MALMOE

Umkämpftes Erinnern

Einblicke in aktuelle Auseinandersetzungen um die An-Erkennung von Sinti_zze und Rom_nja in Europa

Die Geschichte Europas ist eine Geschichte der Gewalt. Sinti_zze und Rom_nja, sowie jene die zu der Gruppe dazu gezählt werden, bezeugen die Kontinuität der Diskriminierung bis heute. Regelmäßig gibt es Berichte von gewaltvollen Übergriffen und Pogromen. Oft sind staatliche Handlungsträger maßgeblich in Menschenrechtsverletzungen involviert. Zu oft schweigt die Politik, manchmal stimmt sie zu – sehr selten interveniert sie nachhaltig.

Die Situation für Sinti_zze und Rom_nja und jene die zu der Minderheit in Europa gezählt werden, ist geprägt von alten und neuen Rassismen. Rassismen, die sich über mehrere Jahrhunderte gewachsen sind, sich gehalten und auch verändert haben. Ausgehend von den gemachten Gewalterfahrungen bildet sich auf vielen Ebenen Widerstand. Dieser Beitrag wird sich auf einige Aspekte der transeuropäischen Bewegung, ihre Herausforderungen für etablierte Erinnerungskulturen und die Vitalität des Aktivismus konzentrieren. Ein Aktivismus, der so alt und gleichzeitig aktuell ist wie die Diskriminierung, der er die Stirn bietet.

Mit Gedenken intervenieren

 Heuer jährte sich der europäische Gedenktag zum Genozid an Rom_nja und Sinti_zzi zum 75.  Mal. Er geht zurück auf die Nacht vom 2. auf den 3. August 1944, in der der Beschluss umgesetzt wurde, die Verbleibenden – mehr als 4000 Insassen des KZ Lagerteils Auschwitz-Birkenaus, der nach NS-Sprachgebrauch als „Zigeunerfamilienlager“ geführt wurde – zu vergasen. Trotz des Widerstands – der noch im Frühjahr desselben Jahres, am 16. Mai 1944, eine Vernichtung durch Gegenwehr von mit Stöcken und Werkzeugen bewaffneten Insassen verhindern konnte – wurden fünf Monate vor der Befreiung von Auschwitz die Inhaftierten hingerichtet.

Nach lautstarken Forderungen und vehementen Kämpfen um Anerkennung, wurde der 2. August vom EU-Parlament 2015 als Europäischer Holocaust Gedenktag für die mehr als 500.000 Opfer des NS-Regimes ausgerufen. Auf EU-Ebene wird dabei ein wichtiger Schritt zu einer trans-europäische Erinnerung gesetzt. Trotz EU-Beschluss wurde der 2. August in Österreich noch nicht als Gedenktag ratifiziert.

„In unseren modernen europäischen Gesellschaften und ihrer Politik ist kein Platz für die Entmenschlichung der Roma oder anderer Minderheiten.“ So startet das Statement der Europäischen Kommission, weiter im Wortlaut heißt es: „Die Gräuel der Vergangenheit mahnen uns, dass Gleichheit und Nichtdiskriminierung Werte sind, die nicht als selbstverständlich vorausgesetzt werden können. […] Wir fordern alle Mitgliedstaaten auf, den Holocaust an den Roma anzuerkennen und den 2. August in allen EU-Ländern als Holocaust-Gedenktag für die Roma zu begehen.“ Frans Timmermans, der bis vor kurzem als Anwärter auf das Amt des EU-Kommissars gehandelt wurde, und Věra Jourová, EU-Kommissarin für Justiz, Verbraucherschutz und Gleichstellung, gaben das in ihrer Erklärung im Namen der Europäischen Kommission in Brüssel bekannt.

Mit der Institutionalisierung und Anerkennung des Gedenktags finden immer mehr Erinnerungsereignisse europaweit statt. So gab es zum Beispiel heuer erstmals in Vilnius eine Gedenkveranstaltung. Litauen ist ein Land, in dem die NS-Vernichtungspolitik besonders brutal ausgeführt wurde. Aus politischen Gründen wurde unter der sowjetischen Besatzung dem Gedenken an jüdischen, Sinti und Roma, sowie anderen Opfergruppen keinen Platz eingeräumt.

