MALMOE

Zehn Platten zu Weihnachten

Die Neigungsgruppe Musikkonsum der MALMOE gibt zum Jahresausklang wieder Empfehlungen, welche Platten man sich oder anderen zu Weihnachten schenken sollte. In diesem Jahr mit klarer Tendenz zum Anti-Patriarchats-Sound der Zukunft.

Anna Calvi – Hunter (Domino Records)

Calvis Songs wurden lange Zeit kaum als emphatischer Ausdruck von Queerness wahrgenommen. Ihr drittes Album Hunter präsentiert sich jedoch als künstlerisches Coming-out, die Auseinandersetzung mit sexueller Identität ist das tragende Motiv. Musikalisch geht’s etwas poppiger zu als auf den Vorgängern, Calvi bleibt aber grundsätzlich ihrer stilistisch doch recht abwechslungsreichen Palette treu. Vom dahinhauchten Kammerstück über die Morricone-Interpretation bis zum impulsiven Noise-Gewitter ist alles dabei. Diese Mischung weiß die Gitarristin auch live eindrucksvoll zu performen. Wer nicht auf Anna Calvis Aufritt Mitte November in Wien gewesen ist, hat definitiv eines der besten Konzerte des Jahres verpasst.

Beak> – >>> (Invada Records)

Das dritte Album von Beak> oszilliert zwischen zwei (Gefühls-)Welten: In einem Moment wähnt man sich in Trance gehüllt und schon im nächsten unter Starkstrom gesetzt. Das Trio aus dem englischen Bristol rund um Portishead-Drummer Geoff Barrow orientiert sich deutlich an Kraut Rock und Psychedelic. Zunächst bleiben Beak> noch einigermaßen geerdet, der Opener The Brazilian mischt Black Sabbath sehr eingängig mit Pink Floyd, der zweite Song Brean Down klingt wie ein poppiger Can-Track. Im weiteren Verlauf verfließen die Songstrukturen mehr und mehr zu einem grenzenlosen Groove, getragen von einer Dialektik aus düsterer Beklemmung und ausschweifendem Elan

Janelle Monáe – Dirty Computer (Wondaland/Bad Boy/Atlantic)

Schon ihre Begrüßung beim Women’s March 2017 („Hello future!“), ihr #MeToo-Statement bei den diesjährigen Grammys und ihr Einsatz für Black Lives Matter machten klar: Janelle Monáe wird politisch konkreter und dringlicher. Ließ sie seit 2007 die afro-futuristische Arch-Androidin Cindi Mayweather für die marginalisierten „Anderen“ sprechen, wird aus dem Maschinenwesen auf ihrem dritten Album nun der menschliche, non-binary Dirty Computer. Dessen Bugs, also Fehler im System, sind in ihrer lebensbejahenden Widerständigkeit Features gegen das Regime des Whitewash und der straighten Mansplainer. Damit reflektiert Monáe ihre eigene Position, Widersprüche und Ängste als junge, pan-sexuelle, afro-amerikanische Frau (aus – explizit – der Arbeiterinnenklasse) und schmeißt gleichzeitig mit auf- und anregender Leichtigkeit eine lustvolle Party pro Sexualität, Solidarität & Love. Die Gästinnen Grimes, Pharrell, Stevie Wonder, Zoë Kravitz, Brian Wilson und der Geist von Prince (der mit ihr befreundet gewesen war) dürfen dabei helfen, ihren modernistischen Funk, R&B und Soul in die zwingendste Pop-Musik unserer Zeit zu gießen. Also: Don‘t miss this positive Human-Fiction (schön illustriert auch in dem, das Album begleitenden Film Dirty Computer – The Emotional Picture)! Und: Grab the future back … and let the vagina have a monologue!

