Wie sich die Leistungsgesellschaft als Aktivgesellschaft langsam zu einer Dopinggesellschaft entwickelt und ein Infarkt der Seele droht
Minimalismus gilt als Alternative zum Überfluss oder auch Überdruss. Dass sich die Idee einer sinnvollen Reduktion auch auf das eigene Wissen beziehungsweise Nichtwissen übertragen lässt, ist nur konsequent gedacht. Denn: In unserer Komplexitätsgesellschaft gibt es für jede Handbewegung Kompetenzen, Forschungsergebnisse und Instanzen, die das Wissen darüber wahren und gewinnbringend verteilen. Wir leben in einer Zeit, in der jeder kleine Schritt mit Unmengen von Wissen belastet ist. Dadurch werden wir auf beinahe allen Gebieten zu Ahnungslosen und stümpern uns durch die Welt.
Es gibt einfach verdammt viel Ahnungslosigkeit bei all dem Wissen und all den Optionen. Sich das einzugestehen ist schmerzhaft, und somit auch die zwei Worte „Keine Ahnung“. Dabei steckt im Keine-Ahnung-haben großes Potenzial. Oft werfen wir mit Begriffen und Konzepten um uns, deren Inhalte wir nicht wirklich verstehen. Ein jeder gibt vor, die „totale Ahnung“ zu haben.
Haltung einnehmen
Aber: Wer sich nicht eingesteht, auch einmal etwas nicht zu wissen, der sorgt dafür, dass Kommunikation zu einem reinen Schauspiel wird. Gerade in einer Zeit der Umbrüche ist viel mehr der Unwissende als der Wissende gebraucht – nicht der, der vermeintlich stabile Wissensgebäude bewohnt, sondern der, der Wissen immer neu zusammenstellt, immer neu dazulernen kann und möchte. Hierbei gilt es eigene Maßstäbe zu entwickeln, wovon man eine Ahnung haben möchte und wovon ganz bestimmt nicht.
Vielleicht stimmt es nicht, dass die Komplexität in unserer Gesellschaft steigt. Vielleicht steigt bloß unsere Angst vor der Komplexität, weil wir nicht gelernt haben, mit ihr richtig umzugehen. Vielleicht brauchen wir deshalb nicht weniger Komplexität, sondern vielmehr die Fähigkeit zu entscheiden, was wir wissen wollen – und was eben nicht. Ein „Keine Ahnung“ kann nämlich auch „Ich muss nicht jeden Mist wissen“ bedeuten. So kann man sich bestimmten Strukturen bewusst entziehen, denn auch eine scheinbar harmlose Frage ist eine Unterwerfungsaufforderung in ein Wissens- und Relevanzsystem. Und „Keine Ahnung“ ist die Verneinung dessen. Damit wird die „Wissenslücke“ zu einer Form des Protests.
Rasender Stillstand
Dieser Umstand gehört dem „Strukturwandel der Aufmerksamkeit“ an. Denn es wird immer schwieriger sich zu konzentrieren, seine Aufmerksamkeit zu bündeln. Stattdessen werden Seiten, Artikel etc. nur mehr überflogen. Die Aufmerksamkeit wird immer breiter, aber auch immer flacher. Perspektivenwechsel werden in immer rascherer Folge vollzogen. Kontemplation findet nicht mehr statt. Oft ist der Weg nach innen zunehmend verstellt. Aus der Aufmerksamkeit ist eine Hyperaufmerksamkeit geworden und mit dem Verschwinden der Entspannung ist auch die Fähigkeit zu „lauschen“ und die Gemeinschaft der Lauschenden (nach Walter Benjamin) betroffen. Ihr ist unsere Aktivgesellschaft diametral entgegengesetzt. Die „Gabe des Lauschens“ beruht auf der Fähigkeit zur tiefen, kontemplativen Aufmerksamkeit, zu der das hyperaktive Ego keinen Zugang mehr hat. Selbst Nietzsche, der das Sein durch den Willen ersetzt hat, weiß, dass das menschliche Leben in einer tödlichen Hyperaktivität endet, wenn ihm jedes beschauliche Element ausgetrieben wird: „Aus Mangel an Ruhe läuft unsere Zivilisation in eine neue Barbarei aus. Zu keiner Zeit haben die Tätigen, das heißt die Ruhelosen, mehr gegolten. Es gehört deshalb zu den notwendigen Korrekturen, welche man am Charakter der Menschheit vornehmen muss, das beschauliche Element in großem Maße zu verstärken.“
Ich-Müdigkeit