Die zentrale Veranstaltung am 2. August findet in der Gedenkstätte Auschwitz-Birke­nau statt. Maßgeblich in die Organisation des Gedenktages involviert ist der Zentralrat Deutscher Sinti und Roma, der im Diskurs um die transeuropäischen Kämpfe um Anerkennung eine sehr wichtige Rolle spielt. An diesem Tag sprachen die Auschwitz-Überlebenden Else Baker und Éva Fahidi. Letztere schilderte als unmittelbare Augenzeugin der Vernichtung den Abend des 2. Augusts 1944 sehr eindringlich. Else Baker appellierte an die Wichtigkeit eines lebendigen Erinnerns und eines aktiven Haltungbeziehens. Sie betont, dass: „in einer Zeit, in der rassistische Gruppierungen in vielen Ländern an Einfluss gewinnen reicht es nicht, an die Verbrechen zu erinnern. […] Wir alle müssen für […] Menschenrechte und Demokratie eintreten. Wir dürfen uns nie sicher sein, dass sich die Verbrechen der Nazis nicht wiederholen.“

Neben dem Vorsitzenden des Zentralrats, Romani Rose, der in seiner Rede die wachsenden Gefahren von Antiziganismus, Antisemitismus, Rassismus und antidemokratischen Strömungen hervorhob, war auch ein prominenter Vertreter der US-amerikanischen Bürgerrechtsbewegung und Freund von Martin Luther King Jr., Jesse Jackson, als Redner eingeladen. Das Verbinden von Unrechtserfahrungen, die sich in verschiedenen gesellschaftlichen Kontexten abspielen, ist eine spannende Strategie der Allianzenbildung. Damit kann es ermöglicht werden transnationale Brücken zu bauen, die so ein gemeinsames Erinnern ermöglichen.

Auch wenn nur als symbolischer Akt, so unterzeichneten Rose und Jackson, gemeinsam mit dem Vorsitzenden der Vereinigung der Roma in Polen, Roman Kwiatkowski, den „Aufruf von Auschwitz“. In diesem wird von der Staatengemeinschaft „die tatsächliche Anerkennung von Minderheitenrechten, die umgesetzt werden müssen im Zugang zu Bildung und Arbeit, zu Wohnen und Gesundheit“ gefordert.

Partizipatives Erinnern

 Auf der einen Seite ist auffällig, dass große Teile der Gedenkveranstaltungen sehr ritualisiert und einstudiert sind – auf der anderen Seite bietet sich aber auch viel Raum für die Gestaltung und Partizipation von jungen Aktivist_innen aus der Bewegung. Der Gedenktag am 2. August wird von einem mehrtägigen Seminarprogramm in Kraków gerahmt. Dort finden Workshops für junge Rom_nja, Sinti_zza und Menschen, die sich für den Kampf um Anerkennung und Gerechtigkeit einsetzen, statt. Das Programm ist auf die Schulung von politischer Einflussnahme und Partizipation ausgerichtet. In Seminaren lernen die Teilnehmenden etwas über die Geschichte der Verfolgung, den Kampf gegen Antigypsyism und die Mitgestaltungsmöglichkeiten auf politischen Ebenen kennen. Sie treffen Zeitzeug_innen und tauschen sich über ihre eigenen Erfahrungen aus ihren jeweiligen Kontexten aus. Teilnehmende an dem Programm kommen aus ganz Europa. Zentral ist  die Verbindung zu Gruppen, die in anderen gesellschaftlichen Feldern Kämpfen um Gerechtigkeit führen, wie LGBTIQ-Bewegungen oder armenischen/jüdischen Gruppen.

Die Verbindung von eher formalen Formaten des Erinnerns und Gedenkens mit einer vitalen Jugendbewegung setzt an einer unlängst und oft wiederholten Forderung nach dem Einbeziehen und dem Übernehmen von Verantwortung jüngerer Generationen an. Auch wenn aus aktivistischen Kreisen beklagt wurde, dass das Erinnerungsereignis in der Gedenkstätte sehr formalisiert ablief und es zu wenig Raum für eine Partizipation gegeben hat, so muss doch zugutegehalten werden, dass es überhaupt Möglichkeiten der Mitgestaltung gab. Bei der Kritik darf nicht vergessen werden, wie wichtig solche formalisierten Events für etablierte Formen von Erinnerungsdiskursen sind. Denn erst diese schaffen es mediale Aufmerksamkeit zu erzeugen. Nur jene, aus langen Kämpfen etablierten Diskurse, können auf politischen Ebenen Anerkennung absichern und garantieren. Doch bleibt es dabei, die Erinnerungsformate die am 2. August bedient werden, sind in erster Linie diskursive und symbolische Formen der Anerkennungen. Jene mit nachhaltigem, strukturellem Einfluss werden auf politischen Ebenen beschlossen.

