Ausgeliefert handelt vom Geschäftsmodell von Foodora und Co. sowie der Prekarisierung von Erwerbsarbeit
Informations- und Kommunikationstechnologien sorgen in den letzten Jahren vermehrt für Umwälzungen in traditionellen Dienstleistungsbereichen: Die Taxibranche konkurriert mit App-basierten Angeboten wie Uber oder Lyft, die Hotellerie sieht sich Airbnb und Co. ausgesetzt und in der Essenszustellung verändert sich die Branche durch Foodora, Deliveroo oder Uber Eats. Bei diesen Angeboten werden wesentliche Teile der Arbeitsorganisation online (bspw. über eine App) abgewickelt. Hiervon betroffen ist vor allem das „Matching“ zwischen Arbeitskraft und AuftraggeberIn. Zentrale Konzepte sind die effizientere Nutzung der Arbeitskraft, die Integration informeller Beschäftigungsgruppen, die Erosion klassischer Angestelltenverhältnisse und die Arbeitsorganisation und -kontrolle über Softwareanwendungen (Stichwort: algorithmisches Management). In Ausgeliefert. Fahrräder, Apps und die neue Art der Essenszustellung beschreibt Benjamin Herr, seines Zeichens Arbeitssoziologe, die „neue“ Form der Essenszustellung im Zeitalter der Digitalisierung als Fortsetzung der Prekarisierung von Erwerbsarbeit. Zurückgreifen kann Herr für sein Buch auf profunde Daten, schließlich fuhr er selbst monatelang für Kurier- und Essenszustelldienste und konnte so teilnehmend beobachten. Außerdem führte er Interviews mit anderen FahrerInnen. Dies ist umso wertvoller, da Berichte aus erster Hand in der Debatte um Onlinearbeit nach wie vor rar sind.
Das mit vielen Zitaten von FahrerInnen gespickte Buch bietet einen spannenden Einstieg in die Welt der Plattformökonomie, mit detaillierten Beschreibungen der Arbeit als EssenszustellerIn auf dem Fahrrad. Der Arbeitsalltag pendelt zwischen Flexibilität und engen Vorgaben, zwischen kollegialen Vorgesetzten und nicht zu widersprechenden Apps, zwischen selbstbestimmten Arbeitszeiten und sozialer Isolation, zwischen Start-up-Ideologie und engmaschiger Kontrolle, zwischen GPS-Tracking und kurzen, verteilten Minischichten, zwischen FahrradbotInnen-Ethos und unbezahlten Wartezeiten.
Ob das Ziel der produktiveren Nutzung der Arbeitskraft durch neue Technologien erfüllt wird oder nicht, bleibt offen. Nicht offen bleibt hingegen, welcher Preis für die neue Arbeitsorganisation zu entrichten ist, denn die FahrerInnen zahlen mit prekären Arbeitsbedingungen, mit schlechter Bezahlung, mit der Übernahme unternehmerischer Risiken und Verantwortlichkeiten und der Flexibilisierung von Arbeitszeiten. Herr sieht aber Gestaltungspotenzial im Umgang mit neuen Technologien und den entsprechenden Arbeitsformen und verweist auf Arbeitskämpfe in anderen europäischen Städten und deren Erfolge.
Herr liefert mit seinem Buch einen wichtigen empirischen Beitrag in der Debatte um Onlinearbeit und einen gut lesbaren Abriss der digitalisierten Essenszustellung. Auch wenn der Wunsch nach tiefergehenden Analysen an manchen Stellen unerfüllt bleibt, gewährt Ausgeliefert insgesamt einen umfangreichen Einblick in einen App-organisierten Arbeitsalltag. Und schlussendlich wird eines deutlich: Die digitale Arbeitswelt ist mindestens so herausfordernd wie die analoge.
Philip Schörpf
Benjamin Herr: Ausgeliefert. Fahrräder, Apps und die neue Art der Essenszustellung, ÖGB Verlag, Wien 2018