„Der Exzess der Leistungssteigerung führt zum Infarkt der Seele“, erinnert der in Deutschland lebende koreanische Philosoph und Autor Byung-Chul Han. Die Müdigkeit der Leistungsgesellschaft ist eine Alleinmüdigkeit, die vereinzelnd und isolierend wirkt. Sie ist jene Müdigkeit, die Peter Handke in Versuch über die Müdigkeit die „entzweiende Müdigkeit“ nennt: „Die beiden fielen schon, unaufhaltsam, weg voneinander, ein jeder in seine höchsteigene Müdigkeit, nicht unsere, sondern meine hier und deine dort.“
Der sprachlosen, blicklosen, entzweienden Müdigkeit setzt Handke eine beredte, sehende, versöhnende Müdigkeit entgegen. „Die Müdigkeit als ein ‚Mehr des weniger Ich‘ eröffnet ein Zwischen, indem sie die Klammer des Ich lockert. Ich sehe nicht bloß das andere, sondern ich bin auch das andere und ‚das andere wird zugleich ich‘.“ Handke versammelt auf diese ‚fundamentale Müdigkeit‘ „all jene Daseins- und Mitseinsformen, die im Zuge der Verabsolutierung des Aktivseins ganz verschwinden.“
Ein anderes Denken
Die „fundamentale Müdigkeit“ ist alles andere als ein Erschöpfungszustand, in dem man unvermögend wäre, etwas zu tun. Sie wird vielmehr als ein besonderes Vermögen dargestellt. Sie inspiriert. Sie lässt den Geist entstehen. Die „Inspiration der Müdigkeit“ gilt Handke dabei dem Nicht-Tun (auch Nicht-Denken): „Eine Ode auf einen Müden, statt auf einen Sieger! Die Pfingstgesellschaft, wie sie den Geist empfängt, stelle ich mir durch die Bank müde vor. Die Inspiration der Müdigkeit sagt weniger, was zu tun ist aber was gelassen werden kann.“
Handke erhebt die Müdigkeit zu einer Heils-, ja zu einer Verjüngungsform. Sie bringt das Staunen in die Welt zurück: „Der müde Odysseus gewann die Liebe der Nausikaa. Die Müdigkeit verjüngt, so wie du nie jung warst. Alles wird in ihrer, der Müdigkeit Ruhe, erstaunlich.“ Handke setzt der arbeitenden, zugreifenden Hand die spielende Hand entgegen, die nicht mehr entschlossen zugreift: „An allen Abenden hier in Linares schaute ich dem Müdewerden der vielen Winzigkinder zu: keine Gier mehr kein Greifen mehr in den Händen, nur noch ein Spiel.“
Ein anderer Bartleby
Ein Gedanke, der sich lohnen könnte. Folgendes lässt sich unterscheiden: Die Erschöpfungsmüdigkeit ist eine Müdigkeit der positiven Potenz. Sie macht unfähig, etwas zu tun. Die Müdigkeit, die inspiriert, ist hingegen eine Müdigkeit der negativen Potenz, nämlich des „Nicht-zu“. Handkes Gesellschaft, die zum Nicht-Tun inspiriert, ist der Aktivgesellschaft entgegengesetzt. Handke stellt sie sich „durch die Bank müde“ vor. Sie ist eine Gesellschaft der Müden im besonderen Sinne. Wäre diese ein Synonym für die heutige Gesellschaft, so könnte diese (unsere) Gesellschaft auch Müdigkeitsgesellschaft heißen. Der Begrifft ist ambivalent, denn einerseits wird mit ihm auf die zunehmende Erscheinung psychischer Infarkte im Zuge einer überspannten Leistungsgesellschaft verwiesen, andererseits steht eine fundamentale Müdigkeit als Inspirationsquell in diametralem Gegensatz zur Leistungsgesellschaft. Somit wird hier die fundamentale Müdigkeitsgesellschaft zu einem Quell der Hoffnung, der die Verhärtungen und Gewaltverhältnisse der Aktiv- und Leistungsgesellschaft aufbrechen könnte.
Im Gegensatz zu Melvilles Bartleby, der als Teil einer Disziplinargesellschaft verstummt und an seiner Antriebslosigkeit und Apathie zugrunde geht, werden wir uns unserer Autonomie und Autorität bewusst. Denn unsere Entscheidungen, worauf wir unsere Aufmerksamkeit richten, womit wir unsere Zeit verbringen und was wir als wichtig erachten, formen und festigen gesellschaftliche Strukturen, in denen wir uns tagtäglich bewegen. Indem wir etwas „lieber nicht“ erfahren oder wissen möchten, uns weigern etwas zu tun, „ablehnen“ und „weiterdenken“, etablieren wir eine kritische Haltung und revoltieren still gegen den Lärm der Welt.