Einfluss auf politischen Ebenen

 Heuer hat sich die sogenannte Roma Week in Brüssel zum vierten Mal gejährt. Sie findet immer im Frühjahr und um den Zeitraum des 8. Aprils, dem internationalen Tag der Sinti_zze und Rom_nja, statt. In der Roma Week dreht sich alles rund um Themen, die die Minderheit betreffen. Maßgeblich ist sie von der ehemaligen EU-Abgeordneten Soraya Post in die Wege geleitet worden. Einer schwedischen Politikerin der Partei Feministische Initiative (F!), die für 5 Jahre, bis zum Mai dieses Jahres, EU-Politik mitgestaltete. Auch wenn F! bei der diesjährigen EU-Wahl den Einzug nicht schaffte, so können die Errungenschaften, die Post in der Amtsperiode von 2014 bis 2019 erstritten hat, gar nicht genug betont werden. Eine rhetorisch brillante Rednerin und authentische  Kämpferin, die sich ganz der Auseinandersetzung um Anerkennung und Menschenrechte verschrieben hat. Dabei gleichzeitig auch das nötige Charisma mitbringt, um junge Menschen für Politik zu begeistern.

Bei der Roma Week in Brüssel geht es, ähnlich wie bei den Workshops in Kraków, maßgeblich um das Einbeziehen von jungen Aktivist_innen. Verstärkt geht es um das Zusammenbringen von routinierten, zähen politischen Kämpfen auf EU-Ebene und Aktivismus von Grassroots-Organisationen. Es wird Teilnehmenden des Workshop-Programms ermöglicht, an Sitzungen und Konferenzen im EU-Parlament in Brüssel teilzunehmen und EU-Politik dort zu beobachten, wo sie verabschiedet wird. In den Seminarräumen der NGO European Roma Grassroots Organisations (ERGO), die ein wichtiger Vernetzungspunkt für einen transeuropäischen Aktivismus in ganz Europa ist, wird in Workshops jenes Agieren und Handeln gelernt und reflektiert, welches in Räumen, in denen Politik gemacht und verhandelt wird, zur Anwendung kommt. Schwerpunkte liegen auf dem Kampf gegen Antigypsyism und dem Gestalten von Politik.

Teil des Programms ist das Beiwohnen im EU Parlament in Brüssel. Dort lag der Fokus der diesjährigen Roma Week auf dem ins Leben rufen einer Wahrheits- und Versöhnungskommission (Truth and Reconciliation Commission). Prägnant formulierte Soraya Post dazu: „There cannot be justice without knowing the truth, there cannot be reconciliation without confession and forgiveness.“

Die Forderung nach der Notwendigkeit einer solchen Kommission wurde mit einer Reihe von Zeitzeug_innenberichte stark gemacht. Alle Zeug_innen wurden Opfer jüngerer rassistisch motivierter Hassverbrechen, sowohl von wütenden Mobs als auch von polizeilichen/staatlichen Übergriffen. Diese Gewaltzeugnisse in den Hallen des Europäischen Parlaments zu vernehmen, ihnen einen Raum zu geben, wo Rom_nja und Sinti_zze allzu oft die eigene Stimme gewaltvoll abgesprochen wird, ist dabei ein Anfang. Doch es bleibt eben nur ein erster Anfang. Und doch sind die Bilder, in denen Soraya Post, die kurze Zeit vorher von der Zwangssterilisierung ihrer eigenen Mutter in Schweden gesprochen hat und jetzt die in Tränen liegende Jakab Györgyné in den Arm nimmt, ein starkes Zeichen in den Hallen des Europäischen Parlaments. Jakab Györgynés Familie wurde Opfer eines Hassverbrechens in Ungarn. Die Arbeit beginnt an dem Punkt, wo Zeugnisse vernommen wurden und es heißt, weitere politische Schritte zu gehen. In jenen Momenten, wo erfahrenes Unrecht auf hohen politischen Ebenen anerkannt wird, tut sich für den Augenschlag einer Sekunde eine Idee von Europa auf, die es vermag, Unrecht zu richten und Europa wahrhaftig und aufrichtig in eine humanitäre Richtung zu bewegen. In diese Kerbe schlägt nun auch Sorayas einfache und zugleich scheinbar unmögliche Forderung: „We want justice and we don’t want more or less than the other people in the society.“

