Labyrinth (#7)
Die Auswahl der gangbaren Politiken beschränkt sich in der europäischen öffentlichen Wahrnehmung zunehmend auf zwei Alternativen. Beide sind eine Gefahr für die europäische Idee.
Hofer oder Van der Bellen? Wilders oder Rutte? Le Pen oder Macron? Man kann auch sagen: Faschismus oder Demokratie, extrem Rechte gegen Liberale. Zwei trügerische Alternativen, mit denen man sich nun regelmäßig konfrontiert sieht. Da stehen die extrem Rechten für 1933, Van der Bellen, Rutte oder Macron hingegen für die Stabilität Europas. Es besteht kein Zweifel, dass die Demokratie verteidigt werden muss – und deshalb, so die stille Forderung, ein Auge vor der sozialen Krise Europas zugedrückt werden soll.
Diese vermeintlichen Alternativen – auch bei den vergangenen Präsidentschaftswahlen in Frankreich – täuschen. Die Macrons auf der einen Seite – manche nennen sie Liberale, progressive Neoliberale oder auch Linksliberale – stehen bedingungslos hinter der EU. Dabei hört man wenig Substantielles, gar so als wäre die pro-EU-Haltung ein reiner Selbstzweck. Im politischen Wettbewerb gewinnen sie noch knapp mit dem Europa-Argument und ihrem Mantra der liberalen Werte. In ihrem tatsächlichen politischen Handeln haben die Behandlung der Ursachen jener sozialen Krisen, denen sie gegenüberstehen wollen, und die Frage nach den Bedingungen für die Einlösung dieser liberalen Werte keinen Platz. Die Schulden-, Migrations-, Legitimationskrise der EU und nicht zuletzt der Brexit werden auf eine einzige Frage reduziert: Für oder gegen Europa? Sinnbildlich für Europa stehen die Macrons, dagegen die Hofers und Le Pens. Soziale Konflikte werden auf eine inhaltsleere Frage der Identität reduziert, das Denkbare auf ein Schwarz und Weiß emotionalisiert: Für oder gegen Europa?
„Wenn zwei sich streiten, freut sich der Dritte“, müsste der Einstieg in diesen nächsten Absatz heißen – mit Verweis auf eine progressive, linke Alternative auf die Alternativlosigkeit. Zuletzt wurde auf Mélenchon oder Corbyn gehofft. Mélenchon avancierte bei den französischen Präsidentschaftswahlen kurz zeitig zur dritten Option. Der „unwählbare“ Corbyn überraschte bei den vorgezogenen Wahlen in Großbritannien auch in den eigenen Reihen. Beide stellen die soziale Frage. Für beide ist auch die EU Verursacher oder zumindest Teil des Übels, das sie beklagen. Sie fordern eine „Verschnaufpause“ von der überwältigenden Globalisierung. Ihre Feinde sind die Brüsseler Bürokratie und der „entgleiste“ Finanzkapitalismus. Das Ideal ist das fordistische Muster von Massenproduktion und Massenkonsum der Nachkriegszeit und einem starken Staat alter Tage. Mélenchon bekräftigte im Wahlkampf seine EU-feindliche Haltung und kam damit Le Pen erschreckend nahe. Sein englisches Pendant warb vor der Brexit-Abstimmung nur halbherzig für den Verbleib Großbritanniens in der EU. Seither hat Labour den Ausstieg aus der EU quasi hingenommen, bemüht sich nur um eine sanfte Verwaltung des Brexits.
Doch die Welt und der Kapitalismus haben sich seit den 1970ern geändert. Globalisierung hat keinen Rückwärtsgang. Eine progressive Lösung für globale Problemlagen ist nur auf europäischer Ebene artikulierbar. Brexit, Öxit oder auch Lexit sind kurzschlussartige Heilsversprechen.
Die Herausforderung für eine progressive Linke bleibt, die Kritik an den multiplen Krisen der EU und in der EU kompromisslos zu formulieren, und zwar ohne die „nationale Alternative“. Die symbolische Erzählung von Europa, der Friedensprozess und die liberalen Werte bieten gegen die nationale Borniertheit eine emotionale Basis für Solidarität und Kompromiss, die es realpolitisch braucht, um das europäische Konstrukt tiefgreifend zu reformieren – noch bevor es Geschichte wird. Neben einer radikalen Reform der europäischen Institutionen und einer solidarischen Antwort auf die ökonomische Ungleichheit zwischen den Mitgliedsstaaten müsste die Erzählung von Europa mit Substanz von den Menschen selbst gefüllt werden, um mehr als ein Lippenbekenntnis zu sein. Europäische Solidarität wird schon alltäglich gelebt, sei es an den europäischen Grenzen, an denen tausende Menschen noch immer gegen eine Abschottungspolitik kämpfen, oder die transnationalen Initiativen gegen die neoliberale Ausrichtung der europäischen Institutionen, die vor allem im Süden der EU viel Leid verursacht. Dort wird die europäische Idee als Potenzial gelebt, das noch nicht abgeschlossen ist und schon jetzt verteidigt werden muss, für dessen Realisierung weiterhin zu kämpfen ist. Für diesen Kampf sollte eine progressive pro-europäische Linke stehen.