La Sabotage – Fest (Fettkakao)

„Le! Es heißt LE Sabotage!“, wollen die Klugscheißer_innen unter uns ganz laut rufen. Der vermeintliche Fehler ist natürlich Konzept. Mit La Sabotage geht eine weitere Band aus den Girls Rock Camps hervor, die sich durch ihre Experimentierfreude besonders hervorhebt und mit der klassischen Rockformation und mit vielen Erwartungen an junge Musikerinnen bricht. Auf den Spuren von Post Punk und mit einem musikalischen Naheverhältnis zu US-amerikanischen Indie-Rock-Bands sind sie auf dem Wiener Label Fettkakao gut aufgehoben. La Sabotage spielen mit der Repetition meist kurzer, eindringlicher Textpassagen, die Stimme wird rhythmisch als Instrument eingesetzt. Neben Bass, Gitarre und Schlagzeug experimentieren sie mit Effektgeräten und Sounds vom Laptop. Als verzerrtes Schmerzgeräusch, das die Zeile „I just wanna die, I just wanna cry“ begleitet, bekommt sogar (ausnahmsweise!) die gute alte Blockflöte eine Berechtigung. Ein wunderbares Debütalbum!

Marie Davidson – Working Class Woman (Ninja Tune)

Nachdenklicher Techno. Falls sich diese Genrebezeichnung eines Tages durchsetzen sollte, könnte sie für den Sound von Marie Davidson reserviert werden. Die Kanadierin macht auf ihrem vierten Album deutlich, wie gepisst sie ist, sowohl von den Ritualen und Oberflächlichkeiten der Club-Szene (genervt berichtend in Your biggest Fan) als auch von den Zumutungen einer auf Leistung ausgerichteten Gesamtgesellschaft (zynisch aufgegriffen etwa in Work it). Messerscharfe Synth-Beats und frostiger Sprechgesang sind die stilistischen Merkmale, mit denen Davidson ihre Botschaften unterlegt. Dabei wird’s manchmal so schonungslos und düster, dass sich die Tanzmotivation einstellen dürfte, erklängen ihre Tracks auf den Dancefloors der Hedonismus-Tempel der Ravekultur.

Neneh Cherry – ­Broken Politics (Smalltown Supersound)

Für Neneh Cherry war 2018 auch ein Jubiläumsjahr, denn ihr Debüt-Album Raw Like Sushi nahm sie 1988 auf. Dreißig Jahre später veröffentlichte sie nun Broken Politics. Sie steht wahrscheinlich für viele für leichten Pop (Buffalo Stance) oder semi-politische Songs wie 7 Seconds. Oft jedoch geht es in den Texten um Themen der Identitätspolitik wie Hautfarbe, Frausein oder Gewalt. Broken Politics erzählt persönlich, klagt an und wirkt nostalgisch. Die Musik erinnert an Four Tet und Massive Attack, lässt aber unsere Zeit spüren. Konkrete Textfragmente mit profanen Inhalten regen an und führen wohl zu weniger Radiopräsenz. Kieran Hebden (Four Tet) hat es produziert, die Klänge sind aber vom Duo RocketNumberNine. Cherrys musikalische Umtriebigkeit ist faszinierend und auf YouTube sieht man, dass sie im goldenen MTV-Zeitalter Videos gemacht hat, die großteils sehenswert sind. Hier soll besonders das Video des bekannten Songs Woman empfohlen werden und vom aktuellen Album das Video zu Kong. Mein Lieblingstrack von Broken Politics ist Faster Than the Truth.

Park Jiha – Communion(Tak:til/Glitterbeat)

Bedauerlich ist, dass vieles in der unüberschaubaren Woge an Neuerscheinungen untergeht. So zum beispielsweise das vielleicht beste Album des Jahres 2018 Communion. Hier gibt etwas zu hören, das den Rang einer Erscheinung beanspruchen darf. Ungeheuer delikat aufgenommene Instrumente, wie etwa das koreanische Holzblasinstrument Piri, weben eine meist serielle Musikstruktur, die sowohl mitreißend, als auch symbolisch und schwermütig tief erscheint. Mag manches auf dem Album konzeptuell durchgearbeitet sein, so ist doch jeder Klang angefüllt mit einem klaren und spontan wirkenden Gefühl. Wie bei allen guten Kunstwerken kennen sich die Rezipient*innen dann nachher nicht mehr aus: Sollen wir jetzt traurig sein oder unerwartet hoffnungsfroh? Communion hat die eigentümliche Bandbreite einer Bachkantate, denn sie kann sowohl im Hintergrund bei der Hausarbeit dudeln und unterhält dann (wie ein Divertimento), oder sie kann tränenüberströmt über Kopfhörer intensiv angehört werden und liefert dann einen Eindruck von „Erhabenheit“. Der skug-Chefrezensent Lutz Vössing rettete sich nach einer Lobeshymnen-Kaskade in die Schlussworte „Unfassbar schön“. Wohl wahr.

