MALMOE

Minidistributioncenter

Eine Bustour zu den Logistikzentren Wiens dehnt den Begriff der Kunst im öffentlichen Raum

Es ist ein ziemlicher heißer Freitagnachmittag Ende April, als ein Reisebus vor der alten Tankstelle am Nordwestbahngelände parkt. Michael Hieslmair läuft herum und verteilt orangene Warnwesten an die knapp 50 Teilnehmer:innen, während Michael Zinganel ein Schild am Bus anbringt, auf dem „Cargo Vienna“ steht. Der Plan für die nächsten vier Stunden ist simpel. Wir machen eine Bustour durch die Gewerbeparks und Verteilerzentren in der Wiener Peripherie. Dafür kurven wir auf Autobahnzubringern und Umgehungsstraßen umher und reihen uns geduldig in den Stau der Pendler:innen ein. Die Stadt ist schlicht zu klein und je ökologischer und autofreier sich die Innenstadt geriert, umso mehr verlagert sich der Verkehr an die Ränder der Stadt.
Cargo Vienna heißt das jüngste Projekt von Michael und Michael, die sich als Tracing Spaces vor ein paar Jahren auf dem Gelände zwischen Augarten und Dresdnerstraße angesiedelt haben. Das Areal hat schon einiges hinter sich. 1872, ein Jahr vor der Weltausstellung, wurde der Bahnhof eröffnet und keine hundert Jahre später schon wieder geschlossen. Bereits 1927 gab es dort die erste Skihalle der Welt und im Oktober 1938 lief die NS-Propagandaausstellung Der ewige Jude. Nach der endgültigen Einstellung des Personenverkehrs in den 1950ern nutzte die ÖBB das Gelände für den Güterverkehr. Seit 2017 sind die letzten Eisenbahner:innen jedoch an ein Privatunternehmen vermietet und arbeiten im Güterzentrum Wien Süd. In den alten Stückguthallen am Nordwestbahngelände passiert heute selten etwas, außer wenn sich die WEGA für eine Antiterrorübung einmietet oder die Klima Biennale Wien dort residiert.

Tanz der Transporter

Was Michael und Michael aufführen, beschreiben sie als „performatives Kuratieren“. (1) Sie begeben sich auf Spurensuche zu den fragmentarischen Geschichten des ehemaligen Logistik-Knotenpunktes und seiner Arbeiter:innen. Wir folgen der B14 entlang der Donau bis zum Alberner Hafen, nehmen noch ein kurzes Stück A4 mit und biegen dann auf die Wiener-Außenring Schnellstraße S1 ein – bekannt aus der Diskussion rund um den Lobautunnel. Unterwegs sehen wir kaum LKWs, aber das liegt nur an der Uhrzeit, erklärt Michael über das Mikrofon unseres Reisebusses. Die Versorgung Wiens mit Lebensmitteln und allen anderen Artikeln des täglichen Bedarfs läuft über diese Umgehungsstraßen. Hier rollen die Transporter noch vor Tagesanbruch über den Asphalt und versorgen die Stadt zu den Randzeiten mit allem, was sie braucht.

Traum einer Ware

Früher saßen die großen Speditionen wie LKW-Walter, Panalpina oder Schenker am Nordwestbahngelände. Es gab noch die alte Stückguthalle und zwischen den Containern sangen die Sandler Trucker-Lieder, bis die Security sie hinausschmiss. Dann wurde die alte Stückguthalle zu klein für die Transporter oder besser gesagt, wurden die Transporter zu groß und passten nicht mehr zwischen den Gebäuden durch. Jetzt werden die Waren auf Europaletten an die Wiener Peripherie gekarrt und von dort weiterverteilt. Als neuestes Jointventure der ÖBB steht die neue Stückguthalle im Güterzentrum Wien Süd. Gebaut hat die Halle die österreichische Staatsbahn, gepachtet wird sie von dem millionenschweren Familienunternehmen Raben. Die Mitarbeiter:innen vermietet die ÖBB gleich mit.
Dass vor der Halle heute meist kleine 7,5-Tonner die Waren bewegen, ist fast schon ein Treppenwitz der Geschichte. Die Fahrer:innen sind neue Selbstständige, auch kleine Familienunternehmen, die mit zwei bis drei LKW die Fuhren zwischen dem Güterzentrum und den Lagerhallen in der Stadt übernehmen. Auf Europaletten lagern Kühlschränke zwischen Solarpaneelen und Autoreifen, Waschmaschinen, Wein, Motoröl, Süßigkeiten und Topfpflanzen. In der Halle steht ein moderner Getränkeautomat. Mich erinnern die sonst immer an Greifautomaten für Stofftiere, aber heute muss ich an Logistik denken, während ich dem Greifarm dabei zuschaue, wie er meine Cola befördert.

Straße statt Schiene

Nachdem wir das Güterzentrum verlassen haben, machen wir noch einen kurzen Abstecher ins Industriezentrum Niederösterreich Süd. Dort, wo die Nazis früher Flugzeuge gebaut haben, befinden sich heute die Imperien von Billa und LKW-Walter. Eigentlich ist das ganze Areal von der Eisenbahn erschlossen, die Schienenstränge sind perfekt saniert, aber kein Unternehmen nutzt sie. Denn die Bahn rechnet sich gegenüber dem LKW erst ab 1000 Kilometer Wegstrecke – nicht zuletzt dank der LKW-freundlichen Gesetzgebung. Dabei hat zumindest LKW-Walter Pionierarbeit geleistet, um die Güter möglichst unkompliziert von der Straße auf die Schiene befördern zu können. Frühzeitig auf diesen kombinierten Verkehr zu setzen und die LKW entsprechend umzurüsten, verschaffte LKW-Walter einen Vorteil gegenüber der Konkurrenz. Heute vermietet das Unternehmen vor allem seine Software, aber auch Fahrer:innen und Fahrzeuge an andere Speditionen. Dieses Geschäftsmodell ist unter dem Begriff Plattformökonomie bekannt.

Die letzte Tour

Nach drei Stunden werden die ersten Gäste nervös, noch lachen sie, aber manche wünschen insgeheim, sie wären bereits beim McDonalds am Mexikoplatz ausgestiegen. Im nächsten Stau gibt es ein Lied, verspricht Michael, der merkt, dass die Stimmung kippt. Dann schrammeln die Highwayman ihren Revolutionskitsch durch die Lautsprecher des Reisebusses, während wir über die Stadtautobahn tuckern. Eine Frau erzählt, dass sie die genauen Recherchen bei Tracing Spaces schätze, außerdem sei sie mit so ungewöhnlichen Bereichen konfrontiert, dass es nie langweilig werde. Leider kann das nicht überprüft werden, denn es war die letzte Tour für eine längere Zeit, aber das Museum Nordwestbahnhof gibt es weiterhin und am 21. Juni ist Sommerfest. Man munkelt, dass Ernst Molden Fischerlieder singen wird…

Michael Hieslmair und Michael Zinganel (2024): Selbsternanntes Museum Nordwestbahnhof. Performatives Kuratieren als kollaborative Spurensuche, Turia+Kant, Wien.