Koordinaten #4
Die vierteilige Serie Koordinaten stellt Positionen unterschiedlicher Exilerfahrungen aus der Zeit von 1938 bis 1940, also in direkter Folge an den „Anschluss“ Österreichs an das nationalsozialistische Deutschland, anhand literarischer Texte vor und kontrastiert sie mit aktuellen Reflexionen und Einschätzungen. Die hier erstmals einem breiten Publikum zugänglich gemachten Quellen stammen aus der Österreichischen Exilbibliothek im Literaturhaus Wien. Die in Sprache und Gestus oftmals sehr deutlich in ihrem Entstehungszeitraum verankerten Beispiele verhandeln auf literarischem Wege Fragen und Problematiken, die zu reflektieren ein Anstoß ist, den die Reihe geben will. Unabhängig davon ob Kurzerzählung, Tagebucheintrag oder Erfahrungsbericht – die Textserie bietet Einstiege in Sammlungen, die entdeckt werden wollen. Nicht zuletzt deshalb versteht sich Koordinaten als Einladung zu Auseinandersetzung, Diskurs und vor allem auch: Lektüre.
Kuratorische Betreuung: Veronika Zwerger (Österreichische Exilbibliothek/Literaturhaus Wien) & Thomas Ballhausen (Pressedokumentation/Literaturhaus Wien)
Kurt Weinberg: Tagebuch (Auszug)
19. XI. 1940: Nach mehrtägigem, ungeduldigem Warten verlassen wir endlich, eine Gruppe von fünfzehn Burschen und Mädchen, mit dem D-Zug um 9h30 abends Wien und sind bereits um 1h45 in Graz, dem Ausgangspunkt der „Operationen“.
22. XI.: Es geht los! Um 13h verlassen wir alle Graz und fahren im Auto nach Leutschach, Gendarmerie-Grenzkommando, Deutsche Reichsgrenze. Unsere Herzen klopfen etwas, angesichts superpeinlich genauer Revision unseres armseligen Gepäcks, doch alles geht glatt und so beginnen wir um 18h, voll mit Hoffnung und guter Zuversicht, den Aufstieg zur eigentlichen Grenze, die auf einer 1500m hohen Gebirgskette verläuft. Um 19h30 sind wir oben und quartieren uns in einer Scheune ein, um etwas frische Kräfte zu sammeln. Um 23h45 geht’s weiter. – Vorsichtig und geräuschlos marschieren wir einen holprigen, glitschigen Pfad entlang, ohne uns irgendwelche Rast zu gönnen. So legen wir etwa 26km zurück und erreichen endlich um 5h morgens, zerbrochen und erschlagen und müde zum Umfallen, die ersehnte Draustraße. Doch das Auto, das uns planmäßig erwarten und nach Zagreb bringen soll, ist nicht hier. „Zurück in den Wald!“, kommandiert unser Führer. Zwischen den Bäumen lagern wir, durchnässt und hungrig, mit Ungeduld das Auto erwartend. Die Zeiger der Uhr drehten sich, rückten vorwärts, doch das Auto ist nicht zu sehen. 13 Stunden nervenaufpeitschendes Warten folgt, durchsetzt mit der Angst vor dem möglichen Auftauchen einer jugoslawischen Patrouille. 13 lange, endlos erscheinende Stunden vergehen, bis das Auto um 18h30 kommt und uns in einem Marburger Gasthaus absetzt. Der erste Teil ist glücklich überstanden.
24. XI.: Nachdem wir den Tag in Gast- u. Kaffeehäusern zugebracht haben, auf den Bahnhof eines Vorortes von Marburg. Doch diesmal haben wir kein Glück! Der Zug kommt pünktlich, hält jedoch bloß eine Minute und rast weiter, fünf von uns auf Bahnsteig zurücklassend. – Die jetzt heranrückende Nacht brachte uns scheinbares Gelingen, zum Ende jedoch schwarzes Pech, vor allem aber Überraschungen in solchem Maße, dass wir zum Schluss nicht wussten, was anzufangen. Das bittere Ende wär, dass die Marburger Bahnhofspolizei aufmerksam wurde und uns um 4h früh kurzerhand verhaftete. Damit war unsere Reise beendigt. Alle unsere Anstrengungen waren umsonst gewesen.
28. XI.: Wir versuchen unser Glück nochmals! Um 13h50 verlassen wir Graz und sind um 7h abends oben an der Grenze. Doch starke jugoslawische Patrouillen kontrollieren den Teil der Grenze, den wir für unsere „Überfahrt“ benützen wollen. Wir quartieren uns in einem Bauernhof ein und warten.
