Das Verhältnis Europas zur Türkei ist schlecht. Ein Überblick über die Beziehungskrisen eines heißen Sommers.
Pech hat er gehabt, der deutsch-türkische Fußballstar, dass er zwischen die rhetorischen Mühlen zweier rassistischer Lager geraten ist. Wer in der Frage Özils meint, es gäbe die Wahl des geringeren Übels, irrt. Angela Merkels mehr oder minder erste Tat als Bundeskanzlerin war es, ein ideologisches Feuer zu entzünden mit ihrer Ansage, die Türkei gehöre nicht zu Europa und dann nach vielen Jahrzehnten Beitrittsverhandlungen der Türkei eine „privilegierte Partnerschaft“ anzubieten. Viele zarte Pflänzchen einer gemeinsamen europäischen Zukunft vom Polarkreis bis nach Anatolien wurden damals ausgerissen. Was anderes war von den Schwesterparteien CDU/CSU nicht zu erwarten, die immer noch das archaische „Deutscher ist wer deutschen Blutes“ verteidigen und sich fragen, was die deutsche Staatsbürgerschaft noch wert sei, wenn man sie einfach all jenen hinterherwirft, die drei oder vier Jahrzehnte in deutschen Landen gelebt und gearbeitet haben.
In der Türkiye Cumhuriyeti zogen viele ihre Schlüsse und waren begeistert von so viel nationalistischer Abgrenzung und betrieben geschwind die eigene. Das Verhältnis wurde immer schwieriger, bis die Konflikte den Fußball erreichten. Ein Mensch wie Mesut Özil hat nun einmal etwas, das viele nationalistisch Enthusiasmierten nicht wahr haben wollen: mehrere Identitäten. Zieht man den armen, schwerreichen Wicht in den Kampf zwischen wahrer Türke und echter Deutscher, dann kann er dieses Spiel nur verlieren. Für ihn stellte sich die Sache phänomenologisch folgendermaßen dar: Nach siegreich absolviertem Fußballspiel stand plötzlich die deutsche Bundeskanzlerin neben ihm und gratulierte. Merkel schabte sich etwas, dem typischen Eigennutz der Spitzenpolitikerin folgend, vom Glanz des erfolgreichen Sportlers ab. Recep Tayyip Erdoğan wollte hier nicht das Nachsehen haben, lud den Knaben Özil ein und legte ihm einen türkischen Fanschal um den Hals. Schwache Aktionen, hüben wie drüben. Blöd nur für Özil, dass plötzlich in Deutschland die Wogen hochgingen.
Die Sorge der Berater des Mannes mit den zeitweilig meisten Facebook-Likes war groß. Ein erfolgreicher Werbeträger muss von allen geliebt werden und das ist ein enormer Druck. Ob Özil unter diesem zu leiden begann, ob es persönliche Eitelkeiten waren oder ob er am Ende sogar auf seiner Playstation den Knopf „differenzierte Politisierung“ gefunden hat und er ein Bewusstsein entwickelte gegenüber diesem miesen Spiel, sei dahingestellt. Opfer rassistischer Anfeindungen war er allemal, weil die Taten eines Menschen nichts zählen, sobald irgendwer von dessen Wurzeln faselt. Deswegen sollte der Sportler Özil in Ruhe seine Runden auf dem Sportplatz drehen dürfen.
Fang den Potentaten
Wen man aber nicht in Ruhe lassen soll, ist die deutsche Öffentlichkeit, die in ihrem Sommer-Alptraum-Märchen 2018 eine erschreckende Verblödung an den Tag legte. Der Spiegel vergoss Tränen und titelte „Ein einstmals starkes Land“. Eine Komponente dieser Stärke ist neben der Wirtschaft (wichtig), dem Fußball (sehr wichtig) auch die moralische Superiorität (auch wichtig). Ein beliebtes Element ist hierbei der gefahrlose Kampf gegen Potentat*innen, der weitgehend unbemerkt gewürzt wird mit Rassismus. Köstliche Lieder über den „Ziegenficker“ Erdoğan fanden beispielsweise allgemeinen Applaus. Die Person Erdoğans bietet viel Ansatz zu berechtigtem Spott, sein Sohn kann beispielsweise nicht in die USA einreisen, weil er dort wegen Betrügereien, die er wohl im Auftrage seines Vaters beging, verhaftet werden würde. Aber dass Erdoğan je ein Huftier unsittlich berührt hätte, ist nicht bekannt. Warum dann also das Klischee vom sodomitischen türkischen (oftmals auch griechischen) Ziegenhirten auspacken, das wohl Heinz Erhardt in den 1950er Jahren zu abgedroschen und zu nazistisch gewesen wäre? Ist irgendwer noch wach in den deutschen Sendeleitungen?