Es bleibt herausfordernd

 Die aktuellen Politiken von Rom_nja Aktivist_innen und ihren Mitstreiter_innen sind hoch politisch und stellen viele wichtige gesellschaftliche Fragen, die sich aus den Erfahrungen vom Aktivismus stellen. So etwa ist die Vertretung von 12 Millionen Sinti_zze und Rom_nja in Europa, jene Zahl die oft kursiert, wenn es um die tatsächliche Anzahl von Individuen geht, die der Minderheit Sinti_zze und Rom_nja zugerechnet werden, eine konstante Größe in Debatten. Doch ist die Frage von Identität und Herkunft um einiges komplexer als dass sie auf eine simple Ziffer runtergebrochen werden könnte. Ein statistisch erfasstes Wissen ist alles andere als akkurat, geschweige denn objektiv – ganz besonders dann, wenn es um den Zensus von Minderheiten in einem extrem rassistisch strukturierten Europa geht.

Ein Verweis auf die NS-Vernichtungspolitik macht schnell deutlich, wie jenes als sicher geltendes Wissen zu hinterfragen ist. So ist es nicht nur unmöglich, die genaue Opferzahl der Menschen zu rekonstruieren, die der NS-Vernichtungspolitik zum Opfer fielen, da es bei einem Genozid nie nur um die Vernichtung von Menschen geht, sondern immer auch um die Vernichtung der Vernichtung selbst. Vom perfekten Verbrechen gibt es keine Spuren.

Es trifft wohl zu, dass gerade beim Genozid an Menschen, die den Sinti_zze und Rom_nja zugezählt wurden, die mörderische Willkür und Gewalt der Vernichtungspolitik der Nationalsozialist_innen, ihrer Verbündeten und Sympathisanten, sehr brutal zum Ausdruck gekommen ist. Wer vom NS-Regime zur Minderheit gezählt wurde, lag weniger in einer Selbstidentifizierung als vielmehr in der Macht derjenigen, die über andere entscheiden und bestimmen konnten – also den Mörder_innen selbst.

Aus diesem extrem gewaltvollen Kapitel europäischer Geschichte ergeben sich Fragen und Probleme von politischer Repräsentation, die sich nicht einfach lösen lassen und etablierte Ansichten um Fragen der Repräsentation herausfordern.

Strategischer Essentialismus

Um das ambivalenten Verhältnis von Repräsentation und Identität weiter aufzuschlüsseln, liegt es nahe, eine theoretische Referenz zu bemühen, die es vielleicht vermag, inspirierend aus der scheinbaren Sackgasse herauszuführen. Die einflussreiche post-koloniale Aktivistin und Denkerin Gayatri Chakravorty Spivak konzipierte vor nicht allzu langer Zeit etwas, das sie einen „strategischen Essentialismus“ nannte. Auch wenn sie das Konzept heute eher kritisch sieht, können damit aktuell geführte Kämpfe um Umverteilung und Anerkennung in dem aufgemachten Kontext gut beschrieben werden. Es wird für das Erreichen eines politischen Ziels einer marginalisierten Gruppe eine notwendige Selbstrepräsentation übernommen. Diese Selbstrepräsentation ist selbstredend sehr problematisch, denn wer kann von sich behaupten, für alle Vertreter_innen einer Minderheit zu sprechen, und noch viel mehr, was zeichnet eine solche identifizierte Minderheit eigentlich aus? Was ist ihr Alleinstellungsmerkmal? Und was ist ihre Essenz? Dass gerade die Menschen, die sich als Rom_nja und Sinti_zze identifizieren oder als solche identifiziert werden, mit extremen Vorurteilen zu kämpfen haben und sie dazu oft mit einer imaginierten Essenz konfrontiert werden, trifft leider allzu oft zu. Als Dekonstruktivistin lehnt Spivak jede Idee von einem Essentialismus ab und betont, dass essentialistische Argumentationen von Minderheiten diese eher in ihrer marginalisierten, oft romantisierten gesellschaftlichen Position belässt – als sie aus dieser zu emanzipieren. Trotzdem, so Spivak, muss notwendigerweise der konstruktive Charakter einer Kategorie affirmiert werden. Das passiert aus einer Überzeugung, dass das Ziel, welches auf politischer Ebene erreicht werden will, mit der strategischen Behauptung „Wir Roma sind so und so“ für den Moment als Essenzialismus angenommen werden muss. Mit dem Ziel politische Forderungen hörbar zu machen und notwendige Veränderungen einzuleiten. Eine Gefahr, die Spivak sieht, ist die Frage, wie das strategische Annehmen von Identität überwunden werden kann und das punktuell Angenommene nach der erfolgreichen politischen Intervention wieder überwunden werden kann.

