MALMOE

Niemand muss 
ein Nazi sein!

Autoritäre Mobilmachung 
als soziale Bewegung?

Als sich die ersten rechten Skinheads in den 1980er Jahren zu einer Jugendbewegung formierten, begann sich die Organisation des post-nazistischen Rechtsextremismus zu wandeln. In einem subkulturellen Umfeld gab es ganz neue Zugänge von rechtsextremen Inhalten bis hin zum Neo-Nazismus. Die Altvorderen waren − nach 1945 − vor allem strikt hierarchisch und überwiegend elitär organisiert. Auch die jugendorientierten Vorfeldorganisationen der FPÖ und NPD (Nationaldemokratische Partei Deutschlands, 1964-2023) übten wenig Strahlkraft auf den Nachwuchs aus. Das bedeutete ein organisatorisches wie ideologisches Vakuum für den damaligen Rechtsextremismus, da bereits der historische Faschismus die Jugend als Träger der Bewegung propagiert hatte.
Die neuen sozialen Bewegungen der 1960er bis 1980er Jahren vertraten eine linke, emanzipatorische und antiautoritäre Politik. Anfang der 1990er Jahre entbrannte, angesichts zahlreicher Straßenmobs, die sich zu pogromartigen Angriffen auf Asylwerberinnen und Migrantinnen vor ihren Häusern und Unterkünften versammelten, in den deutschsprachigen Sozialwissenschaften ein Streit darüber aus, ob der Rechtsextremismus als eine neue soziale Bewegung zu bewerten sei. Die Gegenargumente gelten bis heute:
In einer analytischen Gleichsetzung mit aufklärerischen und solidarischen sozialen Bewegungen, wie etwa der Zweiten Frauenbewegung, besteht die Gefahr der Verharmlosung und Normalisierung des Rechtsextremismus. Gruppenbezogene Menschenfeindschaft, die Legitimation beziehungsweise Sehnsucht nach Gewalt gegen die jeweilig identifizierten »Anderen«, kann nicht gleichbedeutend mit deren Bekämpfung untersucht werden. Zentral ist aber vor allem, dem Rechtsextremismus nicht auf den Leim zu gehen. Er generiert sich, aus seiner Eigenlogik, als größer, stärker und bedeutsamer als er eigentlich ist, da sich Rechtsextreme immer als »Erretter« aus den, von ihnen behaupteten, Untergangszenerien präsentieren. Anschaulich wird das am Beispiel der so genannten »Identitären«, die die Behauptung, eine Bewegung zu sein, im eigenen Namen vor sich hertragen müssen. Gerade in der medialen Berichterstattung ist es wichtig, nicht der Faszination rechtsextremer Allmachtsträume zu erliegen, sondern sie immer als die unseriöse Selbstdarstellung zu dechiffrieren, die sie ist. Der sozialwissenschaftliche Bewegungsbegriff tänzelt zudem in einer gefährlichen Nähe zum rechtsextremen Selbstverständnis, dessen erklärtes Ziel es ja gerade ist, als Bewegung in der Volksgemeinschaft aufzugehen.
Eingedenk all dieser richtigen und notwendigen Kritik kann es trotzdem hilfreich sein, die Kategorie der sozialen Bewegung auf die Analyse der Zugewinne des Rechtsextremismus in Österreich und Deutschland anzuwenden. Er kann dazu beitragen, den außerparlamentarischen Rechtsextremismus nicht länger zu externalisieren, sondern als gesamtgesellschaftliches Problem zu bewerten. Vielleicht trägt der Begriff aber auch nur etwas zur Beantwortung meiner persönlichen Frage bei, warum so unangenehme Zeitgenoss*innen wie Nazis so erfolgreiches Networking betreiben können.