Sons of Kemet – Your Queen Is a Reptile (Impulse Records)

Vaterlandsverehrer und -verehrerinnen, hört mal her, eure Queen ist nichts weiter als das gekrönte Symbol rassistischer Unterdrückung. Das ist die Ansage der Sons of Kemet aus London. Auch wenn solch ein Queen-Diss leicht nach Johnny Rotten klingt, die Band um den Saxophonisten Shabaka Hutchings macht keinen Punk, sondern Jazz. Und Afrobeat. Und Dub. Und Grime. Und, und, und. In der Summe eine absolute Wucht. Als wahre Queens werden neun schwarze Frauen gewürdigt, manche von ihnen haben durchaus einen großen Namen (Angela Davis), manche weniger (Ada Eastman, Urgroßmutter von Hutchings).

The Beatles – The ­Beatles (Apple)

Probleme, mit denen diese Liverpooler Band eher nicht zu kämpfen hat, wären: a) geringer Bekanntheitsgrad und b) zu geringe Plattenverkäufe. Insofern erscheint jedes Wort über die aktuelle Supa-dupa-50-Jahre-Jubiläumsveröffentlichung des sogenannten White Album ziemlich über-drüber-überflüssig. Allerdings nicht ganz, denn die Scheibe lehrt etwas, an das sehr wohl erinnert werden darf. Das zwanzigste Jahrhundert war immer dann gut, wenn es mehr responsiv als konstruktiv war. Die Beatles waren saugut darin Dinge aufzuschnappen, die natürlich andere zuvor auch wiederum aufgeschnappt hatten. So ist dieses Album eine Hommage an die eigene Konkurrenz, die jene nach Möglichkeit auch ein wenig blamieren sollte. Oberlustig imitierte Beach Boys und so. Die Frische (manche nennen es Genialität), die die Toncollage heute noch ausstrahlen kann, liegt in ihrer lupenreinen Konzeptlosigkeit. Die Aneinanderreihung musikalischer Scherze, die zuweilen gewaltig bekifft und unausgegoren wirken, gibt dem Ganzen echte Freiheit. Vermutlich war es Notwehr, denn jeder hätte sich nach Sgt. Peppers verkrampfen müssen. Somit war der Einfall: „Machen wir jetzt irgendeinen Kram!“ brillant. Diese responsive Haltung, aus dem Fenster zu schauen, zu dösen und dann wieder zur Gitarre zu greifen, sagt vermutlich (nicht-intentional) sehr viel über die Lage des legendären Jahres 1968, das ein hoffnungsfroher Aufbruch in den Stilstand war. „We‘re all doing what we can“ – Stimmt.

VanJess – Silk Canvas (Self-released)

VanJess sind zwei Schwestern, die in den USA und Nigeria aufgewachsen sind und sich musikalisch an der R&B-Welle der 1990er orientieren. Angefangen hat alles mit Coverversionen von Hits von ­Drake oder Rihanna, die auf YouTube hochgeladen und – wie es der Zufall wollte – zu einem Internet-Hype wurden. Die Wohnzimmervideos, die vor mittlerweile sieben Jahren ihre Runde machten, kamen genauso daher, wie man sie sich vorstellt: Low-Quality-Webcam, hallende Keyboard-Sounds und A capella-Gesang. Aber VanJess haben sich anschließend nicht in die Fänge eines großen Labels begeben, sondern stattdessen ihr musikalisches Schicksal selbst in die Hand genommen. Den harmonischen 90s-Vibes fügen sie eine ganz persönliche Note hinzu. In der Tradition von TLC oder SWV präsentieren VanJess ein großartiges Future R&B-Album, mit einem seichten Feelgood-Faktor und Features von Goldink oder Lil Simz.