MALMOE

Trotzdem sprechen

Herausforderungen zu Palästina/Israel im deutschsprachigen Diskurs

Miryam Schellbach hat gemeinsam mit Lena Gorelik und Mirjam Zadoff den Band Trotzdem Spre-chen herausgegeben. Direkt nach dem 7. Oktober und dem darauf folgenden Krieg in Gaza, den die drei Herausgeberinnen nicht nur wegen familiärer und freundschaftlicher Beziehungen in der Region sehr unmittelbar verfolgten, wurde eine Preisverleihung zu Ehren der palästinensischen Schrift-stellerin Adania Shibli in Frankfurt abgesagt, offene Briefe geschrieben, es zerbrachen Freund-schaften, gesellschaftliche Kluften taten sich auf. Mit Trotzdem sprechen wollten die drei Heraus-geberinnen in einer Zeit, in der ein entschlossen pluralistisches, ambiguitätsfähiges gesellschaftli-ches Gespräch abbrach und symbolische Positionierungsgesten zur Sprache des Alltags wurden, einen Gegenpunkt setzen. Weitersprechen, auch wenn es ein schmerzhaftes Sprechen ist, diametrale Positi-onen aushalten, zuhören, streiten – das sind kollektive Kompetenzen, die notwendig sind in einer Demokratie. In Trotzdem sprechen versammeln sie jüdische, palästinensische und deutsche Stimmen, die essayistischen Beiträge bezeugen eine Zeit der Trauer, in der aber nicht öffentlich, sondern nur im Privaten getrauert wurde. Heute, sechs Monate nach dem Kriegsbeginn, sind sie nicht weniger aktuell. Wir trafen Miryam Schellbach zum Interview, um über persönliche Betroffenheiten, Begriffsstreitigkeiten und palästinensische Repräsentanz in der deutschen Medienlandschaft zu sprechen.

MALMOE: Euer Buch ist eine Intervention in eine „drastische Polarisierung im deutschen Diskurs“, wie ihr es in eurem Vorwort formuliert, was wahrlich auch für Österreich zutreffend ist. Wie habt ihr mit eurem Band versucht dem entgegenzuwirken?

Miryam Schellbach: Direkt nach dem 7. Okto-ber schien es unmöglich, kontroverse Positionen auszuhalten und komplexe gesellschaftliche Debatten zu führen. Dazu kam die Verschiebung der Preisverleihung an Adania Shibli auf der Frankfurter Buchmesse aus hanebüchenen Gründen, „man wolle Menschen nicht vor den Kopf stoßen.“ Einzig, dass die Autorin Palästi-nenserin war, stellte ein Problem dar. Über die spezifische Situation haben wir uns viel ausge-tauscht. Und darüber nachgedacht, dass zwar alle Meinungen haben, aber nur wenige Ahnung, und überhaupt Empathie, Solidarität und die Bereitschaft zuzuhören ganz verschwunden sind. Wir wollten verschiedene Stimmen hörbar machen: palästinensische, israelische, jüdische, muslimische – aber eben auch diejenigen, die sich als „unbetroffen“ vom Konflikt bezeichnen würden.

Trotzdem sprechen. Für was steht das hier? Kannst du das noch etwas ausführen?

Eigentlich wollten wir unser Buch „Allianzen“ nennen. Im Prozess haben wir gemerkt, dass da viel zu viel Wunschdenken drinsteckt. Allianzen sind strategische Bündnisse, die gibt es aber gerade nicht.
Nazih Musharbash zum Beispiel, ein Autor aus unserem Band, erzählt davon, dass die Deutsch-Palästinensische Gesellschaft (DPG) an gar keinen Demonstrationen teilgenommen hat, weil es potentiell politisch schwierige Bündnis-partner gegeben hätte. Untereinander und auch mit Freund_innen haben wir gerade tiefe Kon-flikte. Auch viele Jüd_innen haben darüber geredet, dass sie ihre Trauer nicht mitteilen können. Wir wünschen uns zumindest ein Gespräch, das nicht abbricht. Ein minimaler demokratischer Konsens. Wenn aber sogar das abbricht, dann wird es sehr schwer zurückzukommen.
Die einzige wirklich übergreifende Beobachtung ist, dass ernsthafte Auseinandersetzun-gen weniger geworden sind. Gemeinsam mit den Mitherausgeberinnen habe ich die Erfahrung geteilt, dass man bei öffentlichen Veranstaltungen Floskeln austauscht, aber wirklich gesprochen wird nicht. Es bleibt bei dem allgemeinsten Allgemeinplatz stehen. Sobald ein Wort zu viel verrät, ist das Gespräch, die Position und manchmal die Person sofort delegitimiert. Das kanns doch nicht sein…

Wie nimmst du als Mitherausgeberin, die auch Familie in Palästina und Israel hat, die Polarisierung persönlich wahr?

