dass nach einem von Derrida inspirierten dekonstruktivistischen Ansatz eigentlich mit der Infragestellung der Möglichkeit eines Vorworts selbst begonnen werden müsse. Für den Moment müsse aber angenommen werden, dass solch einleitende Worte trotzdem möglich seien. Die Begegnung und die Arbeit mit dem Unmöglichen ist es schließlich, die einen in der Auseinandersetzung mit dem Werk und Schaffen Spivaks immer wieder einholt: Problematische, paradoxe Beziehungen werden sichtbar gemacht und trotzdem wird eine weitergehende selbstkritische Praxis gefunden und gefordert.
Für das Schaffen von Spivak sind Marxismus, Feminismus und die Dekonstruktion zentral. Die Kritik, dass die Postcolonial Studies mehrere mächtige Theoriepferde gleichzeitig zu beherrschen versuchen, ist daher nicht aus der Luft gegriffen. Eine Kritik, die Spivak affirmierend annimmt und brennend verteidigt, denn wie sonst könnte mit der Komplexität der gewordenen Welt umgegangen werden, wenn nicht mit komplexen, verschachtelten Theorien?
Marxismus
Neben dem Gesamtwerk von Karl Marx, das Spivak studiert hat, spielen Konzepte des marxistischen Antifaschisten Antonio Gramsci eine entscheidende Rolle in ihren Schriften. Einerseits eignet sie sich den Begriff der Subalternen an, andererseits überträgt und übersetzt sie beispielsweise die Ausführungen Gramscis zur Hand- und Kopfarbeit auf die heutige postkoloniale Weltordnung. In dem Konzept wird die Produktionsdynamik zwischen der sogenannten Ersten und Dritten Welt analysiert. Der Technikkonzern Apple zum Beispiel schreibt auf jedes seine Produkte stolz: „Designed by Apple in California [Kopfarbeit] – Assembled in China [Handarbeit]“. Diese räumliche Trennung – gewaltvoll etabliert in kolonialen Projekten – ist maßgeblich für die Aufrechterhaltung und Reproduktion globaler Ungleichheitsstrukturen verantwortlich. Spivak sieht sich als Marxistin, die den Eurozentrismus eines orthodoxen Marxismus befragt, denn nur so kann, so die Intellektuelle, die komplexe Geschichte von Subalternen überhaupt lesbar gemacht werden.
Feminismus
Neben dem Marxismus ist der Feminismus einer ihrer theoretischen Schlüsselreferenzen. Dabei wird zum einen der Anspruch feministischer Bewegung für alle Frauen zu sprechen fundamental kritisiert und als westliche Erhabenheit von bestimmten Frauen dekonstruiert. Zum anderen wird das bereits angesprochene Projekt, subalterne Frauen aus postkolonialen Räumen in einen imperialen feministischen Diskurs zu bringen, problematisiert. Dieses kontinuierliche Herausarbeiten der unsichtbar gemachten Subjekte soll die Problematik der Partizipation von Menschen im demokratischen Staatsgeschehen aufgreifen und das Thema auf die internationale akademische Bühne bringen. So werden epistemische Gewalt herausgefordert (wer darf für wen sprechen) sowie reale Räume, die Subalternität produzieren, angegriffen. Die Symbiose aus Marxismus und Feminismus bestimmt Spivaks Programm und gibt ihr die Wucht, die ihr Denken und Handeln auszeichnet.
