„Ein Zehn-Dollar-Regenschirm neutralisiert die Wirkung einer fünf Millionen Dollar teuren Drohne.“
Der türkische Staat führt die zweit größte NATO-Armee und verfügt über moderne Waffen und Kriegsgeräte. Dennoch führt die Guerilla einen erfolgreichen Kampf gegen sie. Wie ist das möglich?
Reşîd Serdar: Die Guerilla der kurdischen Freiheitsbewegung, leistet seit 1984 bewaffneten Widerstand gegen den türkischen Faschismus. Im Paradigma des Vordenkers der Bewegung, Abdullah Öcalan, der seit seiner Entführung 1999 durch den türkischen Staat, die USA, Israel und europäische Staaten in Imrali in Isolationshaft gefangen ist, wird Krieg nur im Falle der Selbstverteidigung als legitimes Mittel einer Gesellschaft definiert. Die Guerilla basiert und kämpft auf der Grundlage der legitimen Selbstverteidigung, der Ideologie eines demokratischen Sozialismus und der Frauenbefreiungsideologie. Der Glaube an diese Prinzipien spielt eine entscheidende Rolle. Diese Werte werden in der Guerilla verwirklicht. Jede_r Guerilla weiß, welche Art von Sklaverei und Unterdrückung der Feind den Menschen aufzwingen will. Diese beiden Lebensarten gegenüberstellend, kämpft jede_r Guerilla für den Sozialismus. Ein tiefes Verständnis ihrer historischen Rolle, der Tatsache, dass es in ihrem Kampf klar um die Freiheit des kurdischen Volkes geht, aber darüber hinaus ihr Widerstand für alle unterdrückten Völker, alle Gesellschaften und Menschen, die unter den Angriffen der kapitalistischen Moderne leiden, geführt wird.
Warum ist das so? Global führen die hegemonialen Staaten und ihre Proxys Krieg gegen lokale Gesellschaften, um sie und ihr Land ausbeuten zu können. Von Abya Yala bis Asien, dem Mittleren Osten bis Afrika gibt es Widerstand, dem es jedoch nur selten gelingt, den Staatsarmeen und ihren Unterdrückungssystemen etwas entgegenzusetzen. Die Guerilla hat in Kurdistan bewiesen, dass dies durchaus möglich ist, und dafür Methoden entwickelt, die die unterdrückten Völker, Klassen, Frauen und die Jugend einsetzen können. Im Gegensatz zu Soldaten in einer Staatsarmee kämpfen die Guerilla aus Überzeugung. Im Umfeld der PKK und insbesondere der Guerilla spielt Aufopferungsbereitschaft eine zentrale Rolle. Aufopferung bedeutet aber nicht nur Opferung in Form von militärischen Aktionen, bei denen die Genossinnen und Genossen wissentlich ihr eigenes Leben als Teil der Aktion opfern. Selbstlosigkeit in der kurdischen Freiheitsbewegung ist eine zentrale Haltung in allen Aspekten des Lebens. Es bedeutet stets, die Last der Genossinnen und Genossen um sich herum auf die eigenen Schultern zu nehmen, sich aufopferungsvoll dem politischen Kampf in allen Aspekten zu widmen und eine selbstlose Haltung zu entwickeln, als deren höchstes Gut die Befreiung des Individuums und der Gesellschaft gilt. Bei uns bedeutet Ideologie auch nicht bloße Theorie. Es bedeutet eine entsprechende Lebenspraxis. Dabei wird viel Wert auf lösungsorientiertes Denken und Handeln, Kreativität, Ganzheitlichkeit und Hartnäckigkeit gelegt. Die taktischen Erneuerungen und die Entwicklung neuer Methoden und Techniken, die die militärischen Erfolge der Guerilla ermöglichen, haben mit dieser Art und Weise zu tun.
Seit ihrer Entstehung in den 1980ern hat sich die Guerilla immer verändert und entsprechend der politischen Lage orientiert. Heute ist die Strategie der Selbstverteidigung zentral. Was hat zu dieser Entwicklung geführt und wie sieht diese Strategie der Selbstverteidigung aus?