»Dass die Kirche 
im Dorf bleibt!«

Bewegungen sind Netzwerke kollektiver Akteur*innen, die nicht formal geregelt, sondern durch eine gemeinsame Idee und Praxis geeint sind. Per Definition teilen sie Grundfragen, die die Veränderung der gesellschaftlichen und politischen Ordnung betreffen. Sie bilden längerfristige Netzwerkstrukturen unterschiedlicher Gruppen und Organisationen, die sich eine kollektive Identität konstruieren. Vor allem bedienen sie sich, on- wie offline, einer massiven öffentlichen Protestmobilisierung. Demnach ist der Begriff der sozialen Bewegung, für die Erklärung der Erfolge des Rechtsextremismus, allemal erhellender als der unbestimmte Begriff des gesellschaftlichen »Rechtsrucks«, der vornehmlich als Kommentar zu Umfrageergebnissen oder am Wahlabend verwendet wird.

In der rechtsextremen Mobilisierungsfähigkeit gab es bereits vor den Demonstrationen gegen die Corona-Maßnahmen gravierende Veränderungen. Dezidierte Neo-Naziaufmärsche, wie der Gedenkmarsch für den Hitler-Stellvertreter Rudolf Hess, in Wunsiedel/Bayern, haben Alltagsrassist*innen und anderweitig projizierende Mehrheitsbürger*innen nicht abgeholt. Das Rechtsextreme gemeinsam mit weiten Bevölkerungsanteilen demonstrieren, ist ein Erfolg des Rechtsextremismus der sich über die letzten Jahre verbreitet und etabliert hat. Mit der Besetzung der Krim durch Russland fanden 2014 erstmalig so genannte Mahnwachen für den Frieden, in mehreren deutschen Städten, in Wien und in Basel statt. Zahlenmäßig blieben die Kundgebungen relativ überschaubar, die vornehmlich antisemitischen und antiamerikanischen Verschwörungsbehauptungen drangen hier aber aus dem organisierten Rechtsextremismus in die friedensbewegten Teile der Gesellschaft hinein.

Im Oktober 2014 begannen − mit einer Facebookgruppe − die islamfeindlichen und rassistischen, montäglichen PEGIDA (Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes) -Aufmärsche in Dresden. Zu Spitzenzeiten beteiligten sich bis zu 20 000 Personen. In anderen Bundesländern Deutschlands und in Wien starteten Ableger, erreichten aber überwiegend nur das rechtsextreme Kernpublikum. Der antimuslimische Rassismus, bei weitem kein alleiniges Problem der deutschen oder österreichischen Gesellschaft, hatte seit 9/11 fast ein Vierteljahrhundert Zeit, sich zu verfestigen. Als Modernisierung des tradierten und allgegenwärtigen Rassismus fungiert er als Motiv, um auf die Straße zu gehen. Alte »Überfremdungslitaneien«, finden Ergänzung um Neid-Tiraden über all das, was die »Anderen« unverdienter Maßen bekämen, während man es sich selbst nicht mehr zuzugestehen vermag: Die Menschen haben aufgehört, auf ein gutes Leben für sich selbst zu hoffen, das Maximum der Bedürfnisbefriedigung ist erreicht, wenn es den »Anderen« schlechter geht. PEGIDA war eine Zäsur im gemeinschaftlichen Erfahren von Ressentiment und Vernichtungswollen. Was in Chats geteilt wurde und sich auf die Straße trug, übersetzte sich Ende 2019 in die Covid-19 Pandemie. Die FPÖ und AfD forderten anfangs, ganz in autoritärer Manier, repressive law-and-order Maßnahmen zur Eindämmung des Virus. Schnell wurde aber das gesamtgesellschaftliche Potential unsolidarischen Verhaltens in Verlustängsten bei maximaler Orientierungslosigkeit erkannt. Nützlich erwies sich hierbei auch das Reservoir an eigenem Populismus, der es ermöglichte, Positionen schnellstmöglich ad acta zu legen und sein Fähnchen in den Wind zu hängen. Die beiden Parteien setzten sich im Folgenden erfolgreich an die Spitze einer verschwörungsideologisch durchzogenen Protestbewegung. Dazu kamen die Echokammern in den sozialen Medien, vor allem im Messanger-Dienst Telegram. Digital und analog bestärkten sich die Meinungen, fremdgesteuert und entmündigt zu sein. Das verschwörungsideologische Milieu rekrutiert sich aus dem gesamten politischen Spektrum. Im Verschwörungsglauben vollzieht sich eine konformistische Revolte. Hier kann man sich gegen »heimliche Mächte« auflehnen ohne bestehende Verhältnisse zu kritisieren oder tatsächlich verändern zu wollen. Der antisemitische Glaube an einen weltverschwörerischen, kleinen Machtzirkel, der die »Eliten« lenken und gegen das »Volk« agieren würde, mobilisiert Ohnmachtsgefühle und verspricht Ermächtigung über die vermeintlichen »Schlafschafe«. Im Protest gegen die Covid-Impfung scheint sich individuell zu wiederholen, was im Verschwörungsglauben vom »großen Austausch« kollektiv erzählt wird. Es ist das Eindringen in den homogen gedachten Körper – des Subjekts, der Nation –, das abgewehrt werden müsse.

