MALMOE

Von der Philosophie der Praxis zum Denken der Revolution

Wie wichtig eine Theorie der revolutionären Praxis ist, zeigten jugoslawische DenkerInnen rund um Gajo Petrović und Predrag Vranicki in den 1960er Jahren. Ihre Arbeit wird heute kaum noch beachtet, obwohl sie bemerkenswerte Ansätze zu einer menschlichen Gestaltung von Wirtschaft und Gesellschaft enthält.

Mit Jugoslawien verbinden heute viele – auch viele Linke – nur noch Krieg, einen gescheiterten Vielvölkerstaat, der in nationalistischen Pogromen zerfiel, den deutschen Außenminister Joschka Fischer, der den Krieg im Namen von Auschwitz rechtfertigte, oder auch Peter Handke, der die Auslieferung Milosevićs als Serbiens ewige Schande bezeichnet hat. Doch Handke machte hinsichtlich Jugoslawiens einen Punkt, und zwar indem er darauf hinwies, dass es sich grundsätzlich von der Sowjetunion unterschied, was allerdings in Vergessenheit geraten ist.

Tatsächlich schlug Jugoslawien, nach dem Ausschluss aus der Kominform 1948, einen anderen Weg ein. So kam es auch, dass sich eine Philosophie entwickeln konnte, welche in den 1950er Jahren aus sozialistischer Sicht „eine grundsätzliche Destruktion der Stalinschen Interpretation des Marxschen Denkens“ vornahm und „auch eine radikale Auseinandersetzung mit dem Marxismus der Zweiten und der Dritten Internationale, um das authentische Denken von Marx zu erneuern und es als eine Anregung zum selbständigen Denken zu nützen“, denn von „irgendwelcher ,Rekonstruktion‘ der Stalinschen Kodifizierung (des Sozialismus) hat man nichts Fruchtbares erwartet“, so Gajo Petrovic, Mitbegründer eben jener philosophischen Richtung, die sich um die Zeitschrift Praxis bildete.

Der radikale Bruch mit dem Stalinismus und der Mensch als Wesen der Praxis

Doch was war so neu und anders an der Marx-Interpretation der „Praxis-Gruppe“, wie ihre VertreterInnen genannt wurden? Anfänglich war allen die Kritik am Stalinismus aus marxistischer Perspektive gemein. Denn der Stalinismus „verhärtete philosophische Erkenntnisse in den Werken Engels‘ und Lenins und ließ Marx‘ eigenes philosophisches Erbe fast völlig außer Acht.“ Daraus resultierte „ein abgeschlossenes System festgelegter Dogmen“ (Petrović), aus dem sich ganz handfeste Probleme ergaben, denn, so betont Predrag Vranicki, es sei in der Sowjetunion mitnichten die Grundlage der ökonomischen und politischen Entfremdung, das Eigentums- und Lohnverhältnis, wirklich verändert worden. Vielmehr wäre durch die „Übertragung der Herrschaft der kapitalistischen Klasse auf eine staatlich-parteiliche Herrschaft“ lediglich ein System des Eigentums und des Lohnverhältnisses durch ein anderes ersetzt worden. Durch die Allmacht des Staates ergeben sich neue Formen der (politischen) Entfremdung. Als eine dieser Ausformungen betrachtet Vranicki den Personenkult, den er als politische Religiosität bezeichnete.

Die Praxis-Philosophie entwarf – gegen den sowjetischen Kollektivismus – eine Konzeption des Menschen als Wesen der Praxis. Im Sinne von Marx wird der Mensch als schöpferisches Subjekt gegen den bolschewistischen Etatismus stark gemacht, denn „wo der Staat alles geworden ist, wird der Mensch zwangsläufig zum Nichts.“ (Vranicki). Praxis meint die schöpferische Tätigkeit, durch die der Mensch seine Welt und sich schafft, sie ist der authentischste Modus des Seins, alle weiteren Modi des Seins werden von ihm transzendiert und sind dabei grundsätzlich von ihm verschieden. Eines der wesentlichen Elemente der Praxis ist die Freiheit, es gibt keine Praxis ohne Freiheit und kein freies Sein, das nicht Praxis wäre, wodurch Freiheit zum Teil der Frage nach der Praxis und damit Teil der Frage nach dem Menschen wird.

Praxis darf hier nicht als von Theorie Losgelöstes verstanden werden, sondern vielmehr „als Einheit der sinnlichen und theoretischen Tätigkeit.“ (Vranicki) Theorie und Praxis werden in dieser Konzeption nicht einander gegenübergestellt, denn Praxis, verstanden als fundamentale Bestimmung des Menschen, impliziert beides. Predrag Vranicki beschrieb die Trennung von Theorie und Praxis folgendermaßen: „Solche Praxis (ohne Theorie, Anm. F.F.) wäre tierische Praxis, und solche Theorie Unsinn.“ Das theoretische Denken ist demnach ebenso Kreation wie die materielle Umwandlung eines Gegenstands und somit nur eine andere Seite eines einheitlichen Praxis-Begriffs des Menschen.