Das Spiel des deutschen Sport-Feuilleton geht meist so: Man will „klare Kante zeigen“ und „Aufstehen“ gegen die Potentat*innen und hebt dabei allenfalls kurz den Hintern. Schon das Verletzen der allerkleinsten eigenen Interessen, seien sie nun wirtschaftlicher oder fußballerischer Natur steht dabei immer außer Frage. Ein Boykott der Fußball-WM in Russland war undenkbar. Die Potentat*innen wiederum freut es. Sie lieben Druck und „rote Linien“, weil sie diesen nutzen können um die eigenen Followers zu mobilisieren. Die gerade in den USA ziemlich abgefeierte russische Dissidentin und Journalistin Masha Gessen fasste es einmal pessimistisch zusammen: Weil jeder Druck den Potentat*innen willkommen ist und sie ihn für sich nutzen können, gibt es nichts, was man gegen sie tun kann. Aber man kann etwas anderes tun: Ein besserer Mensch werden. An einer friedlichen und offenen Gesellschaft arbeiten, die nicht ausschließt sondern möglichst viele unterschiedliche Arten zu leben, zu denken und zu fühlen zulässt und ihnen Möglichkeiten zu einer gemeinsamen Entfaltung geben. Potentat*innen gehen in die Luft wenn sie dies hören, weil es hier wiederum nichts gibt, das sie dagegen tun können. Ätsch. Und die Attraktivität solcher Gesellschaften bedroht zugleich die Macht der Machthaber*innen.
„Jedwede Unterstützung“
Diesen Kampf ein besserer Mensch zu werden, führt der MALMOE-Autor Max Zirngast und er führt ihn in einer für uns alle in der Redaktion vorbildlichen und beeindruckenden Weise. Seine Arbeit hat ihn nun am 11. September 2018, um fünf Uhr in der Früh, ins Gefängnis gebracht. Ohne genaue Angabe von Gründen wurde der gebürtige Österreicher, der seit vielen Jahren in der Türkei lebt, in Ankara verhaftet. Zirngast nahm seine Aufgaben sehr ernst. In Österreich studierte er Philosophie, ging als Austauschstudent in die Türkei und lernte dort fließend Türkisch sprechen. Ausgestattet mit einem Verständnis für die politischen Konfliktfelder und der genügenden Ausdauer für aktivistische Arbeit, blieb er vor Ort, um sich zu engagieren. Dies war kein kulturalistisches und immer latent imperialistisches Reinschnuppern in fremde Problemlagen, das wir hinlänglich von vielen NGOs und Journalist*innen kennen. Diese Oberflächlichkeit ginge Max Zirngast gegen die Natur. Er engagierte sich 2015 im Wahlkampf der HDP und arbeitete in Ankara in dem alternativen Kulturzentrum Serüven Kültür des Tuzluçayır-Viertels. Dort betreute er Sommerschulen mit dem Motto „Her Yer Çocuk Yaz Etkinlikleri“ – „Die Kinder sind Überall“. Bildung zu organisieren für Kinder, die abgehängt werden und unter die Räder zu geraten drohen im neoliberalen und nationalistischen Irrsinn der Türkei Erdoğans, bedeutet schlicht und einfach das Richtige zu tun. Und es ist leider klar, dass dies wiederum einigen Leuten nicht passt. Zirngast wollte die Probleme unserer Zeit ernsthaft angehen, sei es in der Türkei, in Österreich oder in Europa, er organisierte genau jene Begegnungen, die Merkel und Erdoğan kaputt machen wollen und dieses Engagement hat ihn wohl ins Gefängnis gebracht.
Die Reaktionen in Austria waren zunächst heftig und wurden nach der Operettendramaturgie des „Einer der unsrigen in den Händen des Sultans!“ abgespult. Die österreichische Außenministerin Karin Kneissl und Bundeskanzler Sebastian Kurz legten sich den Ball auf dem Elfmeterpunkt zurecht. Man erwarte sich von der Türkei die sofortige Freilassung oder die klare Darlegung der Vorwürfe. Stärke zeigen gegenüber dem ungeliebten Potentaten Erdoğan, das kommt natürlich zu Hause gut an. Nur bald kam Sand ins Getriebe. Kneissl twitterte zwar Zirngast noch schnell „jedwede Unterstützung“ zu, um dann gleich deutlich zu machen, dass es die nicht geben wird, sei es doch eine bloße „konsularische Krise“. Die Beziehungen zur Türkei wären dadurch nicht belastet und würden es auch nicht werden. Weshalb plötzlich diese Beißhemmung?
Vermutlich weil Max Zirngast „bedauerlicherweise“ nicht nur Österreicher, sondern auch linker Aktivist ist. Zirngast las den lieben kleinen Kinderlein auf den Straßen Ankaras nicht aus der Bibel vor, sondern aus dem Kapital. Ufff, schlechte Wahl der Lektüre, dachten sich da wohl die türkis-blauen Spindoktor*innen. Außerdem steht zu befürchten, Max Zirngast wird nach seiner hoffentlich baldigen Freilassung nicht brav „Pfötchen geben“, sondern am Wiener Flughafen am Ende noch sagen was er denkt. Darauf stehen weder Merkel, noch Erdoğan, noch Kneissl. Lässt man allerdings Leute wie Zirngast machen, dann wird die Welt am Ende tatsächlich ein bisschen besser und den Potentat*innen laufen die Anhänger*innen davon. Das weiß eigentlich jedes Kind, in Ankara und sonstwo. Wenn aber die Länder Europas den Grenzschutz für die höchste aller Tugenden ausgeben oder jeden Cent Sozialleistung für „Ausländer“ drei Mal umdrehen, dann ist Europa auf dem Weg genauso mies zu werden, wie jene (Halb-)Diktaturen gegen die sie angeblich „mutig aufstehen“ wollen.