29. XI.: Den ganzen Tag verbringen wir in dem engen Haus. Die Zeit vergeht zu langsam. Das Wetter hat sich auch geändert. Es schneit. Große, schwere Flocken fallen vom Himmel, alles in ein weißes, dichtes Kleid hüllend. Um 19h kommt der Führer, die Grenze ist frei. Lautlos huschen wir hinaus. Die Schneedecke ist bereits 60cm hoch, der Wind ist zum Sturme angeschwollen, eine durchdringende Kälte mit sich bringend. Der Weg ist ein Graus! Es geht über Berge und durch Täler, Felder, tiefverschneite Weiden und Wälder. Bäche und andere kleine Gerinnsel, halb vereist, werden durchwatet. Die Finsternis ist undurchdringlich, der eisige Wind macht einen die Augen schließen und zu alldem sind die Patrouillen aufmerksam geworden. Das Licht ihrer Lampen zuckt durch den Wald, Bäume absuchend, manchmal weniger als 40cm entfernt. Vom jugoslawischen Zollhaus blitzt der Scheinwerfer auf, langsam das Gelände abtastend, ein riesiger, weißer Finger, uns bei 3-4m missend. Die Angst treibt uns vorwärts, das Tempo wird verschärft und langsam vergrößern wir den Abstand zwischen uns und den Grenzposten. – So legen wir, mehr laufend als gehend, 24km in 4 ½ Stunden zurück. Um 23h sind wir an der Draustraße, eine phantastische Leistung. Nach kurzer Zeit holt uns das Auto und bringt uns nach Marburg in ein kleines Gasthaus, wo ein Glas heißer Punsch wahre Wunder tut. Dann fahren wir weiter.
30. XI.: Nach vierstündiger, unbequemer Fahrt, 12 Menschen in einen kleinen Viersitzer gepresst, sind wir am Ziel ZAGREB.
1. XII.: Alle werden bei jüdischen Familien untergebracht, wo wir für die nächsten Monate wohnen, essen und zuhause fühlen. Wir sind wieder glücklich.
Die Zeit vom 1. XII. 40 – 27. III. 41, die Wartezeit vom Tage unserer Ankunft bis zur endgültigen Abreise nach Palästina, verbrachten wir in der Pflege dort ansässiger, jüdischer Familien, die alles daransetzten, uns einen angenehmen Aufenthalt zu bereiten und uns arme, heimlose Emigranten mit Gaben und Geschenken überschütteten. Man sorgte für Unterhaltung ebenso wie für Bekleidung, richtete uns ein Heim ein, wo Vorstellungen und Unterricht gegeben wurden. Und ich muss wirklich sagen, dass wir hervorragend gut versorgt waren und uns wie im Schlaraffenlande fühlten. Dieses angenehme Schlemmerleben wurde plötzlich und unvermutet unterbrochen. Man befahl uns, sofort zu packen und uns am Bahnhof einzufinden. Der Zagreber „Kuraufenthalt“ war zu Ende.
27. III.: Beginn anti-deutscher Demonstrationen in Serbien. (…) Um 13h verlassen wir mit dem Schnellzug Zagreb und fahren nach Belgrad. Die Vorbereitungen zur Reise gehen in rasender Eile vor sich. Sie dauern bloß eine Stunde. Um 21h sind wir in Belgrad und werden in das Parlament gebracht.
3. IV.: Endlich ist es so weit! Wir packen unsere sieben Zwetschken und stehen bereit! Um 21h marschieren wir zum Bahnhof. (…) Der Zug fährt jetzt durch eine malerische Gegend, gebirgig, bewaldet und wild, längs eines Flüsschens, das sich in krummen Bogen durch‘s Gebirge windet. In Skoplje treffen wir Militärtransporte, die nach dem Norden gehen. Um 16h30 sind wir endlich an der griechischen Grenze, die wir ohne jede Kontrolle passieren. Wir wechseln den Zug und fahren in finsteren Waggons um 1h nachts weiter. Saloniki ist die nächste Station. Die Stadt ist mehrmals bombardiert worden und Spuren der Zerstörung sind deutlich zu sehen.
6. IV.: Um 10h vormittags gelangen wir nach Alexandropolis, einer Hafenstadt. Der Bahnhof hatte vor einigen Tagen scheinbar einen Volltreffer abbekommen und ist in einem wüsten Zustand. Wir wechseln unseren alten Wackelkasten für einen hochmodernen Stromlinienzug und „fliegen“ durch das Land. Scheinbar hat der Zug Radio, denn er hält ganz plötzlich an und [man] befiehlt uns, den Zug zu verlassen und uns schnell in den Feldern niederzuwerfen. Dann erst sehen wir ein einzelnes Flugzeug am Horizont erscheinen und in den Wolken verschwinden. Erleichtert steigen wir wieder ein. In Pythion, der letzten, großen, griechischen Station, heißt es warten. Griechische Züge gehen nicht mehr weiter. Wir sind sehr nervös, die Mädels haben Angst. Um 11h nachts kommt der türkische Express und zwei Stunden später sind wir auf türkischem Gebiet.
