MALMOE

Eine Stimme für die Stimmlosen

Sollte es in einer postpolitischen Phase so etwas wie politische Musik geben, dann war Grime seiner Sache um einige Jahre voraus

Es mag vermessen sein zu behaupten, dass Tony Blair so etwas wie der Auslöser für eine Musikrichtung war, die die britische Kulturszene in ihren Grundfesten erschüttern sollte: Die Rede ist vom Grime. Die Politik der Labour-Regierung unter Blair war die „alternativlose“ Fortführung des thatcheristischen Neoliberalismus. Das neue Jahrtausend begann mit einer großangelegten Umstrukturierung des innerstädtischen Londons: teuer, monokulturell, privatisiert und überwacht – ein Schachzug der Blair’schen Regierung unter dem Deckmantel der „urbanen Renaissance“. Im East End der britischen Hauptstadt entstand, in unmittelbarer Nachbarschaft zu den sozial benachteiligsten Bezirken, ein neues Finanzzentrum mit einem ironisch anmutenden Namen: Canary Wharf – der Kanaren Kai als Umschlagplatz für riskante Spekulationen der privilegierten Oberschicht.

„The city is alive, the city is expanding“

Dan Hancox beschäftigt sich als Journalist und Autor seit Jahren mit verschiedensten soziokulturellen Themen innerhalb Großbritanniens. Er gilt zudem als versierter Kenner des Grime und versteht es, dessen gesellschaftspolitischen Kontext der Anfangsjahre mit scharfsinniger Genauigkeit zu umzeichnen. In sein Buch Inner City Pressure fließen zahlreiche Interviews mit unterschiedlichsten Akteuren (die fast immer männlich sind; dazu aber später mehr) der Szene mit ein, sodass ein interessanter Einblick in das kulturpolitische London des frühen 21. Jahrhunderts entsteht. Die neoliberalen Veränderungen innerhalb der britischen Gesellschaft und ihrer Hauptstadt sind dabei die zwingende Ausgangsbasis für die Geschichte von Grime. Es handelt sich dabei um eine Musikrichtung, die in den ärmsten Vierteln der Stadt produziert wurde; von Menschen, die nicht nur ihre Freiheit einbüßten, sondern zunehmend auch ihre eigene Identität. Grime, das ist der kollektive Sound der sozialen Unterdrückung, gepaart mit der hässlichen Fratze eines institutionalisierten Rassismus und systematischer Kriminalisierung. Das alles manifestiert sich in klaustrophobischen Gewittern aus ungefilterten Kickdrums, wummernden Basslines und reißenden Synthesizerfetzen, die als Fundament für Texte dienen, deren molekulare Details den Schmutz und die Abgründe der realen Lebensverhältnisse der MCs beschreiben.

Grime war von Beginn an schwarze Musik. Sie entstand aus einem Zusammenschluss von generationenübergreifenden Einflüssen in einer eng vernetzten Community. Hancox bezeichnet die Anfangsjahre von Grime – einige Zeit vor Facebook, Instagram und Co – sogar als letzte lokale Szene überhaupt. Eine Szene, die in viele Subszenen und Gangs zersplittert und mehrheitlich von jungen schwarzen Männern initiiert wurde. Kaum einer der heutigen Veteranen war zum damaligen Zeitpunkt älter als 18 Jahre. Dizzee Rascal, der es wohlgemerkt bis ganz nach oben schaffen sollte, war gerade einmal 19 als er 2003 für sein Album Boy in da Corner den renommierten Mercury Music Prize erhielt.

„Piraten sind auch nur Menschen“

Dass diese Musik in ihrer explizit lebensnahen und ungeschönten Brachialität alles andere als massentauglich war und vom Mainstream trotz steigendem Bekanntheitsgrad willentlich ignoriert wurde, bekräftigte den engen Zusammenhalt der aufstrebenden Szene. Von wesentlichem Vorteil war dies deshalb, weil London in den ersten Jahren des neuen Millenniums ein florierendes Drehkreuz der Pirate Radio Stations war. KISS FM, Rinse und Kool FM sind heute große Sender-Stationen, die damals in ihren Kinderschuhen steckten und mit illegalen Sendern aus geheimen Hinterzimmern in besetzten Häusern ihr Programm in den Äther sendeten. Über zwei ganze Kapitel eröffnet Hancox einen eingehenden Blick auf die Institution des Piratenradios, dessen enge Verbundenheit mit den Anfängen von Grime und dem wahnwitzigen Katz-und-Maus-Spiel mit Behörden, denen natürlich wenig an der illegalen Verbreitung dieser Musik lag.

