Plattformunternehmen nutzen die Digitalisierung zur Umgehung von Arbeitsstandards
Digitalisierung funktioniert heute als Zukunftsversprechen: Mühsame Arbeit wird automatisiert, künstliche Intelligenz steuert Autos, Produktivitätsgewinne winken allerorts – so lautet der Tenor bei Produkt-Launches von Amazons Alexa oder in Tech-Magazinen wie Wired. Unter den sauberen Oberflächen von Google oder Facebook liegt jedoch ein komplexes Netz menschlicher Arbeit, das den Schein reibungsloser Automatisierung erst ermöglicht. Die Form dieser Tätigkeiten steht symbolisch für die Entwicklung von Arbeit im gegenwärtigen Kapitalismus.
Als eine Art Maschinenraum der Automatisierung fungieren digitale Plattformen wie Upwork, Mechanical Turk oder Freelancer heute im Hintergrund von Digitalunternehmen. Sie bieten sogenannte Microwork an, simple Kleinstaufgaben die Menschen mit Internet-Zugang erledigen können. Es geht um Tätigkeiten, die Maschinen (noch) nicht übernehmen können: Beschriftung von Bildern, Erkennung von Handschrift oder Aussortierung bedenklicher Inhalte. Auf der Amazon-Plattform Mechanical Turk verdienen Arbeiter*innen oft weniger als 10 US-Cent pro Mikroaufgabe, Stundenverdienste liegen meist unter 5 US-Dollar. Neben den niedrigen Löhnen, um die Arbeiter*innen aus den USA, Indien oder Thailand konkurrieren, ist Lohnraub an der Tagesordnung: Beurteilt ein Auftraggeber die Arbeit als unzureichend, muss nicht bezahlt werden. Die Plattformen selbst sehen sich dabei für Arbeitsrecht nicht zuständig. Obwohl sie die Arbeitsprozesse oft stark beeinflussen, präsentieren sie sich als neutrale Intermediäre, die einen Marktplatz der Arbeit zur Verfügung stellen. Ein Anspruch auf Mitbestimmung oder Mindestlohn existiert nicht, steuerlich gilt die Tätigkeit als selbstständige Beschäftigung.
Nach der Informatikwissenschaftlerin Lilly Irani dienen Plattformen wie Mechanical Turk nicht nur dem Outsourcing mühsamer Arbeit. Sie ermöglichen Unternehmen auch, sich als schlanke „Tech-Dienstleister“ zu präsentieren, statt als klassische Arbeitgeber. Technologie steht im Vordergrund, um menschliche Arbeit unsichtbar zu machen. „Automation doesn‘t replace labor. It displaces it“, schreibt Irani.
Microwork-Plattformen zeichnen sich zudem durch eine „Multiplikation der Arbeit“ aus, wie sie die Theoretiker Sandro Mezzadra und Brett Neilson beschreiben. Sie skizzieren drei Dynamiken im gegenwärtigen Kapitalismus: das Eindringen von Arbeit in alle Lebensbereiche (Intensivierung), eine wachsende Vielfalt innerhalb der Arbeiter*innenschaft (Diversifizierung) und ein Auseinanderbrechen kollektiver Arbeitsstandards (Heterogenisierung). Vor allem die Folgen der Intensivierung muten beeindruckend an: Während von fast allen Orten und Tageszeiten gearbeitet werden kann, findet gleichzeitig eine intensive Steuerung von Arbeitsprozessen statt. Tastendrücke, Screenshots und Arbeitsgeschwindigkeiten werden aufgezeichnet, bewertet und gehen in ein Profil ein, das neue Aufträge erschwert oder erleichtert.
Nach der Logik von Internet-Giganten wie Amazon oder Uber sind diese Arbeitsprozesse der digitalen Technologie selbst inhärent eingeschrieben. Gesetzliche Regelungen und kollektive Vereinbarungen bremsen in dieser Logik das innovative Potential. In diesem Argument findet sich letztlich das eigentliche Geschäftsprinzip der Plattformunternehmen: nicht die Steigerung von Produktivität durch Technologie selbst, sondern die Umgehung von Arbeitsstandards mithilfe digitaler Modelle. Digitalisierung wirkt hier weniger als Automatisierungsmotor, sondern als Intensivierung neoliberaler Arbeitsregime.