Antigypsyism heißt das Problem

Gerade weil die Identitätskategorie Sinti_zze und Rom_nja sehr fremdbestimmt und mit diskriminierenden Vorurteilen besetzt ist, lohnt ein Blick auf die Arbeitsdefinition der „Allianz gegen Antigypsyism“, die von vielen NGOs aus dem Feld gemeinsam aufgestellt wurde und in der Praxis benutzt wird. In der Arbeitsdefinition wird festgehalten, dass Antigypsyism historisch konstruiert und damit ein gesellschaftliches Produkt ist. Es ist ein stabiler Komplex eines gesellschaftlich etablierten Rassismus gegenüber „sozialen Gruppen, die mit dem Stigma ‚Zigeuner‘ oder anderen verwandten Bezeichnungen identifiziert werden.“ Diese Diskriminierungsform reproduziert strukturelle Ungleichheiten. Neben den Kämpfen um Anerkennung, die hier im Artikel verhandelt wurden, gilt es demnach auch – und das vertritt die Allianz mit ihrer angeführten Definition – einen Kampf gegen jene gesellschaftlichen Rassismen zu führen, die mit den Individuen Sinti_zze und Rom_nja oder Menschen die zu der Gruppe gezählt werden nichts zu tun haben, sondern die Strukturen anzugreifen, die Ausschlüsse produzieren und eine vermeintliche Abweichung von einer imaginierten dominanzgesellschaftlichen Norm behaupten. Und hier schließt sich auch die aufgemachte NS-Referenz, die eine jener Einflüsse war, die definierende Stigmas maßgeblich in der uns heute bekannten Form noch stärker gesamtgesellschaftlich verfestigt haben. Dabei muss klar sein, dass das NS-Regime den Hass nicht erfunden hat, sondern zu unbekannten und oft auch schwer vorzustellenden gesellschaftlichen Dimensionen getrieben hat.

Neben dem herausfordernden Manövrieren zwischen Identität und Zuschreibung bewegen sich die Auseinandersetzungen auch mit Hinblick auf erinnerungspolitische Fragen auf einem spannenden und fordernden Feld.

Erinnerungspolitische Reflektionen

Erinnerungen sind umkämpft und immer verbunden mit Anerkennungs- und Wiedergutmachungsfragen. Nicht anders ist es bei dem aufgemachten Kontext. Wenn es um die Frage von Anerkennung und historischer Sensibilität von Betroffenen geht, kommt von dominanzgesellschaftlicher Seite nicht selten die Abwehrreaktion: „Haben wir nicht schon genug getan?“ Gepaart mit dem selbst vergebenen Titel Deutschlands als „Erinnerungsweltmeister“ schleicht sich die Forderung bzw. die Behauptung ein: „Diese Dinge liegen in der Vergangenheit und irgendwann ist auch mal genug erinnert!“ Auch wenn der Banalität solcher Aussprüche kaum rational begegnet werden kann und sich hier die rassistische Matrix der Dominanzgesellschaft zeigt, lässt sich doch aus dieser plumpen Abwehrreaktion eine Frage ableiten, die es aufzugreifen gilt. Die Frage nach einem vielseitigen Erinnern, mit dem Ziel, Geschichte in ihrer Komplexität gerecht zu werden, um ein adäquates Gedenken zu ermöglichen. Michael Rothberg hilft uns hier mit seinem Konzept der Multi­direktionalen Erinnerung weiter. Es beschreibt die Herausforderungen der Verschränkung und Intervention von sozialen Akteur_innen, die mehrere traumatische Vergangenheiten in einer heterogenen post-faschistischen Gegenwart artikulieren. Auch wenn unsere Beziehung zur Vergangenheit ausmacht, wer und was wir in der Gegenwart sind, so ist diese Beziehung niemals eine determinierende oder gar eine, die ohne unerwartete bzw. ungewollte Konsequenzen ist. Zentral ist, dass über den Umgang mit der eigenen gesellschaftlichen Vergangenheit die Beziehung verhandelt wird, die eine Gesellschaft zu ihren als „andere“ betrachteten Gruppen in der Gesellschaft hat. Nicht einfacher macht es, dass sich jedes Erinnern und Gedenken in machtvollen sozialen und politischen Hierarchien bewegt und sich in von Macht durchzogenen Räumen artikuliert.