en bei der Verwirklichung demokratischer Autonomie zugesteht. In einer Situation, wie wir sie heute zum Beispiel in Nordkurdistan vorfinden – also einem türkischen Staat, der keinerlei Demokratisierung zulässt und keine Zugeständnisse macht –, wird die demokratische Autonomie auch gegen den Willen des Staates durchgeführt und im Falle von Angriffen verteidigt. In den 1980er und 90er Jahren wurde noch die aus dem Maoismus stammende Strategie des lang andauernden Volkskrieges angewandt, die schlussendlich zu einem militärischen Sieg gegen die Besatzer führen sollte. Entsprechend der Analyse Öcalans, dass die Staaten heute aber auch mit allen erdenklichen nicht-militärischen Mitteln Krieg gegen die Gesellschaft führen, hat er die Strategie des revolutionären Volkskrieges entwickelt. Dies ist eine ganzheitliche Strategie und beinhaltet eine umfassende Bildung und Organisierung der Gesellschaft. In einem Krieg, der auch in den Dimensionen der Kultur, der Information, der Diplomatie, der Wirtschaft und so weiter geführt wird, kann eine klassische Guerilla mit einer rein militärischen Strategie nicht erfolgreich sein. Der revolutionäre Volkskrieg besteht dementsprechend aus vier Säulen: den professionellen militärischen Kräften, also der Guerilla oder der SDF in Rojava; zweitens den zivilen Verteidigungskräften, zum Beispiel die HPC in Rojava; und drittens der organisierten Gesellschaft. Die vierte Säule sind strategische Allianzen; im Sinne von Allianzen mit anti-systemischen Kräften auf der ganzen Welt, statt Allianzen mit Staaten. Im Rahmen dieser Strategie spielt die Guerilla heute nach wie vor eine entscheidende Rolle; auch in der Vorbereitung der Gesellschaft für den Krieg. Sie interveniert aber auch wenn notwendig, wie etwa im Kampf gegen den Islamischen Staat in Südkurdistan und Rojava.
Mit der YJA-Star hat die Guerilla auch eine eigenständige Frauen-Organisation. Welche Rolle spielt diese und was bedeutet sie für die kurdische Freiheitsbewegung?
Die Entstehung der Autonomen Frauenarmee, oder wie wir es nennen, die Armeewerdung der Frau, ist ein bedeutender Schritt in der Geschichte der kurdischen Freiheitsbewegung. Die autonome Organisation und Befreiung der Frau ist ein wichtiges Kernelement der Philosophie Abdullah Öcalans. Die Überwindung klassischer Geschlechterrollen und damit verbunden das Ziel der Freiheit der Frau und des Mannes ist gleichermaßen das grundlegende ideologische Kriterium der Bewegung und Verantwortung jedes Mitglieds der Guerilla. In der Frauen-Guerilla haben die Frauen sich selbst kennenlernen und ihre eigene Stärke erkennen können. In einer männerdominierten Umgebung waren sie in der Lage, sich zu beweisen und haben damit auch der Frauenbefreiungsideologie den Weg geebnet. Zu Beginn waren sie mit immensen Schwierigkeiten und Hürden konfrontiert. Die ablehnende Haltung vieler Genossen gegenüber dem Einsatz der Frau im Krieg ging so weit, dass ihnen zu Beginn sogar die logistische Unterstützung mancher Kommandanten verweigert wurde. Trotz aller Widerstände haben die Frauen mit dem Aufbau ihrer Armee bewiesen, dass es keinen Lebensbereich gibt, in dem Frauen keine führende Rolle spielen können. Die Kämpferinnen der YJA-Star haben an der Front großen Einfluss und ihr Widerstandsgeist zieht auch ihre männlichen Kameraden mit auf die Linie des Widerstands. Heute genießen die Kämpferinnen großen Respekt in der Bevölkerung und unter ihren männlichen Genossen. Die YJA-Star Guerilla hat darüber hinaus nicht nur militärische Relevanz, sondern ist der Ort, an dem Frauen militante Persönlichkeiten entwickeln, um überall gegen Sexismus und dominante Männlichkeit zu kämpfen. Wie kann eine freie Frau aussehen, eine Persönlichkeit, die nicht unter dem Einfluss des Patriarchats steht? Jeder jungen Frau zeigt die Guerilla, dass sie nicht dazu verdammt ist, dem zu entsprechen, was das System ihr aufzwingen will; Ehefrau, Haushaltskraft, Sexualobjekt, sondern dass sie eine Kämpferin sein kann und ein freies Leben anstreben kann.
Die grundlegende Ideologie der Guerilla basiert auf dem Paradigma von Abdullah Öcalan. Welche Rolle spielt ideologische Bildung für die Guerilla und wie sieht diese aus?
Abdullah Öcalan hat immer wieder betont, dass unser Kampf zu einem Großteil ideologischer Natur ist. Das bedeutet, dass wir auch die Ideologien der kapitalistischen Moderne, den Liberalismus, Feudalismus und so weiter in unserer eigenen Persönlichkeit überwinden müssen, um eine sozialistische Persönlichkeit zu entwickeln. Er sagt: „Neunzig Prozent unseres Kampfes findet gegen uns selbst statt, nur zehn Prozent gegen den Feind.“ Auch in der Guerilla hat dieser ideologische Kampf, der in jedem Moment geführt werden muss, einen hohen Stellenwert. Selbst militärische Ausbildungen beinhalten immer auch einen ideologischen Teil.
Im Winter 2023/24 hat die Guerilla viele erfolgreiche Aktionen gegen die türkische Besatzungsarmee durchgeführt. Worauf sind diese Erfolge zurückzuführen und welche Bedeutung haben sie für den Widerstand?
