Über Franz Kafka ist dieses Jahr anlässlich seines hundertsten Todestages bereits mehr als genug geschrieben worden. Höchste Zeit, seinen iranischen Bruder im Geiste Sadeq Hedayat und dessen Meisterwerk Die blinde Eule kennenzulernen.
In diesem Alptraum von einem Roman, in dem nichts ist, wie es zu sein scheint, sich Situationen ständig wiederholen oder leicht verändert wiederkehren, können Leser:innen nur allzu leicht den Boden unter den Füßen verlieren. Was ist Traum, was Wirklichkeit? Was passiert tatsächlich, was nur in der Imagination des Protagonisten?
Der Erzähler, ein opiumabhängiger und todessehnsüchtiger Federkastenmaler, wird von einer zufälligen Begegnung mit einer geheimnisvollen Frau endgültig um den Verstand gebracht. Drei Monate – „nein, es sind erst zwei Monate und vier Tage“ – muss er warten, bis er sie wieder sieht. Ein fatales Treffen, mit dem formal der erste Teil des Romans endet. Aus seinem Delirium und auf den ersten Blick in einer neuen Umgebung auftauchend, muss sich der beklagenswerte Protagonist mit ganz neuen Problemen herumschlagen. Gesundheitlich schwer gezeichnet, hat er eine, wie er sie nennt, „Dirne“ zur Frau, die gleichzeitig seine Cousine ist und anscheinend allen anderen Männern auf der Welt mehr Zuneigung entgegenbringt als ihm. Freiwillig eingesperrt in seinem Zimmer („War denn mein Zimmer nicht ein Sarg?“), ist er ständig hin- und hergerissen zwischen der Angst vor und der Sehnsucht nach dem Tod. Gleichzeitig lässt er keine Gelegenheit aus, seine Abscheu gegenüber dem „Pöbel“ und „Gesindel“, dass sich auf den Straßen vor seinem Fenster herumtreibt, zum Ausdruck zu bringen. Besonders angeekelt ist er vom Betreiber der Schlachterei gegenüber seines Zimmers, was umso nachvollziehbarer ist, wenn man weiß, dass Hedayat 1927 einen Text mit dem Titel „Die Vorzüge des Vegetarismus“ schrieb.
Bei aller Empathie für den Erzähler ist schwer zu übersehen, dass er einen Hang zum Elitären, zum Selbstmitleid und auch zur Misogynie hat, die sich im Schlussakt auf grausame Weise manifestiert.
Erstmals 1936 in Bombay veröffentlicht, gilt Die blinde Eule als das Hauptwerk der iranischen Moderne. In Hedayats Heimat durfte es erst nach der Abdankung Reza Schahs 1941 publiziert werden, was nicht zuletzt mit Hedayats wenig zimperlichen Äußerungen zu Religion im Allgemeinen und Allah im Speziellen zu tun hat. Ein Aufenthalt in Paris in den 1920er Jahren brachte Hedayat in Berührung mit dem Surrealismus, der einen starken Einfluss auf den Roman haben sollte.
Die omnipräsente Ausweglosigkeit des Protagonisten teilt er sich mit Kafka, während Zeilen wie diese unwillkürlich an Bilder von Alfred Kubin denken lassen:
„Um mich herum öffnete sich eine Aussicht, die mir noch nie, weder im Traum noch im wachen Zustand, zuteilgeworden war: Auf beiden Seiten des Weges zeigten sich Bergausschnitte, seltsam verkrüppelte, verdammte Bäume. Dahinter standen aschgraue Häuser in dreieckiger, kubischer, kegeliger Form mit niedrigen, dunklen Fenstern ohne Scheiben. Diese Fenster glichen den wirren Augen eines Menschen im Zustand des Wahns.“
Gepaart mit Unmengen von Anspielungen auf orientalische Symbolik sowie das buddhistische Bardo Thödröl, ergibt Die blinde Eule eine einzigartige literarische Mischung.
Sadeq Hedayat (2021): Die blinde Eule. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main. Selbstverständlich erhältlich im Stuwerbuch, Stuwerstraße 42, 1020 Wien.