Dekonstruktion
Es wäre ein Leichtes, nach der beschaulichen Rekonstruktion der feministisch-marxistischen Bezüge einen Punkt zu setzen. Doch entzieht sich Spivak einer einfachen Bestimmbarkeit mit Hilfe der Derrida’schen Dekonstruktion. Es ist die Dekonstruktion, die ihrem Schaffen und Werk jene herausfordernde Lebendigkeit verleiht, die sich immer wieder einer Verschließung entzieht. Dekonstruktion ist nicht als Methode bestimmbar; ein Ansatz ist, dass wir immer bereits Teil dessen sind, was wir kritisieren. Die Kunst besteht gerade darin jenes zu kritisieren, was von einem_einer selbst bewohnt wird. Es ist beispielsweise unmöglich, die Globalisierung zu kritisieren, ohne nicht auch die eigene Kompliz_innenschaft in diesen Machtstrukturen zu thematisieren. Ausgehend von ihrer Position an der Ivy-League-Universität Colombia in New York City kritisiert Spivak ihre eigene Verflechtung in der hegemonialen Wissensproduktion. Daran anschließend setzt sie sich etwa mit ihrer Rolle als „exotischer Diversitäts-Token“ in einer westlichen Elite-Universität auseinander. Sie ist sich ihres ambivalenten Privilegs nicht nur bewusst, sondern nutzt diese Widersprüchlichkeit auch, um die Gewalt der Universitäten zu beschreiben, denen es gelingt, dissidente Stimmen zu vereinnahmen. Dekonstruktiv wird die eigene – und andere kritische theoretische Positionen – beharrlich auf ihre Ausschlüsse befragt. Konsequent ethisch führt sie damit das dekonstruktivistische Projekt von Derrida, welches sich mit den philosophischen Schriften des Abendlandes beschäftigt hat, auf anderen Ebenen nicht nur fort, sondern supplementiert dieses.
Theorie und Praxis
Auf der einen Seite versucht Spivak in die Produktion imperialer Subjekte an der Colombia zu intervenieren und so die Kontinuität westlicher Überlegenheitsmechanismen zu stören. Auf der anderen Seite arbeitet sie gleichsam seit Mitte der 1980er-Jahre in subalternen Räumen in Indien. Dort hat sie Schulen aufgebaut und beteiligt sich an der Ausbildung von Lehrenden, die trainiert werden, subalterne Räume aufzulösen. Das bedeutet, knapp heruntergebrochen, in die Begehrensstruktur Subalterner einzugreifen, um sie zu befähigen, sich demokratisch zu beteiligen. Für Spivak muss an beiden Enden des Spektrums mit den gleichen Maßstäben und Ansprüchen gearbeitet werden. Eine Aussage, die zu irritieren vermag, wenn wir uns die extrem ungleichen Realitäten von subalternen Räumen im Globalen Süden und dem urbanen der Metropole New York vergegenwärtigen. Für Spivak gilt allerdings, dass die Standards ihres Unterrichtens „hier wie dort“ dieselben sein müssen. Ihr Programm sieht vor, ein tiefes Verständnis über das, was unterrichtet wird, und die Komplexität von intellektueller Arbeit zu vermitteln. Der Ansatz ist durchzogen von dem Grundsatz, dass Ethik kein Problem von fehlendem Wissen ist, sondern ein Aufruf, eine Beziehung einzugehen, die das eigene Sein infrage stellen kann. Für Spivak ist das eine ethische Beziehung, die als Umarmung verstanden werden kann – bei der jede_r von den anderen lernt. Wie diese Beziehung genauer verstanden werden kann und warum diese Dynamik letztlich immer als eine politische Intervention zu verstehen ist, werden wir in einem der kommenden Artikel aufschlüsseln. Bevor wir uns konkret der Pädagogik Spivaks zuwenden, wird in dem nächsten Artikel dieser Serie die Analyse der postkolonialen Realität und der damit einhergehenden Gewalt im Vordergrund stehen. Darüber werden wir die Beantwortung der Frage vorbereiten können, „warum postkoloniale Länder zur Hölle gehen“ und was Spivaks Vorschläge sind, dieser Hölle zu entkommen.
Dieser Beitrag ist der Auftakt einer vierteiligen Serie zu Gayatri Chakravorty Spivak. Die Artikel funktionieren einzeln und doch bauen sie lose aufeinander auf.