In Österreich und Deutschland erinnert man sich im Gedenkjahr 2018 fleißig an die Ereignisse von vor hundert Jahren. Die revolutionären Räte werden dabei leider kaum beachtet. Deswegen hier ein Überblick über die Ereignisse.
In allen Revolutionen entstehen Selbstorganisationsstrukturen, in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts wurden sie Räte genannt. Das revolutionäre Russland von 1917 nannte sich Sowjet-Russland (Sowjets = Räte). Außerhalb von Russland entstanden zwei Räterepubliken in Ungarn und in Bayern. Diese Formen der direkten Demokratie waren der am deutlichsten sichtbae Ausdruck der Bewegungen, die damals in Deutschland, Österreich und Ungarn verbreitet waren. In den großen Streiks, dem Jännerstreik 1918 in Österreich-Ungarn und dem in Berlin ausgebrochenen Januarstreik des selben Jahres, der sich im Deutschen Reich bis nach Bayern ausbreitete, bildeten sich Streikkomitees, die sich in den Betrieben, aber auch überbetrieblich organisierten. In Wien wurden sie durch die Sozialdemokratie institutionalisiert.
Aufbruch im Herbst 1918
Ende Oktober 1918 lösten sich die monarchischen Herrschaftsstrukturen in Österreich-Ungarn und Deutschland auf, in den letzten Tagen des Monats auch die Armeen. Unter den revoltierenden Soldaten bildeten sich Soldatenräte. In Deutschland entstanden mit dem Zusammenbruch unterschiedliche „Arbeiter- und Soldatenräte“, radikaler in Berlin oder den norddeutschen Städten, gemäßigter in Südwestdeutschland, in Bayern auch „Bauernräte“. In Österreich und Ungarn waren es zuvorderst Soldatenräte, die sich in den Umstürzen organisierten.
Einer Versammlung der Bevölkerung auf der Theresienwiese in München am 7. November 1918 schlossen sich die Soldaten aus den Kasernen an. Der linke Sozialist (USPD- Unabhängige Sozialdemokratische Partei) Kurt Eisner rief eine provisorische Regierung aus, die Räte wurden als Machtfaktor anerkannt. Ein Rätesystem ist damit schon im Herbst 1918 entstanden.
Die schon seit dem 21. Oktober bestehende sozialdemokratisch dominierte provisorische Regierung in Wien, die sonst auf den Parlamentarismus setzte, forcierte nach dem Zerfall der monarchischen Armee die Gründung einer Truppe, der „Volkswehr“. Diese war sozialdemokratisch beeinflusst, entscheidender Machtfaktor waren die von den Mannschaften gewählten Soldatenräte. Die schon bestehenden „gezähmten“ Arbeiterräte aus dem Jännerstreik gewannen ihre Bedeutung erst mit dem neuerlichen Aufschwung radikaler Bewegungen im Frühjahr 1919 wieder.
In Ungarn waren es von Soldaten unterstützten Demonstrationen, die in der „Asternrevolution“ eine linksbürgerlich-sozialdemokratische Regierung unter Mihály Károly an die Macht brachten. Auch dort entstanden die „Arbeiter- und Soldatenräte“ als parallele Organisationsformen. „Sozialisierungen“ und die Aufteilung des ländlichen Großgrundbesitzes zugunsten der Bäuer_innen blieben allerdings bloße Ankündigungen.
Radikalisierung
Am 20. März 1919 trat Károlyi zurück, nachdem ihm vom Entente-Vertreter Fernand Vix eine Note übergeben wurde, die den Rückzug Ungarns aus Gebieten im Osten verlangte. Die Kommunistische und große Teile der Sozialdemokratischen Partei vereinigten sich zur „Ungarischen Sozialistischen Partei“. Die Kommunist_innen unter Béla Kun kamen direkt aus dem Gefängnis, in dem sie seit Februar 1919 einsaßen, an die Regierung. In der Räterepublik wurden Fabriken sozialisiert, die großen Landwirtschaftsgüter kollektiviert, aber nicht an die Bäuer_innen verteilt. Die Verwalter_innen blieben dieselben wie vorher. Ab dem 16. April 1919 rückten die tschechoslowakische Armee von Norden und die rumänische Armee von Osten gegen Budapest vor. Anfang Mai schien es, als würde die Räterepublik in Kürze zusammenbrechen. Die Rumänen kamen an der Theiß zu stehen und akzeptierten einen Waffenstillstand, weil sie im Osten von den Bolschewiki bedroht wurden.
