Perspektiven für einen erweiterten Gewaltschutz
Ich arbeite für die Männerberatung Wien und unterstütze Menschen, die Gewalt erlebt haben. In meiner Arbeit sowohl mit von Gewalt Betroffenen als auch mit Gewalt Ausübenden stoße ich immer wieder auf die Rahmenbedingungen des österreichischen Gewaltschutzes. Obwohl straf- und zivilrechtliche Maßnahmen von großer Bedeutung sind, können sie nicht alle Aspekte abdecken und vor allem nicht den Blick für ein gewaltfreies Miteinander öffnen.
Viele Unterstützungsmöglichkeiten bei Gewalt sind an strafrechtliche Interventionen gebunden, die auf historische sowie ethisch-philosophische Wurzeln zurückzuführen sind. Der Gewaltschutz in Österreich ist ein wertvolles und hart erkämpftes Recht der Frauenhausbewegung. Das Herzstück und die bedeutendste Errungenschaft dieser Bewegung ist das 1997 in Kraft getretene Gewaltschutzgesetz. Dieses Gesetz ist ein Meilenstein, da es die Gewalt gegen Frauen aus der Sphäre des Privaten holt und zur gemeinschaftlichen staatlichen Verantwortung macht. Der professionelle Gewaltschutz ist daher eng mit der Strafjustiz verknüpft.
Die Arbeit mit von Gewalt betroffenen Menschen ist schwierig. Den Menschen geht es schlecht. Das Erlebte wirkt, erzeugt Leidensdruck und schränkt die Lebensqualität ein. Konfrontiert mit Multiproblemlagen und hoher Bedürftigkeit der Adressat:innen bin ich als Sozialarbeiter und psychosozialer Prozessbegleiter oft selbst hilflos. Mein Werkzeugkoffer besteht aus akuter Krisenintervention, Aufklärung, Vermittlung und Begleitung durch den Strafprozess.
Ich biete ein vorgefertigtes Korsett von Möglichkeiten und Zielen an. Ich gebe die Ziele vor und erarbeite sie nicht mit den Betroffenen gemeinsam. Häufig divergieren die möglichen Ziele mit den Wünschen und Vorstellungen der Betroffenen – dies führt zu Frustration.
Wünsche der Betroffenen
Ein häufiger Wunsch, den ich höre, ist, dass es endlich aufhören soll, dass der Leidensdruck ein Ende hat. Bei aktiven Gewaltbeziehungen verweise ich auf das Rufen der Polizei. Sie kann die gefährdende Person für vierzehn Tage aus der Wohnung verweisen. Dies kann ausgedehnt werden. Die andere Möglichkeit ist, gemeinsam nach einer Psychotherapie zu suchen. Auch wenn beide Möglichkeiten gut und sinnvoll sind, so bleiben die betroffenen Personen in der Aufarbeitung allein. Sie müssen sich selbständig Hilfe holen, das Erlebte aufarbeiten, anzeigen et cetera. Nicht nur die Gewalterfahrung isoliert, sondern auch die Aufarbeitung.
Ein weiterer Wunsch, den ich häufig höre, ist der nach Schutz. Besonders oft äußern Menschen den Wunsch, dass andere geschützt werden sollen, damit niemand das erlebte Leid erneut durchleben muss. Mir bleiben oftmals nur die Werkzeuge der Strafjustiz: die Anzeige, der Gerichtsprozess und das Gefängnis. Gerade bei sexualisierter Gewalt, die oft im Verborgenen geschieht, ist die Beweislage häufig dünn, was zu zahlreichen Verfahrenseinstellungen führt. Im Jahr 2021 wurden fast 73% aller Anzeigen wegen Vergewaltigung (§ 201 StGB) eingestellt. Neben den zahlreichen Freisprüchen gelingt es einem Strafjustizprozess nicht, Gewalt nachhaltig zu bewältigen sowie Betroffene zu schützen und zu unterstützen.
Viele Menschen sehnen sich nach Gerechtigkeit, doch hier stehen meist nur die Mittel der Strafjustiz zur Verfügung. Ein Strafprozess zielt primär auf Bestrafung ab und nicht auf subjektive Gerechtigkeit. Er prüft, ob das Geschilderte mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit genauso war, und nicht, ob die Richter:innen den Betroffenen glauben. Das subjektive Gerechtigkeitsverständnis und somit auch das Vertrauen in den Strafprozess wird häufig enttäuscht.