Anstatt Erinnerungsdiskurse als konkurrierend zu sehen, sollten sie doch vielmehr konstitutiv gesehen werden. Ein Zugang zu einem historischen Kapitel, so betont Michael Rothberg, macht viel mehr Bezüge zu anderen Kapiteln auf, als dass es diese verschließen und damit verunmöglichen würde. Über die Erinnerung und Sensibilisierung eines gesellschaftlichen Bewusstseins, wie es mit der Shoah der Fall war, wurde auch das Gedenken an andere Opfergruppen ermöglicht. Auf dieser Grundlage lassen sich folgende Herausforderungen formulieren: Erinnerungskämpfe sollten als produktiv und sich ergänzend gesehen werden, auch historische Vergleiche – nicht Gleichsetzungen – sollten bearbeitet werden, da sie neue Erkenntnisse produzieren können und verschiedene Realitäten stärker in Verhältnisse setzen können. Jene gesellschaftlichen Aufbrüche, die erkämpft wurden und in weiten Teilen heutiger deutsch/österreichischer Nachkriegsgesellschaften ein Bewusstsein im Bezug zur Shoah erreicht haben, eröffnet eine Möglichkeit des Gedenkens und Erinnerns, das sich auf andere Gruppen übertragen ließe. Die Herausforderung besteht darin, Gedenken konstruktiv zu verbinden und Allianzen weiter auszubauen.

Mit den prominenten Stimmen zweier Auschwitz-Überlebender, die für aktuelle Erinnerungsdiskurse extrem wichtig sind, kann gesagt werden, dass die Herausforderung darin besteht, Primo Levi’s „Es ist geschehen, und folglich kann es wieder geschehen“ mit Ceija Stojkas: „Ich habe Angst, Auschwitz könnte nur schlafen“ zusammenzudenken. Primo Levi, der als jüdischer Auschwitz-Überlebender für den Post-NS-Erinnerungsdiskurs weltweit eine zentrale Stimme geworden ist, gilt es mit der in Österreich geborenen Künstlerin Ceija Stojka, die als Romnja ebenfalls Auschwitz überlebt hat und erst langsam als repräsentative Stimme im Diskurs wahrgenommen wird, zusammenzuführen.

Dieser gemeinsame Kampf kann rassistische Strukturen stärker in dominanzgesellschaftlichen Kontexten angreifen.

Abschließende Betrachtungen

Mit den Spotlights auf aktuell geführte Debatten und Auseinandersetzungen, die im ersten Teil angerissen wurden und jenen aufgemachten theoretischen Bezügen um Erinnerung und Identitätspolitik lassen sich folgende Punkte konkretisieren. Das Aufgreifen und die Vergegenwärtigung von geschehenem Unrecht arbeiten auf vielen Ebenen bereits multidirektional. Die konstruktive Verbindung von US-amerikanischen Bürgerrechtsbewegungen als auch die Verknüpfung mit Shoah-Bezügen stärkt eine Allianzbildung weiter, die bereits im vollen Gange ist. Die Anliegen der „Allianz gegen Antigypsyism“ schaffen es, mehr Sichtbarkeit einzufordern. Die auch langsam dafür aber nachhaltig in Dominanzstrukturen intervenieren kann. Ein Zeichen des Erfolges ist, dass das Positionspapier bis hinauf zu EU-Ebenen diskutiert wird.

Über das strategische Affirmieren von Identität werden Forderungen taktisch ins Feld geführt und ermöglichen es so lange Kämpfe um Anerkennung und Wiedergutmachungen zu beschreiten. Trotzdem bleiben viele unbekannte und gefährliche Wege zu beschreiten. Jenes wird, davon kann ausgegangen werden, mit einer kämpferischen Lebendigkeit getan. Diese Lebendigkeit kommt nicht zuletzt aus einer sehr jungen und vitalen Bewegung, die Diskriminierung die Stirn bietet und Verletzungen angreift, die allzu lange in Kauf genommen wurden.

Die Brücke zwischen Institutionalisierungen und sozialer Bewegung wird auch weiterhin ein spannender Aushandlungsprozess bleiben, der so schnell nicht entschieden sein wird. Die Aufmerksamkeit zu den aktuellen Prozessen hat sehr inspirierende Strahlenwirkungen, die allgemein zivilgesellschaftliche Prozesse und Kämpfe um Gerechtigkeit wechselseitig bestärken und motivieren können. Prozesse, die uns als Gemeinschaft wachsen und geschichtsbewusst in die Zukunft gehen lassen.