Früher, also vor dem 7. Oktober habe ich, wenn ich nach meinem „Hintergrund“ gefragt wurde, oft einfach gesagt, dass ich Familie in Israel habe, was de facto auch so ist: Meine Familie dort gehört zu den zwanzig Prozent der israelischen Bevölkerung, die muslimische oder christliche Araber_innen beziehungsweise Palästinenser_innen sind. Über diese Bevölkerungsgruppe wurde hierzulande kaum berichtet, weil sie sich ein wenig der Logik von Polarität entzieht. Wenn ich aber jetzt sage, dass ich Familie in Israel habe, wird mir oft Beileid oder Mitleid ausgesprochen, worauf ich das Gefühl habe, das richtigstellen zu müssen. Meistens herrscht dann eher Schweigen, weil man nicht so genau weiß, ob einem die palästinensischen Israelis gerade auch leidtun sollen oder nicht so sehr. Was ich wirklich nicht verstehe, warum sollte Trauer einander ausschließen? Das ist doch unterkomplex gedacht und spiegelt nicht die israelische Realität wider. Da gibt es doch viele, die gerade auf die Straße gehen und zugleich einen Waffenstillstand UND die Freilas-sung der Geiseln fordern. Das alles ist jetzt nochmal komplexer geworden, wie Nazih Musharbash in seinem Beitrag schreibt: Er lebt seit 50 Jahren in Europa und jetzt nach dem 7. Oktober fühlt er sich als wenn er ein Bürger zweiter Klasse in diesem Land ist und nicht mehr hierher gehörig. Weil er pauschal wie alle Palästinenser_innen als Hamas-Sympathisant abgestempelt wird.
Ich habe jetzt auch nochmal stärker als zuvor gemerkt, dass die Erfahrung der palästi-nensischen Diaspora wahnsinnig heterogen ist. Von jenen im Libanon und Syrien, die seit 1948 in Flüchtlingscamps leben und nie Staatsbürger-schaften dort bekamen, hin zu den Menschen in der Westbank und in Gaza, die fundamental getrennt und von verschiedenen politischen Parteien regiert sind, und jenen 1,5 Millionen in Israel, die wiederum den höchsten Wohlstand unter den Palästinenser_innen in der Region haben. Dann in Paris und in Berlin, Kanada, im Westen allgemein. Alle sind zutiefst zerstritten, der Konflikt beginnt schon dort: Wer spricht legitimerweise für wen? Oft sind es palästinen-sische Christen, die öffentlichen noch sprechen. Denen wird aber häufig abgesprochen, legitime Repräsentant_innen zu sein, weil sie eben nicht die muslimische Erfahrung haben, die ja die Mehrheit bildet.
Es wurde noch nie so oft über Palästina diskutiert wie in den letzten Monaten, aber gleichzeitig gibt es so ein irres großes Unwissen über die Konfliktsituation dort.

Heute Veröffentlichtes kann im Moment der Veröffentlichung schon überholt und nicht mehr aktuell sein. Vor welche Herausforderungen hat euch eine Buchveröffentlichung gestellt, vor dem Hintergrund, dass die Geschehnisse sich seit dem 7. Oktober 2023 fast täglich gravierend verändern?

Das war ein klares Risiko, aber wir sehen das Buch eher als eine Bestandsaufnahme der Debatten direkt nach dem 7. Oktober. Das hat auch seine Berechtigung, weil Bücher immer auch Zeugnisse, Mini-Archive sind. Vielleicht kann Trotzdem sprechen ja auch in fünf Jahren nützlich sein, um zu verstehen, welche Grundkoordinaten die Nahostdebatte in Deutschland hatte.

Aber ja, es gab sowas wie einen täglichen Aktualisierungszwang. Der Beitrag von Nazih Musharbash enthält die Zahl der Opfer in Gaza. Wir mussten sie mit jedem Lektoratsgang drastisch nach oben korrigieren. Als wir angefangen haben, hätte ich nicht gedacht, dass der Krieg bis zu Veröffentlichung des Buchs anhält. Und ich muss sagen, es hat sich nicht viel seitdem verändert: keine Nuancen im Gespräch darüber. Es werden immer noch hauptsächlich Debatten darüber geführt, wer in Deutschland eingeladen und wer ausgeladen wird.

In eurem Vorwort zitiert ihr einen Auszug eines zurückgezogenen Beitrags, der genau das noch-mal von einer anderen Perspektive zur Sprache bringt, wenn gefragt wird: „In der deutschen Öffentlichkeit misstraut man Palästinensern. Welches Gehör bekäme meine Stimme, wenn ich ein abweichendes Bild von der israelischen Politik und den militärischen Aktionen zeichne, als das, das dem deutschen Selbstverständnis entspricht?“ Wie gestaltete sich die Schwierigkeit, palästinensische Stimmen für das Buch zu gewinnen, wie ist deine Wahrnehmung auf diesen Umstand?