Strafjustizlogik und Individualisierung von Gewalt
Die enge Verflechtung von Gewaltschutz-Einrichtungen und der Strafjustiz steht in der Kritik. Einige feministische Forschende befürchten, dass der Gewaltschutz zunehmend von den Logiken der Strafjustiz dominiert wird. Die utopischen Ziele der Frauenhausbewegung, so die Analyse, haben sich zu einer hochprofessionellen, service- und einzelfallorientierten Soziallandschaft entwickelt. Als prägenden Trend erkennen sie die Individualisierung von Gewalt, die Gewalt als pathologisches Verhalten darstellt. Durch neoliberale Individualisierungslogiken wird Gewalt zunehmend nicht durch soziale Programme, sondern durch polizeiliche Sicherheitsmaßnahmen behandelt. Die strukturellen Verhältnisse, die Gewalt gegen FLINTA+ begünstigen, geraten dabei immer mehr aus dem Blickfeld. Diese Entwicklung zeigt sich auch in den Gewaltschutzprogrammen, die sich zunehmend an den Methoden und Denkweisen der Strafjustiz orientieren. Kritiker:innen befürchten, dass diese Programme schrittweise von den Logiken der Strafjustiz vereinnahmt oder von konservativen Politiker:innen instrumentalisiert werden.
Abolitionistische Intervention, Transformative Justice and Community Accountability
In abolitionistischer Tradition nehmen vorwiegend nordamerikanische BIPoC-Theoretiker:innen und -Aktivist:innen staatliche Justizpraxen in den Blick und fragen, ob diese wirklich zu mehr Sicherheit oder doch zu mehr Gewalt führen. Abolitionistische Feminist:innen verorten sich, wie es der Name schon verrät, in einer feministischen und abolitionistischen Tradition. Geleitet von abolitionistischen Analysen erkennen die Theoretiker:innen Gewalt als notwendige Folge eines hetero-patriarchalen und rassistischen Kapitalismus.
Abolitionsfeminist:innen fordert somit nichts Geringeres als die Transformation der bestehenden Verhältnisse. In der Tradition einer gelebten Utopie geflüchteter Sklaven muss eine andere, gewaltfreie Welt ausprobiert und erfahren werden. Die Utopie wird in alltäglichen Praxen gefunden, in den Praxen der Transformative Justice und Community Accountability. Diese Begriffe umfassen eine Vielzahl von Ideen und Praktiken, wie Gewalt außerhalb von Strafjustizsystemen bekämpft werden kann. Entwickelt wurden und werden diese Ideen von marginalisierten Menschen, die sich nicht auf die Polizei verlassen können, insbesondere von BIPoC Feminist:innen aus den USA, deren Gemeinschaften unter tödlicher Polizeigewalt und Masseninhaftierungen leiden. Sie entwickeln gemeinschaftliche Prozesse zur Gewaltbearbeitung, die auf intersektionalen Analysen und einer feministischen Sorge-Ethik basieren. Der soziale Nahraum wird zum Raum für Prävention und Intervention. Gemeinsam wird Gewalt thematisiert, eine Sprache zu Gewaltdynamiken gefunden und schützende Maßnahmen ergriffen. Gewalt wird als gemeinschaftliche Erfahrung betrachtet, bei der nicht nur das Verhalten der gewaltausübenden Person im Fokus steht, sondern auch das gesamte soziale Umfeld. Die Individualisierungslogik wird verworfen und Gewalt als gemeinsame Bürde verstanden. Das gesamte soziale Netzwerk übernimmt Verantwortung – einschließlich jener, die weggesehen haben, überfordert waren oder keine Worte für das Erlebte fanden.
So kann Sicherheit und Gerechtigkeit neu verhandelt werden, der Logik des Strafens wird eine gemeinschaftliche und sorgende Ethik gegenübergestellt.
Diese Prozesse sind natürlich nicht einfach, doch es gibt mittlerweile eine Vielzahl methodischer Ansätze. Diese ermöglichen es, gemeinsam mit den Betroffenen und ihrem Umfeld Ziele zu erarbeiten und die Umgebung nachhaltig gewaltfreier zu gestalten.
Peter Peinhaupt (er/ihm)
Ich bin Sozialarbeiter und Sozialwissenschaftler. Seit Jahren arbeite ich im Feld, früher in der Offenen Kinder- und Jugendarbeit, jetzt im Gewaltschutz. Ich arbeite sowohl mit Gewalt-Ausübenden als auch mit Gewaltbetroffenen als Sozialarbeiter und Psychosozialer Prozessbegleiter. Aktuell forsche ich im Rahmen meiner Dissertation zu abolitions-feministischen Perspektiven für den Gewaltschutz in Wien. Ich freue mich über jegliches Feedback und bin unter peinhaupt.peter@gmail.com erreichbar.
Zum Weiterlesen:
H. L. T. Quan (2024): Become Ungovernable. An Abolition Feminist Ethic for Democratic Living, Pluto Press, London
Angela Y. Davis/ Erica R. Meiners/ Beth E. Richie/ Gina Dent (2022): Abolition. Feminism. Now, Hamish Hamilton, London
Creative Interventions. (2022): Creative Interventions Workbook. Practical Tools to Stop Interpersonal Violence (Workbook edition), AK Press, Chico