Die Organisation der Roten Armee erlaubte den Vormarsch nach Nordungarn, in die heutige Slowakei. Dort wurde Anfang Juni die „Slowakische Räterepublik“ ausgerufen. Die Entente verlangte den Rückzug, die Räteregierung willigte ein. Die Rote Armee wurde durch den Rückzug aus der Slowakei demoralisiert, immer mehr Bäuer_innen wendeten sich gegen das Regime. Ende Juli 1919 näherte sich schließlich die rumänische Armee Budapest. Am 1. August wurde die Räterepublik durch eine (rechts-)sozialdemokratische Regierung abgelöst. Nach dem Einmarsch der Rumänen am 6. August in Budapest begann der mehrere Jahre andauernde „Weiße Terror“ mit Pogromen gegen Jüd_innen und tausenden gefolterten und ermordeten Opfern.
Am 21. Februar wurde Kurt Eisner in München durch einen Rechtsradikalen ermordet. Hunderttausende demonstrierten am Tag seines Begräbnisses. Am 22. Februar übernahm der sozialdemokratisch dominierte Zentralrat als oberstes Organ der Rätebewegung vorübergehend die Regierung.
Ausgehend von einem Aufruf des Arbeiterrates von Augsburg, riefen am 7. April 1919 Vertreter_innen der USPD, der SPD, eines Teils des Bauernbundes und Anarchist_innen wie Erich Mühsam und Gustav Landauer die Bairische Räterepublik aus (mit „i“, um sich vom monarchistischen Bayern abzugrenzen). Die Kommunistische Partei beteiligte sich nicht, weil sie befürchtete, es handle sich um einen Schachzug der reformistischen Mehrheitssozialdemokrat_innen (der SPD). Am 13. April 1919 versuchten loyale Truppen die Räteregierung zu stürzen, scheiterten aber, weil sich ein großer Teil der Soldaten nicht beteiligen wollte. Ein von den Kommunist_innen dominiertes Direktorium übernahm die Macht und begann sofort mit dem Aufbau einer Roten Armee. Die sozialdemokratische Regierung unter Johannes Hoffmann, die sich nach Bamberg zurückgezogen hatte, erlaubte die Aufstellung von Freikorps und forderte die Reichswehr an, um die Räterepublik niederzuschlagen. Am 1. Mai 1919 wurde München erobert viele (vermeintliche) Kommunist_innen wurden ermordet.
Anfang März wurden in (Deutsch-)Österreich die Arbeiterräte neu gewählt, um derveränderten industriellen Situation Rechnung zu tragen. Revolutionäre Unruhen wie am Gründonnerstag, dem 17. April 1919, wurden zwar mit Hilfe der Arbeiterräte eingedämmt, dennoch hatten die Arbeiterräte in Zusammenarbeit mit der Volkswehr im Sommer 1919 die größte Bedeutung und konnten einiges umsetzen. Die Themen „Wohnen“ und „Ernährung“ bestimmten ihre Aktivitäten: Beschlagnahmung von Großwohnungen für Wohnungslose, Verhinderung von Delogierungen, Bekämpfung des Schleichhandels, die Verteilung von Lebensmitteln und einiges mehr. Die Zeit der revolutionären Drohung war auch die Zeit, in der die Sozialdemokratie die meisten Reformen durchsetzen konnte. Während in München und Budapest die Roten Armeen in ihren Kämpfen die Räte überschatteten, behielten sie in Österreich noch einige Zeit eine gewisse Bedeutung, bevor das Ende der Revolutionen auch ihr Ende einläutete.
Konterrevolution
Im Deutschen Reich wurde aufgrund von Aufrufen der (Mehrheits-)Sozialdemokratie die Autorität der Offiziere beibehalten, angeblich um kein Chaos zu verursachen. Dass die Offiziere zur geordneten Auflösung der Armee nicht notwendig gewesen wären, zeigt die Entwicklung in Österreich-Ungarn, wo die Auflösung fast reibungslos funktionierte. So konnten sich antisemitische und konterrevolutionäre Freikorps in Zusammenspiel mit der Reichswehr als eigener politischer Faktor durchsetzen.
In Ungarn konnten sich die Konterrevolutionär_innen erst mit Verspätung organisieren. Adelige und Militärs schlossen sich im Ausland (Österreich, Jugoslawien) zusammen und erst der Einmarsch durch Rumänien erlaubte die Machtübernahme durch das Regime des „Weißen Terror“. Nach der Niederschlagung der Räterepubliken wurden Bayern und Ungarn zu Horten geheimer militärischer Organisierung, die die Demokratie in Deutschland und Mitteleuropa direkt gefährdete.
In Österreich war die Armee zerfallen, die „Volkswehr“ war eine proletarische Organisation, die sich durch die Reaktionäre nicht benutzen ließ. Die Konterrevolution brauchte bis 1920, um sich in den „Heimwehren“ in einem Ausmaß zu organisieren, das sie zu einer Gefahr für den demokratischen Staat machte.