Für bevorstehende Herausforderungen lernen
Der Mittlere Osten gilt als ein Pulverfass aus Ultranationalismus, religiösem Fundamentalismus und imperialen Bestrebungen. Das macht ihn zum Spielfeld von Machtinteressen zahlreicher Akteure. Doch eine Region trotzt diesen Entwicklungen. Seit 2012 wird in Rojava, dem Nordosten von Syrien, eine Demokratie von unten nach dem Modell des Demokratischen Konföderalismus aufgebaut. Die Bevölkerung wehrt sich gegen die Angriffe von Islamisten und autokratischen Regimen, um ihren eigenen Weg, den einer Demokratischen Moderne, zu gehen.
Der Krieg der Türkei
Seit der Ausrufung ihrer Autonomie 2012 befindet sich Rojava, offiziell DAANES, Demokratisch Autonome Selbstverwaltung Nordostsyriens, im Krieg. Die zunächst überwiegend kurdische Revolution in Rojava auf syrischem Staatsgebiet war dem türkischen Staat seit Anbeginn ein Dorn im Auge. Das Regime rund um Recep Tayyip Erdoğan versuchte, die demokratische Selbstbestimmung in der Region – die sich zusehends auch auf arabische und weitere Gebiete ausdehnte – zu schwächen. Dazu unterstützte es reaktionär-islamistische Kräfte wie den IS mit Waffen, Logistik und Informationen. Den kurdischen Militärverbänden YPG und YPJ gelang es, als Teil der Syrian Democratic Forces (SDF) und unterstützt durch die internationale Koalition angeführt von den USA, den IS zurückzuschlagen. Angesichts dessen griff das türkische Regime selbst aktiv in die Region ein. Völkerrechtswidrig und unter Duldung der in der Region präsenten Großmächte USA und Russland besetzte es die Gebiete Afrîn (2018) und Serêkaniyê (2019) in großangelegten Bodeninvasionen, die vielen Kämpfer_innen aber auch Zivilist_innen das Leben kostete. Mittlerweile hat die Türkei ihre Militärstrategie verändert und ausgeweitet. Sie setzt auf eine hochtechnologische Kriegsführung mit eigens entwickelten Drohnen und führt einen permanenten Krieg der niedrigen Intensität aus der Luft. Durch das Sammeln von Informationen über Agenten kann sie gezielt Angriffe auf Personal der Administration ausführen und so wichtige Kader der Revolution töten. Auch scheut das türkische Regime nicht davor zurück, weitreichende Angriffe auf lebensnotwendige Infrastruktur und zivile Orte auszuführen, um Angst zu verbreiten und das Leben zu verunmöglichen.
Rätedemokratie
Trotz all dieser Schwierigkeiten arbeitet die Autonome Selbstverwaltung weiter daran, die Gesellschaft zu demokratisieren, die Organisierung von Frauen voranzutreiben und die Beziehungen zwischen den ethnischen Gruppen für eine Koexistenz zu fördern. Im Juni werden in ganz DAANES die Gemeindewahlen abgehalten, bei denen die Ko-Vorsitzenden und Volksräte gewählt werden. Die Wahlen sind ein wichtiger Schritt, die junge Demokratie zu festigen und den neuen Gesellschaftsvertrag, der vergangenes Jahr aktualisiert wurde, zu stärken. Da die Kommunen und Räte das Herz und Zentrum der basisdemokratischen Organisierung bilden, ist es wichtig, dass die gewählten Ko-Vorsitzenden und Räte dafür sorgen, dass das kommunale Leben funktioniert und die Probleme der Bevölkerung gehört werden. Sei es bei der Austeilung von Gütern wie Brot, Diesel oder Gas, wenn es Streitigkeiten innerhalb der Familie oder zwischen Nachbarn gibt, für all diese Dinge ist zuerst die Kommune zuständig. Die Kommunensprecher_innen müssen daher ihre Nachbarschaft und alle Familien gut kennen. Das gesellschaftliche Leben, ihre Kultur und ethischen Werte sind die Grundpfeiler, auf der das demokratisch-konföderale System basiert. Anders als in Europa sollte man das politische Modell nicht wie ein Gerüst von Regelsätzen und formalen Strukturen verstehen. Ohne eine lebendige Gesellschaft, die auf Werten der Gegenseitigkeit und Freundschaftlichkeit beruht sowie nachbarschaftliche Netzwerke aktiv hält, könnte auch das demokratisch-konföderale System nicht funktionieren. Die politische Arbeit setzt daher voraus, dass die Beziehung zur Gesellschaft eng und auch in der Lage ist, Lösungsansätze für die alltäglichen Probleme der Gesellschaft zu bieten. Das Verhältnis von Gesellschaft und Demokratie ist daher ein sich gegenseitig konstituierendes.
Neuer Sozialismus
Diese Erfahrungen basieren auf den Ideen des kurdischen Philosophen und PKK-Vorsitzenden Abdullah Öcalan. Seit 1999 wird er in türkischer Gefangenschaft gehalten, wo er seine berühmten Verteidigungsschriften schrieb. Diese umfassten eine umfangreiche Darlegung der menschlichen Zivilisationsgeschichte und ihrer inhärenten systemischen Krisen, nicht zuletzt durch die Entstehung des Patriarchats und des Staates, die sich in der heutigen Phase der kapitalistischen Moderne zuspitzen. Er verfasste eine elementare Kritik am Realsozialismus, der marxistisch-leninistischen Methode und veröffentlichte seine selbstkritischen Reflexionen zur PKK. Mit dem Modell des demokratischen Konföderalismus, das die kommunal organisierte demokratisch-ökologischen Gesellschaft ins Zentrum stellt, setzte er wichtige Impulse für eine aktuelle Debatte um einen neuen Sozialismus. Dessen ideologische Erneuerungen aus den Lehren revolutionärer Geschichte des 20. Jahrhunderts sollte auch uns als Linke mehr beschäftigen. Denn die autoritären Krisen des Kapitalismus spitzen sich weiter zu, was wir insbesondere an den offener ausgetragenen Hegemonialkonflikten sehen, die sich momentan in der Ukraine, Syrien und Israel-Palästina zeigen. Die Linke hat es bislang nicht geschafft, aus diesen Widersprüchen eine eigene Alternative aufzubauen. Es wäre aber eine dringende Aufgabe für die bevorstehenden Herausforderungen, sich dem ohne Dogmatismus und mit einer Offenheit gegenüber neuen Methoden zu widmen.