Ist es möglich auf das wütend zu sein, das wütend macht?
Wütend sein – alle kennen das. Die Emotion hat ihren Grund in der Erfahrung einer Differenz, die sich zwischen den empfundenen Möglichkeiten des eigenen Handelns und den vorgefundenen Tatsachen aufspannt. Das, was passiert, passiert nicht immer auf die Weise, wie wir es wollen. Je wichtiger dem/der Einzelnen die Sache ist und wenn er*sie Arbeit, Gedanken, Mühe, Zeit in sie investiert hat, schwillt das Potenzial zur Wut an. Sie wird virulent, wenn sich gegen den eigenen Einsatz ein Widerstand abzeichnet. Wenn etwa das Eingreifen in das, was passiert, und in das man eingebunden ist, vergeblich erscheint. Oder, wenn das Handeln einer/eines anderen die sich selbst vorgestellten Grenzen übertritt, sodass dessen/deren Handeln als hemmungslos gegenüber den eigenen Möglichkeiten, einzugreifen, erfahren wird. Die Logik ist immer dieselbe. Die eigene Ohnmacht ist Resultat der Unfähigkeit, in das Geschehen eingreifen zu können.
Schwierig wird die Frage nach der Wut dann, wenn ihr Anlass nicht der heruntergefallene Teller Nudeln mit Tomatensoße ist, sondern die Verhältnisse, in denen wir uns bewegen und deren ständiger Begleiter das allseitige Leiden ist. Bestünde hier nicht die Möglichkeit, die Erfahrung der eigenen Handlungsunfähigkeit gegen ihre Ursache zu kehren? Eine Möglichkeit die erfahrene Ohnmacht, gegenüber der das Leid produzierenden Herrschaft im Modus der Wut gegen eben diese Herrschaft richten zu können?
Wer wütend ist denkt nicht.
Konsequenz der Tomatensoßenspritzer auf dem Küchenboden ist vielleicht ein Moment der Gereiztheit und Frustration. Solche Momente erscheinen harmlos gegenüber der anhaltenden Ohnmachtserfahrung, die unsere Gesellschaft in jedem/jeder Einzelnen reproduziert. Allgegenwärtiger Ausdruck dieser Erfahrung ist das Sprechen im Imperfekt. Es wird andauernd über das gemeckert und gemosert, was vergangen ist. Karl Marx schrieb vom „Stummen Zwang der Verhältnisse“, der nicht von einer bestimmten Person(engruppe) implementiert wird und gewollt ist, sondern sich durch jede*n Einzelnen hindurch reproduziert. Aber nicht bewusst, sondern bewusstlos: „hinter dem Rücken“ derjenigen, die den Zwang jeden Tag an anderen und sich selbst auszuagieren gezwungen sind und so jeden Tag etwas in sich selbst und den Anderen durchstreichen müssen. Sei es nur die Nötigung, dem Alarm des Weckers zu gehorchen, auf den die sadistische Wendung dieses masochistischen Aufstehrituals gegen den Kollegen folgt, der zu spät auf Arbeit kommt. Das war heute Morgen oder gestern Mittag – ist jedenfalls schon passiert.
Auf was bezieht sich die Wut der Wütenden? Überall ist tagtäglich zu sehen, wie sich Wut gegenüber anderen bahnbricht. Sei es nur die auf den Kollegen, der zu spät kommt, während man selbst sich doch stählern zur Disziplin des frühen Aufstehens zwingt. Ein Vorkommnis, etwa das späte Erscheinen am Arbeitsplatz, wird sofort innerhalb des sadistischen Imperativs des Masochisten verarbeitet. Auch der Andere soll an sich unterdrücken, was man selbst so wacker jeden Tag an sich ausschaltet, wenn der Wecker klingelt – den Wunsch, weiterzuschlafen. Die Wut kehrt sich nicht gegen den Zustand des ÖPNV; oder gar gegen die Herrschaft der abstrakten Zeit, die den Tag in gleichförmige Stücke vergleichbarer 60-Minuten-Stunden einteilt, nach deren Muster sich jeder Tag, jede Handlung zurechtmachen lassen muss; und auch nicht gegen eine Gesellschaft, die nichts als die Freiheit garantiert, die eigene Haut zu Markte tragen zu dürfen; und schon gar nicht gegen die Diskrepanz, dass sich hierbei aus der formalen Gleichheit reale Ungleichheit ergibt. Und wenn sich die Haut nicht schon dabei zum „dicken Fell“ verwandelt, dann beim täglichen Pendeln zur Arbeit. Stattdessen sind die Verhältnisse, in denen der „stumme Zwang“ herrscht, beherrscht durch ein Verhalten, dessen Begleiterscheinung das blinde Anrennen gegen das ist, was feststeht. Die Erfahrung der Fremdbestimmtheit muss dabei verdrängt werden – das Empfinden der eigenen Unzulässigkeit, des permanenten Ungenügens, die Wut auf sich selbst ist die Kehrseite.