Ziemlich passend ist das auch deshalb, weil Grime generell etwas Piratenhaftes anhaftet. Die Musik ist nicht Rap, das Vorbild nicht die USA, und doch basiert die Musik weitestgehend auf aggressiven, teilweise sogar gewalt- und waffenverherrlichenden Texten. Dass diese Aggressionen immer nur als Teil einer Performance galten und dadurch so etwas wie eine fiktionale Realität widerspiegelten, wurde gewissenhaft ignoriert. Von allen Seiten wehte heftiger Gegenwind, der – gesetzlich, politisch und ideologisch abgesichert – nicht selten auf rassistischen Motiven gründete. Die Szene, das wird von Hancox eindrücklich beschrieben, sollte gar nicht erst den Sprung an die breite Öffentlichkeit schaffen. Dabei war Grime selten Auslöser von Gewalt und sozialen Problemen, sondern vielmehr ihr Ausdruck und ein Ventil für all jene, die ohnehin keine Stimme in der Öffentlichkeit hatten.

Daher ist es doppelt interessant, dass Hancox eher selten bis gar nicht auf die weibliche Rolle innerhalb der Grime-Szene eingeht. Frauen machen (immer noch) eine deutliche Minderheit gegenüber den männlichen MCs, Produzenten und DJs aus. Auch die frühen Anfänge gründen auf einem Überschuss an männlicher Energie, bei dem Frauen offensichtlich wenig Platz hatten. Die geschlechtliche Ungleichheit zeigt sich besonders oft in Musikvideos, in denen tradierte Geschlechterrollen nicht nur aufrechterhalten, sondern aktiv reproduziert werden. Wie die Journalistin Yomi Adegoke kürzlich anführte, lag es aber zu einem wesentlichen Teil auch am weiblichen Zutun, dass Grime heute dort ist, wo es ist (nämlich ziemlich weit oben).

„Grime ≠ Grime“

Eindringlich werden hingegen die politischen Widerstände beschrieben. Durch die massiven Repressionen zerstreute sich die Szene im Laufe der 2000er Jahre zunehmend und kam augenscheinlich zum Erliegen. Alles, was nur ansatzweise mit Grime in Verbindung gebracht wurde, galt in den Augen der Regierung als potenziell illegal. Vielen Beteiligten der ersten Stunde fehlte verständlicherweise die Geduld und die Kraft, sich mit den permanenten Diskriminierungen auseinanderzusetzen. Der erhoffte Erfolg im Mainstream blieb ebenfalls aus, sodass die übrig gebliebenen MCs entweder ganz aufgaben oder sich im Crossover mit anderen Musikrichtungen versuchten. Dizzee Rascal arbeitete auf diese Weise beispielsweise mit den Arctic Monkeys zusammen, Lethal Bizzle mit den Babyshambles und Kano versuchte sein Glück mit Damon Albarn von Blur. Stilistische Großtaten entstanden daraus allerdings keine. Letztlich war es die allmächtige Musikindustrie, die von diesen Mutationen profitierte. Und in gewisser Weise auch die ehemaligen Grime MCs. Denn die wurden bekannt – nur machten sie auf einmal keinen Grime mehr. Grime kann nicht losgelöst von London gedacht werden. Genauso wenig kann das London des 21. Jahrhunderts losgelöst von Grime gedacht werden. Dan Hancox spricht von einer nicht immer freiwillig eingegangen Symbiose, die erst in den letzten Jahren einer wirklich breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurde. Dass Grime mittlerweile große Erfolge im Mainstream feiern konnte und nach Jahren der Repression zur Bewegung einer ganzen Generation wurde, hängt mit vielen Faktoren zusammen. Hancox führt viele davon an und lässt wohl manche aus. Inner City Pressure ist trotzdem ein fantastischer Einblick in die Geschichte einer Musikrichtung, die durch Selbstermächtigung und Widerstand zu einer Stimme für die Stimmlosen wurde.

Dan Hancox: Inner City Pressure – The Story of Grime. Harper Collins, Glasgow 2018