MALMOE

Unser Milieu ist politisch nicht anschlussfähig

Robert Misiks neuer Essay thematisiert eine der zentralen Fragen der Linken: Wie tun mit den Massen an Lohnabhängigen, die ein wahlweise völkisches oder leistungsaffirmatives politisches Projekt befürworten?

Robert Misik schließt in seinem Debattenbeitrag Die falschen Freunde der einfachen Leute an der Marginalisierungsthese an: Die Angst vor Deklassierung mache Menschen anfällig für „die falschen Freunde“, also solche, die vorgeben ihr Klasseninteresse zu vertreten, das aber nicht tun, oder nur unter Ausschluss des ethnisierten Anderen. Misik appelliert an eine progressive Linke, nicht die Schuld für den Aufstieg der Rechten „primär bei ihnen“, also den manipulierten Menschen, zu suchen, „sondern in einer kritischen Selbstbefragung“ zu überlegen, was der eigene Anteil daran sein könnte, dass diese Menschen so denken.

Wenn man von „den einfachen Leuten“ spricht, dann geht es um eine sehr große und heterogene Gruppe. Der „kleine Mann“ ist eine Projektion, die „einfachen Leute“ eine diffuse Kategorie. Gemeinsam haben diese Menschen laut Misik, dass sie sich politisch nicht mehr wahrgenommen fühlen. Diese Angst vor Statusverlust und das Gefühl, abgewertet zu werden, generieren laut Misik eine kulturelle Basis für rechtspopulistische Projekte.

Leistungsethos der Arbeiter_innen

Es sind aber auch die traditionellen Werte der Arbeiter_innenschaft, die anschlussfähig für konservative Projekte sind: „Die Angehörigen der Arbeiterklasse schätzen rigide Selbstdisziplin, weil sie nötig ist, um einen harten Job, den man hasst, vierzig Jahre lang machen zu können“. Diese Haltung schlägt sich nieder in der Abwertung „der Anderen“. Die, die herkommen, und noch keinen Beitrag zur Finanzierung des Sozialsystems geleistet haben, aber überdurchschnittlich davon abhängig sind. Misik schließt an empirische Studien an, die zeigen, dass Arbeiter_innenmilieus in dieser Hinsicht konservativ seien, Unterstützung einem nur zustehe „wenn man sich anstrengt und trotz dieser Anstrengung scheitert“.

Hier kommt mit der Zuwanderung die Angst vor Statusverlust ins Spiel: Migrant_innen werden als Konkurrenz um Transferleistungen gesehen, als Verursacher_innen von Abgabenlast. Zu einer ähnlichen Schlussfolgerung kommen auch die Autor_innen der Studie Umkämpfte Solidaritäten – Spaltungslinien in der Gegenwartsgesellschaft, die in vielen ihrer Interviews kein grundsätzlich feindliches Muster gegenüber Zuwander_innen erkennen. Vielmehr stellen die Menschen eine enge Verknüpfung mit dem Leistungsprinzip her: Zuwander_innen müssen die Möglichkeit bekommen, möglichst schnell ihren Beitrag für den Sozialstaat leisten zu können, Leistungslosigkeit wird abgelehnt.

Belehrende Identitätspolitik

Die Art und Weise, wie sich Menschen zu ihrer Angst vor Statusverlust äußern, ist laut Misik „pervertierte Formen der Statusverteidigung“, die als Rassismus geframed werden. Menschen, die Angst vor Deklassierung haben, seien nicht zwingend rassistisch, auch wenn sie sich rassistischer Erklärungsmuster bedienen. Unser Milieu sei aber unfähig, mit diesen Menschen in einen Dialog zu kommen, weil diese Segmente ohnehin schon verloren seien. Die Art und Weise, wie sie sich die Welt erklären, wird als bedeutungslos hingestellt, ihre Artikulation auf stumm gestellt.

Unser Milieu, links bis linksaußen, Immatrikulationshintergrund und urban, versteht das nicht. Wir erkennen, dass unsere Gesellschaft nicht nur von Klassenwidersprüchen durchzogen ist, sondern auch andere Differenzen ausschlaggebend für gesellschaftliche Benachteiligung sind. Aber, so Misik, diese Debatte entzieht sich den eigentlichen Problemen. Sprachpolitik ist im Fokus und eine „sektiererische Metadebatte“ dreht sich mehr um die Worte, als um den gesellschaftlichen Sachverhalt selbst. Es entwickelt sich „eine Art Geheimcode, den normale Leute kaum noch verstehen“, der Distinktionsgewinn steht im Vordergrund, für die arbeitende Klasse hingegen sind diese Linken „arrogante Besserwisser, die ihre Art zu leben abwerten“.

Man muss die Menschen gernhaben

Zwar waren es die sozialdemokratischen Parteien in Europa, die eine neoliberale Wirtschaftspolitik mitgetragen und damit Teile ihrer sozialen Basis verloren haben. Aber wo linke Identitätspolitik den Leuten sagt, wie sie sein sollen, meinen rechte Populist_innen, alles passe, und reüssieren damit. Oder wie Lukas Matzinger in einer Falter-Reportage über die steirische Industriestadt Kapfenberg schreibt: „Der (HC Strache) ließ auch Enttäuschte so sein, wie sie sein wollen. Die FPÖ lässt einen im Wirtshaus rauchen, sich Nacktkalender in der Werkstatt aufhängen und zu Andreas Gabalier schunkeln“.

In eine ähnliche Kerbe schlägt der britische Journalist Owen Jones, in seiner Studie Prolls – Die Dämonisierung der Arbeiterklasse. Er rekonstruiert die Zerschlagung der Institutionen und Organisationen der britischen Arbeiter_innenbewegung durch Thatcher und ihre Fortsetzung durch die neoliberale Labour Party unter Tony Blair. Ähnlich wie Misik kommt auch Jones (bereits 2012) zu dem Schluss, dass „der Widerstand gegen weitere Zuwanderung nicht einfach als Ignoranz und Rassismus“ abgetan werden könne, „sondern als fehlgeleitete Wut der Arbeiter darüber, dass viele ihrer Nöte nicht beachtet werden“, zu interpretieren sei.

Misiks Debattenbeitrag Die falschen Freunde der einfachen Leute liest sich flott, speist sich aus einer grundsätzlichen Hoffnung in das Gute des Menschen und lädt zu einer verstehenden Haltung, aber auch zu einer Selbstkritik der eigenen politischen Praxis ein.

Robert Misik: Die falschen Freunde der einfachen Leute, Suhrkamp, Berlin 2019