MALMOE

Wo wir nicht Mensch sind

Gestörtes Störendes (#10)

„Ich liebe Werbung!“, sagte mein kleinerer Sohn neulich. „Gibt sie dir ein gutes Gefühl?“, fragte ich ihn – ziemlich suggestiv, zugegebenermaßen –, was er sofort strahlend bejahte. Werbung dominiert den öffentlichen Raum, real und virtuell, und sie spricht beständig mit uns. Eigentlich ist sie die einzige Instanz, die uns aus der Position eines verallgemeinerten Anderen persönlich anspricht. (Mit Ausnahme von Wahlplakaten im entsprechenden Zeitraum.) Die Position des verallgemeinerten Anderen beinhaltet die Norm, das unhinterfragte Normale, die anzustrebenden Ideale. (Als Kinder war diese Position von den Eltern besetzt.) Im Fall der Werbung spricht uns diese Position ganz persönlich an: Hier bist Du Mensch, hier kaufst Du ein; weil Du es Dir wert bist; what else? (ausartikuliert: was sonst könnte besser für Dich sein?); Du bist doch nicht blöd! Enjoy! usw. Glückliche Menschen haben es schon, unglückliche werden im Handumdrehen glücklich gemacht. Neulich sah ich einen Film mit Julie Delpy, in dem ihre Figur erzählt, wie sie (noch vor 1989) eine Zeitlang in irgendeinem Land war, Polen oder Tschechoslowakei, und anfangs irritiert war von der Abwesenheit der ständigen Werbebotschaften, aber nach ein paar Tagen oder Wochen bemerkte, dass sie auf eine Art freier denken konnte. Ich war mal sechs Wochen auf Kuba und aus meiner privilegierten Reiseposition heraus kann ich nur sagen, dass ein werbefreier öffentlicher Raum auch auf mich sehr befreiend wirkte.

Es muss uns klar sein, dass wir alle beschädigt sind. Das macht uns verletzlich und bedürftig. Es wird wohl nie eine Gesellschaft geben, die Beschädigungen vollkommen vermeiden kann. Wir allerdings leben in einer, welche die von ihr selbst bedingten Beschädigungen perpetuiert, indem uns beständig vermittelt wird, dass wir nur dann Anerkennung und Wertschätzung bekommen, wenn wir etwas tun, erreichen, erledigen, besitzen. Die meisten Eltern machen es so, in den meisten Schulklassen läuft es so und in der Arbeitswelt sowieso. Spätestens da sind wir schon so daran gewöhnt, uns über Besitz, Leistung und Erfolge zu definieren und definiert zu werden, dass uns diese Ungeheuerlichkeit schon gar nicht mehr auffällt. Hattet ihr als Kind eine Tante, einen Onkel, eine Oma, einen Opa oder sonst eine_n Erwachsene_n, die oder den ihr besonders geliebt habt? Ich schätze mal das war so, weil die_der sich einfach total gefreut hat, wenn sie_er euch sah, die_der euch das Gefühl gab, geliebt zu werden, einfach so, ohne Bedingungen!

Die Werbung gaukelt uns genau das vor: Dass wir super sind oder es zumindest sein können, dass wir es verdient haben, dass es uns zusteht, dass wir „es“ erreichen können usw. Sie spricht zu unseren Gefühlen, unserem Innersten, unseren Wünschen, Sehnsüchten, Ängsten. Das ist mehrfach perfide, erstens, da es eine rein instrumentelle Zuwendung ist, es geht ja nie um mich als Person; zweitens, weil diese Pseudozuwendung auch noch an Bedingungen geknüpft ist: Nur wenn ich kaufe oder bezahle, bekomme ich das Versprochene (das ich eh nie bekomme, siehe erstens); drittens, werden wir auf der Ebene unserer Gefühle angesprochen und dem können wir uns nicht entziehen. Die kapitalistische Logik muss in den ihr unterworfenen Subjekten einen beständigen Mangel erzeugen und vorantreiben, welcher zur Triebfeder von Konsum wird. Gleichzeitig vermag der Konsum den inneren Mangel nicht zu beheben. Ich kann zwar reflektieren, dass ich kein Markenzeugs brauche, um mich gut zu fühlen oder kein Konto bei Bank XY, um mich sicher zu fühlen, ich kann rational erfassen, dass das Lügen sind oder zumindest leere Versprechungen, trotzdem wirkt der in diesen Appellen enthaltene Druck der Normalität auf mich: All diese Dinge, all diese Tätigkeiten scheinen normal zu sein und ich habe/mache das nicht. Im Film „They Live!“ von John Carpenter findet der Hauptdarsteller eine Sonnenbrille, mit der er plötzlich sehen kann, dass sich hinter allen Werbeplakaten verborgene Appelle verstecken, wie z. B. Kauf!, Heirate!, Arbeite!, Schlafe! Gehorche! usw. Genau diesen Botschaften können wir uns nicht entziehen. Sie sprechen uns an, weil wir wollen, dass ihre Versprechen in Erfüllung gehen: Wir wollen vollständig akzeptiert, anerkannt, gesehen werden und dafür müssen wir kaufen, gehorchen, heiraten, arbeiten, schlafen. Die Reflexion dieser Lüge erfordert das Annehmen des Schmerzes der Enttäuschung auf emotionaler Ebene: Ich werde nicht anerkannt, ich bin ein Außenseiter, ich bin ersetzbar. Auch die Zuflucht in Gemeinschaften von Gleichgesinnten ist nur ein dürftiges Heilmittel, wiewohl ein sehr wertvolles. Aber Achtung: Wir sind zwar alle beschädigt, aber Identität ist auch keine Lösung.