Eine große Mehrheit der Chilenen fordert endlich soziale Gerechtigkeit und wünscht sich eine neue Verfassung. Doch die Politik zögert und spielt auf Zeit
Chile | MALMOE 90 Schwerpunkt
Aufstand gegen autoritäre Kontinuität
Chile gilt als das Land in Südamerika, das „alles richtig gemacht hat“. Es wird häufig als eines der „freisten“ Länder der Welt gelobt, gemeint ist die Freiheit der Konten, Depots und Immobilien der Vermögenden. Anders als seine schmutzig-roten Nachbarländer setzte es die Vorgaben des Welthandels um und schuf „großen Reichtum“ für seine Bewohner*innen. Nur glauben die das selbst jetzt nicht mehr so ganz.
Politisch hätte Chile vor 30 Jahren das erreicht, was gemeinhin als Demokratie verstanden wird: Diktator Augusto Pinochet gab 1988 das politische Bankett für mögliche Nachfolger frei, die erstmals wieder durch Wahlen bestimmt wurden. Den Übergang zur Demokratie – die sogenannte transición – sehen viele spätestens durch die Verfassungsreform 2005 abgeschlossen.
Als im Oktober 2019 die ersten Massen auf die Straßen strömten um gegen eine Erhöhung der U-Bahn-Preise zu demonstrieren, wurde schnell klar, dass es hier um mehr als die 30 Pesos geht: Die Protestierenden wollen das wirtschaftliche und politische System grundlegend erneuern. Die gewaltsame Reaktion des Staates hingegen stärkte ihren Eindruck, die transición habe erst noch stattzufinden.
Wie die jetzigen Demonstrationen im „neoliberalen Labor“ Südamerikas Versuchsort für eine progressive Alternative gesellschaftlicher Organisation darstellen und woher die aufgestaute Wut eigentlich kommt, skizzieren die vorliegenden Berichte zweier (Exil-)Chilen*innen.