Gestörtes Störendes #27
Ich schreibe während mich die Deutsche Bahn auf ihren verschlungenen, improvisierten Wegen in den Norden transportiert. Die Verspätung hält sich in Grenzen, ich werde vor Mitternacht ankommen, wenn jetzt nichts mehr schief geht. Die Durchsagen über neue Delays, kaputte Gleise, abgehängte Zugabschnitte und anderes Ungeplantes werden von Stunde zu Stunde witziger. Einmal muss ich sehr schnell vom hinteren in den vorderen Teil umsiedeln und lande inmitten einer Chorklasse. Knabbern, Kichern, leises, spontanes Singen und Summen. Manche Kinder versuchen den Sonnenuntergang zu filmen, den jüngeren fallen die Augen zu.
Wenn es etwas gibt, das meinen Alltag in den letzten Jahren immer begleitet hat, ist es Erschöpfung. Nicht nur meine eigene, eher wellenförmige. Sondern vielmehr die geteilte, die sich dort besonders verdichtet, wo viel Care-Arbeit geleistet wird und care-betonte Berufe ausgeübt werden. Die Erschöpfung, die in kleinen Kollektiven, bei Aktivist:innen, in Support-Netzwerken ein und ausgeht. Und die, mit der Menschen umgehen, die um ihr Dasein kämpfen müssen, weil die Gesellschaft sie be_hindert, rassifiziert, marginalisiert, ausschließt. Die Prekarität und Verletzlichkeit, die sich daraus ergibt und die damit einhergeht, mit sehr wenigen Energiereserven arbeiten zu müssen. Diese Erschöpfung ist viel zu tief in die Grundstrukturen unserer Gesellschaft eingewoben und einberechnet, als dass eins aus ihr aussteigen, sich ihrer lediglich mit Verhaltensänderungen entledigen könnte. Aber sie ist auch zu unaushaltbar, um nicht nach einem Umgang zu suchen, denn sie ist gerade dort zuhause, wo das Wichtigste passiert: Wo Menschen miteinander fürsorglich umgehen, Netze von Care weben, wo Kunst entsteht und wo für soziale Gerechtigkeit eingetreten wird. Audre Lorde schreibt in ihrem Essay Vom Nutzen der Erotik: „[g]eteilte Freude […] bildet eine Brücke zwischen den Teilenden“. Die Erfahrung, gemeinsam mit anderen etwas hervorzubringen, macht für mich vielleicht den größten Unterschied darin, ob sich etwas, das komplex, mühsam und herausfordernd ist, auch ausschließlich das Gefühl der Anstrengung hinterlässt oder auch das von Verbindung und Zukunft weckt. Care und Aktivismus sollten in Kollektiven, in dichten, tragfähigen Netzwerken passieren, anstatt – wie so oft – in einengender Vereinzelung. Das muss nicht heißen, dass alle Arbeiten von mehreren erledigt werden. Aber Raum und Zeit, um gemeinsam zu sichten und wahrzunehmen, was erreicht wurde, hilft schon sehr. Wir sind meist nicht glücklich, wenn wir das Gefühl haben, ganz allein zu kämpfen. Um dem zu entfliehen, braucht es ein gewisses Maß an Langsamkeit – Zeit für Entscheidungsprozesse, Zeit für Auseinandersetzungen, Zeit für Pausen. Und das ist für viele schwer auszuhalten, mich eingeschlossen. Ständig angetrieben zu werden, und sei es von sich selbst und den eigenen Ansprüchen, ist so sehr unser Alltag, dass wir es selbst dort reproduzieren, wo wir es nicht müssten. Die Idee, dass Produktivität mit Ernst, Stress und Entsagung zu tun haben muss, ist problematisch und ableistisch. Und sie ist auch falsch. Kreativität braucht Langsamkeit, beziehungsweise eine Bereitschaft zur Langsamkeit als Grundhaltung. Aktivist:innen und Care-Arbeitenden fällt es oft schwer, sich Langsamkeit zuzugestehen, weil sie ohnehin schon das Gefühl haben, zu wenig zu tun. Trotzdem ist es wichtig, dass wir zu einer widerständigen Langsamkeit finden – oder zu einer langsamen Widerständigkeit.
Die Sonne ist untergegangen. Durch die spiegelnden Scheiben können wir die dunkle Außenwelt nicht mehr sehen. Das Kind hinter mir hat sich auf den Sitz gestellt und beugt sich über meine Lehne. Während ich vor mich hinträume und hinarbeite, Kaffee trinke, Kekse esse, schreibe, Wasser trinke, To-Dos abhake, Gemüsesticks esse, Saft trinke, Löcher in die Luft starre, den Nacken dehne, Chips esse, werde ich immer zufriedener.