„Da gab es vier Jahre lang ganze Quadratmeilen Landes, auf denen war der Mord obligatorisch, während er eine halbe Stunde davon entfernt ebenso streng verboten war. Sagte ich: Mord? Natürlich Mord. Soldaten sind Mörder.“
— Kurt Tucholsky
Kriege brechen nicht aus, sie sind weder Krankheiten noch Vulkane, und Soldat:innen fallen nicht, sie morden und werden gemordet. Für Nationalstaaten sind sie, im permanenten globalen Kriegszustand, Humankapital, das nicht am Arbeitsmarkt, sondern für den Einsatz an der Front in Stellung gebracht wird. Wer dem Kriegsrecht unterworfen ist, verlässt das Gebiet der persönlichen Freiheit. Es bedeutet den Verlust auf das Recht nach körperlicher und psychischer Unversehrtheit. Die rechtliche Situation von Deserteuren und Kriegsdienstverweigerinnen aus der Ukraine und Russland zeigt das aktuell überdeutlich. Während es militärpflichtigen Männern aus der Ukraine durch strenge Ausreiseauflagen verunmöglicht werden soll, das Land zu verlassen, ist russischen Staatsbürgerinnen die Flucht in den Schengen-Raum auf Grund fehlender Fluchtwege und der restriktiven Visa-Bedingungen versperrt. Vom Beginn des Krieges bis zum Ende des Jahres 2023 flohen daher schätzungsweise mindestens 250 000 Kriegsdienstpflichtige aus Russland vor allem nach Georgien und Kasachstan, aber auch in die Türkei, nach Serbien, Israel und in weitere Länder. Als mit Beginn der Teilmobilmachung, im September 2022, tausende Menschen in ihren Autos nach Georgien fliehen wollten, und sich kilometerlange Staus an den Grenzübergängen bildeten, organisierten Aktivist:innen einen Fahrradshuttle-Dienst, um den Menschen über die Grenze zu helfen.
In Wien gründete sich 1992 die Deserteurs- und Flüchtlingsberatung Dessi (siehe Interview in der Ausgabe). Der immer schlimmer werdende Krieg im ehemaligen Jugoslawien brachte zahlreiche geflüchtete Wehrdienstverweigerer, ohne rechtliche und soziale Absicherung, nach Österreich. Die Deserteure reisten damals überwiegend mit einem dreimonatigen Tourist:innen-Visum ein, nach Ablauf dieser Frist lebten sie illegalisiert, bei einer Abschiebung drohte die Todesstrafe. Seit 1982 ist der fünfzehnte Mai der Internationale Tag der Kriegsdienstverweigerung, ein Tag um diejenigen zu ehren, die sich weigern, in Militärstrukturen mitzuwirken. In Wien wird er am 2014 errichteten „Denkmal für die Opfer der NS-Militärjustiz“ am Ballhausplatz gefeiert. Nach dem Beginn des russischen Angriffskrieges, am 24. Februar 2022, startete mit #ObjectWarCampaign – Solidarity with all those who refuse the war!, eine Kampagne zur Unterstützung von Kriegsdienstverweiger:innen aus der Ukraine, Belarus und Russland. Eine zentrale Forderung ist ihr Bleiberecht im Aufnahmeland und die Anerkennung von Desertion als Asylgrund.
Die deutsche Innenministerin Nancy Faser (SPD) sagte im Frühjahr 2022: „Jetzt nicht dem Kriegsdienst zu folgen ist ein anerkannter Fluchtgrund, für uns, hier in Deutschland, weil wir hoffen, dass Putin endlich diesen furchtbaren, völkerrechtswidrigen Krieg beendet.“ Die Realität sieht anders aus, im Jahr 2023 haben gerade einmal elf Personen als Deserteure* Asyl in Deutschland erhalten. Dabei geht das Fremdenrechtsregime spitzfindig-zynisch vor, eine zumindest geringe Aussicht auf Anerkennung haben nur diejenigen, die bereits zum Militär eingezogen worden waren. Wer wegen der Gefahr eines drohenden Einberufungsbefehls Russland verlassen hat, muss damit rechnen, dass die individuelle Prüfung negativ ausfällt
Auch der österreichische Außenminister Alexander Schallenberg (ÖVP) stellte im Frühjahr 2022 eine gewisse Kulanz im Umgang mit Kriegsdienstverweigerinnen in Aussicht. Etwa 14 000 Ukrainer im wehrpflichtigen Alter zwischen achtzehn und sechzig Jahren leben derzeit in Österreich. Sie haben, wie alle Geflüchteten aus der Ukraine, derzeit ein vorübergehendes Aufenthaltsrecht, das zumindest bis zum 04. März 2025 aufrecht ist. Von Jänner bis April 2023 gingen 377 Anträge auf Asyl von russischen Staatsangehörigen ein, 59,3 Prozent wurden negativ beurteilt. Im Juni 2023 wurde der Asylantrag eines russischen Reservisten abgelehnt, das Bundesamt für Fremdenrecht und Asyl (BFA) meinte zu erkennen, dass die russische Mobilmachung beendet sei und daher keine individuelle Gefahr zu einer Zwangsrekrutierung bestände. Außerdem könne die Behörde nicht davon ausgehen, dass die russische Armee systematisch Menschen- oder Völkerrechtsverletzungen begehen würde.
In der Berichterstattung werden die Motive der geflüchteten russischen Kriegsdienstverweigerer oft hinterfragt, obwohl sie sich mit Haut, Haar und Handeln Putins Kriegsführung verweigern – und diese schwächen, wird ihnen vorgeworfen „nur“ das eigene Leben retten zu wollen. Da der Überfall auf die Ukraine aber als völkerrechtswidrig bewertet wird, sollte vielmehr eine Verpflichtung zur Verweigerung bestehen. Für ukrainische Kriegsdienstverweiger:innen wiegt das moralische Urteil, sich egoistisch und feig zu Verhalten, noch viel schwerer. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) stärkte in den Jahren seit 2011 das Menschenrecht auf Kriegsdienstverweigerung, das gerade auch im Kriegsfall gilt und gelten muss. In der Ukraine und in Russland wurde es außer Kraft gesetzt. Nach dem Attentat auf die Moskauer Crocus City Hall im März 2024, wurden bei rassistischen Razzien massenhaft Männer aus Kaukasusländern in Rekrutierungszentren des Militärs verschleppt.
Vor rund fünfzig Jahren textete der Tiroler Komponist Werner Pirchner Das Lied vom Guten ausländischen Kameraden:
„Wenn ich Dich jetzt nicht erschösse, befleckte dies die Ehre mein, dann wäre ich Landesverräter, aber Du stürbest erst später. (…) So gingen wir ins Wirtshaus, und versoffen das Gewehr. Uniform und Bajonette, warfen wir in die Toilette.“