Kann man auf Verhältnisse wütend sein? Überall ist zu sehen, dass das, worauf sich die Wut richtet, nicht das ist, was sie verursacht. Die Emotion der Wut ist eine – durch die Verhältnisse vermittelte – Erfahrung. Sie erscheint unmittelbar, zerstörerisch: Als Gewalt. Sie zwingt nicht zur Kritik. Wut, wie sie sich auf unsere(n) Straßen wälzt, sieht nur die Erscheinungsformen einer Gesellschaft, die, als allgemein Bekanntes nicht schon ein Erkanntes, Kritisiertes und damit eben Sublimiertes sind.
Zum Imperfekt des Wütenden gesellt sich ein Imperativ. Er monologisiert Phantasien über eine von den Anderen befreite Welt. Denn es sind immer die anderen, mit denen sich verglichen werden muss und die Schuld sind an der eigenen Ohnmacht. Wut richtet sich nicht gegen Verhältnisse, sondern tritt als rücksichtsloses Verhalten gegen andere Menschen auf. Die Wütenden sind nicht Kritiker:innen, sondern Konformist:innen. Sie versuchen nicht, den Zusammenhang zu begreifen, der die Ohnmacht hervorbringt, sondern einen im Gegensatz festgehaltenen Unterschied auszuagieren.
Oder doch?!
Und doch ist Ohnmacht nichts, was in gesellschaftlichen Zusammenhängen aus dem Nichts entsteht. Ohnmacht ist eine Erfahrung der Unterdrückung – mal sehr unkonkret über systemische Zwänge wie Arbeit – mal sehr konkrete Erfahrungen, die oft mit Gewalt einhergehen. Es sind diese Unterdrückungserfahrungen, die aus der Ohnmacht eben mehr machen als individuelles Ausgeliefert-Sein, denn sie beinhalten auch die Möglichkeit der Wut, und zwar einer kollektiven. Und sogar noch mehr als das: eine solidarische kollektive Wut. Eine Wut, die eben nicht unmittelbar auftritt, sondern erst im gemeinsamen Teilen dieser Gewalt- und Unterdrückungserfahrungen, dem plötzlichen Wissen, dass der sexualisierte Übergriff alltäglich und überall – immer und immer wieder eine von uns trifft. Das Sprechen darüber, dass es erst möglich macht, Wörter zu finden. Das gemeinsame Fühlen, das Wut und das Verstehen der Situation erst fühlbar machen. Kritik und Wut sind darin keine unterschiedlichen Ebenen. Sondern entstehen im wechselseitigen Prozess und das nicht individuell beim Nachdenken oder „Reinfühlen“, sondern in kollektiven Momenten. Und eben aus dieser dann solidarisch-kollektiven Wut entsteht etwas: Kritik an den Verhältnissen, die die Bedingung der Gewalt ermöglichen, ja sogar erzeugen. Und manchmal entsteht dabei noch viel mehr. Die Wut-Kritik-Spirale verkehrt sich in etwas anderes: Widerstand gegen all das als ein Ausdruck von Wut. Die feministische Bewegung weiß dies schon lange und das ist sicherlich kein Zufall. Weibliche Sozialisation schafft ein Spannungsfeld von Wut als etwas Hysterisches, das unterdrückt werden muss, Wut als etwas, das einem/einer widerfährt und in einem selbst schlummert. Die feministische Bewegung hat in ihrer Praxis erkannt, dass Erfahrung, Wut und Kritik zusammenhängen: unser analytisches Denken ist wütend und unsere Wut ist analytisch.
Auch in all den anderen Unterdrückungsmomenten kann diese solidarisch-kollektive Wut geweckt werden und wird es auch immer wieder. Doch viel zu selten entstehen daraus langfristige Wutbündnisse, die sich eben unterscheiden vom Wutbürger. Denn der Wutbürger verkennt Solidarität entweder als etwas, das die eigene Position im Status quo absichert oder nur die Gemeinschaft meint, die er selbst imaginiert mit all den Ausschlüssen, die damit einhergehen. Und es bleibt die Frage, wer könne dann Wutgemeinschaften sein. Wie konkret müssen die Unterdrückungserfahrungen geteilt sein? Wie sieht eine Wutgemeinschaft gegen die kapitalistische Ausbeutung aus? Genau dazu brauchen wir eben die analytische Wut – fühlend, denkend aber vor allem nicht nur in uns, sondern zwischen uns. Oder aber eine andere Kategorie. Vielleicht passt dazu dann eher der Hass – als zähe, und doch geduldige Masse, die kalt und zermürbend den Zuständen entgegentritt. Denn die Unterdrückungs- und Ausbeutungserfahrungen sind vielfältig und das Überwinden der Verhältnisse braucht Unnachgiebigkeit im Denken und Fühlen.