7. IV.: Von weitem sehen wir schon die Türme und Türmchen von Istanbul und es ist Punkt 10h, wenn der Zug mit einem scharfen Ruck in der weiten Halle hält. Und nur kurze Zeit später „segeln“ wir mit einem Motorboot über das Goldene Horn zur Halbinsel Moda. Das ist meine erste „Seefahrt“, die allerdings bloß 50 Minuten dauert! – Jubelnd und schreiend empfängt uns hier die vorausgefahrene 2. Gruppe, mit der wir uns jetzt vereinigen und zusammen die Reise fortsetzen. Für den kurzen Aufenthalt bringt man uns in einer Pension unter und verpflegt uns erstklassig. Hier ist es sehr schön und wir sind selbstverständlich den ganzen lieben Tag am Meer in den Klippen herumklettern und Unsinn treibend.
9. IV.: Die Fahrt ist noch nicht zu Ende! So marschieren wir fröhlich zum Ankara-Bahnhof. Das Wetter ist stürmisch und das Meer gibt uns ein paar ordentliche Duschen. – Man gibt uns zwei separierte Waggons und um 9-10h donnert der Zug aus der Halle. – Zuerst rasen wir an einer Bai entlang, machen dann jedoch einen Bogen nach Süd-Osten und durchqueren die kleinasiatische Hochebene und dann düstre, menschenleere Steppen.
10. IV.: Die Reise führt jetzt durch Gebirge. Schneebedeckte Gipfel grüßen zu uns herüber, Tunnels, oftmals mehrere Kilometer lang, werden dutzende Male durchsaust. Um 6h abends erreichen wir Adana, einen Bahnknotenpunkt.
11. IV.: Die französischen Zollbeamten wecken uns auf. Es ist 7h morgens, wir sind in Syrien. Aleppo wird um 10h gesichtet. Abends fahren wir weiter, im Zuge den ersten Seder-Abend bei Mazzes, Bananen und trübem Lichte feiernd.
12. IV.: Nachdem wir Syrien in ¾ seiner Länge passiert haben, nähern wir uns am Vormittag Beyruth. Von Ferne grüßen das Meer und die ersten Palmen. Die Stadt bietet uns ein fesselndes Panorama, als wir langsam den Berg abwärts rollen. Vor der Station erwarten uns Autobusse, die uns rasch in die Quartiere bringen.
13. IV.: Frühzeitig sind wir bereit. Diesmal fahren wir per Auto. Nach drei Stunden sind wir an der Grenze und fahren nach kurzer Kontrolle zu den Engländern.
Dort ist die Kontrolle schon schärfer. Man sucht nach Waffen und schickt dann die Erwachsenen nach Atlit, wo wir 3 Tage stecken.
16. IV.: Um 3h öffnen sich die Tore und [wir] fahren nach Haifa.
17. IV.: Am Nachmittag fahre ich nach Magdiel, der „Heimat“ für weitere zwei Jahre. Die große Fahrt ist endlich zu Ende.
Kontexte: Von Ende 1940 bis Anfang 1941 gelangten etwa 120 Kinder und Jugendliche aus den von den Nationalsozialisten besetzten Gebieten nach Zagreb. Dort wurden sie von Mitgliedern der Organisation Jugendaliyah betreut, während sie auf Einreisezertifikate nach Palästina warteten. Kurz vor Einmarsch der deutschen Truppen in Jugoslawien erhielt ein Teil der Gruppe die ersehnten Papiere. Die „Zagreb-Kinder“, wie sich diese Gruppe nannte, flohen ohne Begleitung Erwachsener nach Palästina.
Kurt Weinberg, geboren 1924 in Wien, war eines dieser „Zagreb-Kinder“. Von November 1940, als er seine Flucht antrat, bis März 1946 führte er ein Tagebuch, das hier in leicht korrigierten Auszügen vorgestellt wird. Nach seiner Ankunft in Palästina lebte er in einem Internat der Jugendaliyah, er beschreibt in erster Linie Reisen und später seine Militärzeit. Die aufwändige Gestaltung des Tagebuchs, das einheitliche Schriftbild und zahlreiche Illustrationen lassen darauf schließen, dass es sich um eine Reinschrift handelt. Neben dem Tagebuch gibt es kaum Spuren zu Kurt Weinberg: Er heiratete, wurde Grafiker und kehrte 1957 mit seiner Frau Franciska nach Wien zurück. Zwei Jahre später verließen sie Österreich wieder und emigrierten in die USA. 1994 starb Weinberg in San Francisco, Kalifornien. Über Umwege gelangte sein Tagebuch 2005 an die Österreichische Exilbibliothek (N1.EB-43).
Literaturhinweis:
Kurt Weinberg hielt die Fluchtroute der „Zagreb-Kinder“ in einer selbst gezeichneten Karte fest. Sie ist eines von zwanzig Sujets der Postkartenserie: Die Gegenwart der Geschichte. Aus den Sammlungen der Österreichischen Exilbibliothek Hg.: Veronika Zwerger. ZIRKULAR, 2017. 20 Postkarten in Schuber. Erhältlich über: bestellungen@literaturhaus.at