Mit dem Einsatz moderner Technologie hat sich natürlich auch die Kriegsführung über die Jahrzehnte verändert. Während die Guerilla bis in die 2000er Jahre im Winter überwiegend Bildungen durchgeführt hat und im Frühling Aktionen gegen die türkische Armee vorgenommen hat, ist die Guerilla nun besonders im Herbst und Winter aktiv. Bei Regen und bewölktem Himmel sind Kampf- und Aufklärungsdrohnen des Feindes weitgehend nutzlos. Trotz schwierigster Bedingungen hat die Guerilla zum Teil im Schutz schwerer Schneestürme erfolgreiche Aktionen gegen türkische Stützpunkte durchgeführt. Die Art und Weise dieser Kriegsführung beweist die Willensstärke und Entschlossenheit, die wir zuvor angesprochen haben. Wir sehen in den letzten Jahren, dass die türkische Armee trotz modernster Technologie und dem systematischen Einsatz chemischer Waffen nicht in der Lage ist, den Widerstand der Guerilla zu brechen.
Am 20.März dieses Jahrs, pünktlich zu Newroz, hat die Guerilla verkündet, dass sie nun über Waffen verfüge, mit denen türkische Drohnen erfolgreich zerstört werden können. Was bedeutet das für die Zukunft des Krieges?
Natürlich wird diese Errungenschaft den Kriegsverlauf nachhaltig beeinflussen. Jedoch hat die Guerilla auch zuvor immer wieder Wege gefunden, die technologische Überlegenheit des Feindes ins Leere laufen zu lassen. Die türkische Armee, die wie alle Armeen der NATO ihre Stärke aus ihrer technologischen Überlegenheit zieht, hat in den Reihen der Guerilla überwiegend mit Drohnenangriffen zu Verlusten geführt. Drohnen, die seit 2016 systematisch in den Bergen eingesetzt werden, haben die Bewegungsfreiheit der Guerilla zu Beginn massiv eingeschränkt. Doch auch hier hat sich die ideologische Stärke und Kreativität der Guerilla als überlegen erwiesen. Mit Innovationen wie Anti-Thermal-Kleidung und spezialbeschichteten Regenschirmen, die die Guerillas unter den Augen der Thermalkameras der Drohnen fast unsichtbar machen, und neuen Bewegungstaktiken hat es die Guerilla geschafft, sich den neuen Bedingungen anzupassen und ihre Effektivität beizubehalten. Sie beweist erneut, dass die effektivste Technologie die Kreativität des Menschen ist. Ein Zehn-Dollar-Regenschirm neutralisiert die Wirkung einer fünf Millionen Dollar teuren Drohne. Das hat Verzweiflung innerhalb der Reihen der türkischen Streitkräfte verbreitet und wächst zu einer Verlierermentalität.
Internationalismus ist ein fester Bestandteil der kurdischen Freiheitsbewegung. Auch in der Guerilla gibt es Internationalist_innen. Viele von ihnen sind auch im Kampf um ein freies Leben gefallen. Welche Bedeutung haben sie und welche Bedeutung hat dieser Internationalismus auch für Europa?
Freund_innen, die in den Reihen der Guerilla gefallen sind, wie Azad Şerger und Elefteria Hambi aus Deutschland oder Lêgerîn Çiya aus Argentinien, haben in den Ideen Öcalans und der Praxis der PKK eine Antwort auf essentielle Fragen gefunden. Wie auch sie sehen wir in der Revolution im Nahen Osten das Potenzial, eine Alternative für alle unterdrückten Völker und Gesellschaften, auch in Europa, zu entwickeln. Der Kampf für die Freiheit der Völker Europas wird auch in den freien Bergen Kurdistans geführt und ist auf vielfältige Weise mit Kämpfen auf der ganzen Welt verwoben. In der heutigen Situation, in der die Jugend überall nach Wegen aus der Perspektivlosigkeit des Kapitalismus sucht, hat Abdullah Öcalan in seinen Gefängnisschriften einen tiefgreifenden Paradigmenwechsel ermöglicht, der uns heute einen Weg eröffnet, Kapitalismus, Staat und die diesen zu Grunde liegende dominante Männlichkeit zu überwinden. Wenn wir in der Geschichte zurückblicken, zum Beispiel auf den Widerstand gegen den Faschismus in Europa oder die Spanische Revolution, sehen wir, dass diese durch Persönlichkeiten mit revolutionären Charaktereigenschaften – Aufopferung, Kollektivität, Verbundenheit mit der Gesellschaft – ermöglicht wurden. Nach Jahrzehnten unter liberalen Regimen sind diese Charaktereigenschaften, auch in linken Kreisen, weitgehend zerstört. Liberalismus und Beliebigkeit sind weit verbreitet. Nur wenn dies überwunden wird, kann sich in Europa eine revolutionäre Bewegung entwickeln. Die Guerilla ist der Ort, wo die notwendigen Eigenschaften entwickelt werden können. Die internationalen Gefallenen haben das verstanden und sind zu Beispielen dafür geworden, wie ein revolutionäres Leben im 21. Jahrhundert geführt werden kann.