Der Rechtsextremismus speist sich, besessen vom Sterben und sterben lassen, aus Tötungsphantasien. In den 1960ern richteten sich diese Bestrafungswünsche gegen Räuber*innen von Taxifahrer*innen, für die die NPD die Todesstrafe forderte. Seit den 1990er ist der »Kinderschänder« zur maßgeblichen Figur avanciert, dessen Kopf rollen soll. Neben der Forderung die »Eliten aufzuknüpfen« entfesselt sich das mörderische Ressentiment auch hier in der Identifikation mit der Opferrolle. Über die Skandalisierung von »Frühsexualisierung« und »Genderwahn« aber auch »Zwangsimpfungen« werden Ängste, im Gewand des vermeintlichen Kindeswohls, geschürt.

Kurzschluss

Die Einstellungsforschung zeigt für Deutschland und Österreich einen stabilen Sockel an autoritär-völkischen Positionen, in der (Post-) Pandemie ist er exponentiell gewachsen. Der NPD gelang es ab der zweiten Hälfte der 1990er Jahre, junge Neo-Nazis aus dem Kameradschaftsumfeld als »politische Soldat*innen« an die Partei zu binden. Gleichzeitig wurde ein bürgerliches Auftreten betont. Das so genannte 4-Säulen-Programm (Kampf um die Parlamente, Straße, Köpfe und den organisierten Willen) etablierte den Bewegungscharakter der Partei. Auch wenn die NPD sich in internen Kämpfen zerlegt hat und heute nur noch als rechtsextreme Kleinstpartei »Die Heimat« existiert, hat sich die Vorstellung einer Bewegung gegen »die da oben und die, die da draußen bleiben sollen« durchgesetzt. Die FPÖ und AfD schaffen es ähnlich erfolgreich, sich als die Torwächter der Festung Europa zu verkaufen. Auch wenn ihre Wähler*innen zu ahnen scheinen, dass sie belogen werden, fühlen sie sich hier doch am ehrlichsten belogen. Sie dürfen sich über andere erhaben fühlen und nach ihnen treten. Der Make America great again-Slogan Donald Trumps fungiert als Label für eine Bewegung, der die Republikanische Partei nur noch hinterherlaufen kann. Würde Jörg Haider noch leben, würde er den Erfolg des Slogans vermutlich für sich und das »Österreich zuerst« Volksbegehren von 1993 in Anspruch nehmen. Er selbst scheiterte einige Jahre später mit dem Versuch, die FPÖ in eine Bewegung zu verwandeln, die sich im Parteienspektrum als »F-Bewegung« absetzen sollte. Aufgezeichnete O-Töne auf Montagsmärschen und FPÖ-Demonstrationen spiegeln folgende Entwicklung wider: Hieß es vor 10 Jahren noch »Ich sehe hier keine Nazis!« wurde daraus: »Dann bin ich halt ein Nazi!«. Ein den Menschen zugewandter, selbstreflexiver Antifaschismus, ermöglich es aber, Menschen zu vermitteln, kein Nazi sein zu müssen! Er eröffnet vielmehr Denk- und Möglichkeitsräume, in denen Menschen verstehen können, dass ihre Erfahrung ersetzbar und überflüssig zu sein, ein (System-) Versagen zeigt. Damit sie aufhören können existentielle Sorgen als persönliches Defizit zu verbuchen, und damit sich nicht länger am nächst Verwundbareren abzureagieren brauchen.