Ich würde es mal von einer anderen Seite aufziehen: Nenn mir mal eine palästinensische Position, die in der Öffentlichkeit, sicher und souverän, gerade den Konflikt im deutschsprachigen Raum kommentiert! Nenn mir einen einzigen, es wird dir niemand einfallen. Jüdische Positionen fallen uns ein, einige sogar. Warum ist das so unterschiedlich? Ich kann das nicht klar beantworten, aber einige Faktoren nennen, die sicherlich dazu beitragen. Zum einen ist die palästinensische Diaspora über-haupt nicht dominant in kulturellen Berufen mit Öffentlichkeitszugang vertreten, es gibt sehr wenige Journalist_innen und so weiter. Dagegen gab es recht schnell jüdisch-israelische Stimmen, die sich häufig öffentlich äußerten. Meron Mendel etwa, den wir auch im Band haben. Oder Tomer Dotan-Dreyfus. Die beiden vertreten in bestimmten Fragen vollkommen unterschiedliche Positionen – und allein das ist eine wichtige Wahrnehmung. Sie trägt dazu bei, die Hetero-genität einer Nation erkennbar zu machen. Ich sehne mich auch nach einer solchen palästinen-sischen Vielstimmigkeit.

Wie war der kollektive Prozess für euch als Herausgeberinnen? Welche Herausforderungen traten im kooperativen Arbeiten an dem sensiblen Thema auf?

Wir haben mit einigen Autor_innen sehr viel diskutiert. Manchmal haben wir dreimal hin und her geschrieben, welche einzelnen Worte im deutschen Diskurs „gehen“. Auf einer Veranstaltung, die ich zu der Zeit besuchte, sprach eine Mitarbeiterin des jüdischen Museums in Frankfurt von der „Flächenbombardierung Gazas“. Da dachte ich, ok, das ist also ein Begriff, den man gerade so benutzt und schrieb ihn in die Einleitung. Ein Experte, den wir konsultiert haben, meinte dann, seid ihr wahnsinnig, das ist ein vollkommen falscher und unpassender Begriff, der euch in Teufels Küche bringen wird Ein Reizwort gerade ist offensichtlich „Genozid“. Und ob es jetzt „Genozid“ in Gaza ist oder „genozidal“ oder eben überhaupt nichts von beidem, sondern ein „Verteidigungskrieg“, darüber gibt es ja so viele Meinungen und Behauptungen. Klar ist, dass ein begrifflicher Streit gerade nicht dienlich ist, sondern vor allem Positionierungen behaupten will. Das sind verschenkte Ressourcen.

Seit gut einem Monat ist euer Buch jetzt veröffentlicht, was für Rückmeldung habt ihr bis jetzt bekommen?

Ich hatte das Gefühl, in so einer intellektuellen Öffentlichkeit waren viele dankbar dafür, dass es dieses Buch gibt. Man kann sich daran festhalten. Leider gab es bis jetzt keine kritischen Rezensionen oder Stellungnahmen, es wurde sich auch wenig mit der Komplexität des Bandes auseinandergesetzt. Es könnte ja zum Beispiel auch gefragt werden, ob da nicht zu wenige palästinensische Positionen enthalten sind. Ich schätze, dass die Rezeption recht ruhig verlief, liegt daran, dass der Band nicht polarisiert. Es ist ein Buch, das ein gewisses Niveau an Komplexität und Ambiguitätstoleranz zulässt – da ist der öffentliche Diskurs dann nicht dankbar für. Eben kein Band für die Pokos (Anmerkung Redaktion: Postkolonialen) oder Anti-Deutschen, die Artikel lassen sich nicht auflösen in klaren Positionen. Was auch gut zeigt, wie der Diskurs aktuell funktioniert: Er verlangt förmlich nach dem Skandal.

Wie würdest du dir ein Gespräch um diese sensiblen Themen wünschen?

Erstmal wünsche ich mir eine Bereit-schaft, zuzuhören und auch eine Bereitschaft, zu verstehen, dass es in der Debatte einen Universalismus nur schwer geben kann. Die Traumata und biografischen Ängste sind so unterschiedlich. Darum wünsche ich mir Anerkennung von verschiedenen traumatischen Hintergründen, was Michael Rothberg und Aleida Assmannja bekanntlich multidirektionales Erinnern nennt. Es muss möglich sein, über denselben historischen Moment zu sprechen: die Staatsgründung Israels, die von verschiedener Seite eben unterschiedlich erzählt und benannt wird. Das auszuhalten würde ich mir wünschen, und Dankbarkeit für Menschen, die ihre Traumata mitteilen, die ihre persönlichen Verletzungen einer Öffentlichkeit zur Verfügung stellen. Nur so können wir versuchen, zu verstehen und vielleicht dadurch emphatischer werden. Auf einem Podium hat Asal Dardan, eine andere Autorin, die bei uns vertreten ist, übrigens gefordert, dass wir von dem Wort „Empathie“ weggehen hin zu Solidarität. Weil Solidarität etwas Aktives ist, etwas, dass man sich abzwingen kann. Etwas, dass man herstellen kann und muss.

Interview: MALMOE

Lena Gorelik, Miryam Schellbach, Mirjam Zadoff (Hg.) (2024): Trotzdem sprechen, Ullsteinbuchverlag, Berlin