Das Denken der Revolution

Aus diesem Verständnis zielten die PhilosophInnen auf die Umwälzung der gesellschaftlichen Verhältnisse. In Jugoslawien wurde, wie es auch die Praxis-Gruppe forderte, der Prozess der ArbeiterInnenselbstverwaltung begonnen, der sich zwar später in einer neuen Bürokratie verlor, ursprünglich jedoch auf das Absterben des Staates zielte. Denn, so die einstimmige Meinung der Praxis-DenkerInnen, die Entfremdung des Menschen könne nur überwunden werden durch die Aufhebung des Privat- und Staatseigentums, was nur durch eine Reorganisation der Gesellschaft auf Grundlage der Selbstverwaltung der unmittelbaren Produzenten möglich wäre. Hierdurch sollte die wahrhaft menschliche Gesellschaft möglich werden. Die Philosophie der Praxis begriff sich als ihr Wegbereiter. Sie wollte die Möglichkeit eröffnen, ein prinzipiell andersartiges Menschsein zu denken, und sah dies als die Vorbedingung zur Revolution. Revolution wurde somit verstanden als die Eröffnung und volle Entwicklung der „menschlichen Möglichkeiten, als eine echtere und reichere Seinsform.“ (Petrović) Die PhilosophInnen der Praxis-Gruppe bezeichneten ihren Ansatz selbst auch als „Denken der Revolution“.
Diese Denkweise wurde in Deutschland vor allem auf Grund ihrer Bezugnahme auf den Seins-Begriff kritisiert. Zu nah schienen sie damit dem Jargon eines Martin Heideggers, nach Ansicht der zweiten Generation der Frankfurter Schule. Doch genau gegen seinen nihilistischen Begriff vom Sein-zum-Tode richtet sich der Seins-Begriff der Praxis-Gruppe. Denn „ein wirklich menschliches Sein ist nicht nur eine passive Erwartung des ,Nichts‘ oder der ,Anrede des Seins‘ … sondern freie schöpferische Tätigkeit, durch die der Mensch seine Welt und sich selbst schafft.“ (Petrović).

Vereinfacht lässt sich das alles zusammenfassen mit: Aus der Theorie, dem Denken, Handeln, Schaffen usw. ergibt sich als Ganzes die Praxis. Der Mensch als handelndes Subjekt ist somit das Wesen der Praxis. Er kann sich aber nur im Prozess der Revolution, also der Überwindung der entfremdenden Zustände, wirklich selbst entfalten und wahrhaft Mensch-sein.

Die Revolution für die Freiheit

Nun haben es die PhilosophInnen mitnichten dabei belassen, Revolution als abstrakten Zustand zu beschreiben, der dem Menschen das Menschsein ermöglicht. Sie haben konkret ausformuliert, was sie unter Revolution verstehen und wie diese vonstattengehen soll. Dabei schöpften sie vor allem aus den Erfahrungen der Sowjetunion und Jugoslawiens, bestimmen jedoch auch notwendige Faktoren für den erfolgreichen sozialistischen Aufbau, hin zum Kommunismus. Wobei diese Fixpunkte kein dogmatisches Modell der Praxis bilden, denn „(für) diese Praxis gibt es keinerlei Rezepte, denn sie gehört in den Wirkungskreis der reichhaltigen Spezifika und individuellen Besonderheiten, die jeden historischen Prozess charakterisieren.“ (Vranicki).

In seinem Buch Marxismus und Sozialismus legte Predrag Vranicki eine bemerkenswerte Analyse des sowjetischen und des jugoslawischen Sozialismus vor und zeigte auch Wege für künftige Revolutionen auf. So ist es seiner Ansicht nach egal, wie das Proletariat die Macht erlangt, ob im bewaffneten Kampf oder mittels Wahlen, wichtig sei, dass sofort auf den Ebenen der Produktion und der Politik selbstverwaltete Räte gebildet werden, in denen „die Werktätigen unmittelbar an allen wesentlichen Fragen beteiligt“ sind. Denn zum einen müssten Wahlen und Regieren allgemein im Sozialismus allmählich überwunden werden, zum anderen müsse die Gefahr der „bürokratisch-etatistischen Konterrevolution des Stalinismus“ abgewehrt werden.

Viele Komplikationen, die sich seiner Meinung nach aus den unterentwickelten Zuständen in Jugoslawien ergaben, würden den modernen Gesellschaften erspart bleiben, da sie die Versorgung sichern könnten. Dadurch werde „das Problem der Freiheit mehr und mehr zum primären Problem.“ Gerade auch „auf der Basis der Erfahrung mit dem Stalinismus … bleibt, daß der Sozialismus in den entwickelten Ländern im Hinblick auf die demokratischen Bürgerrechte keinen Schritt zurückgehen darf, sondern diese Rechte durch neue demokratische Inhalte weiterentwickeln und vertiefen muß.“ Das bedeutet auch, dass konterrevolutionäre Meinungen nicht unterdrückt werden dürfen, der Marxismus muss sich im offenen Diskurs jedes Mal aufs Neue beweisen. Schützt er sich mit Gewalt vor theoretischen Niederlagen, ist dies bereits „seine tiefste historische Niederlage“.

Der selbstverwaltete Sozialismus muss die bürgerliche Freiheit also vorantreiben und sich hierin dem Kapitalismus und der parlamentarischen Demokratie als überlegen erweisen. „Einzig und allein hierin liegt seine historische Berufung, sein Sinn und seine Perspektive.“